Roland Betsch
Der Wilde Freiger
Roland Betsch

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17.

Spät in der Nacht machte sie sich auf den Weg zu Paul Welker. Der kalte Frost schlug ihr entgegen. Aber sie lief wie ein spielseliges Kind und berauschte sich an ihrem Haß und an ihrer Liebe.

Durch die vereisten Tannen mit den müden, herabhängenden Aesten floß ein gelbes Licht. Ein beleuchtetes Fenster mit dem Schatten des Fensterkreuzes.

Vorm Hause blieb sie stehen und zog das gestohlene Barogramm aus der Manteltasche. 10 000 in 22¼ stand in der Kurve eingetragen.

Sie verbarg es und trat an das erleuchtete Fenster. Paul Welker saß am Schreibtisch. Gebückt und mit aufgestütztem Kopf. Lange blieb sie stehen und beobachtete seine Bewegungen.

Er tauchte den Federhalter ein. Nun schien er über etwas nachzudenken. Ganz starr saß er, wie eingeschlafen. Die Lampe zuckte, und ein Schwarm flüchtiger Schatten zerstob. Langsam stieß er die Fingerspitzen auf den Tisch. Sie dachte: Jetzt wird er sich nach mir umdrehen. Da wandte Paul Welker den Kopf und richtete die Augen nach dem Fenster. Er sah sie nicht.

»Nüchtern betrachtet, ist es ein gefährliches Spiel, wenn zwei Leidenschaften aufeinanderplatzen!« sprach er, und in diesem Augenblick öffnete Herta Land die Tür.

Im Stuhl drehte er sich um und schaute sie verschwommen an. »Was sagtest du eben?«

Sie kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Er griff mechanisch danach und wußte nichts zu antworten.

175 Es kam aber, daß sie mit einem Male sein Schicksal vor Augen sah, daß die Tragik seines Lebens wie ein Schatten vor ihr hochstieg und sich an ihre Seite stellte.

Sie schlang beide Arme um ihn und beugte sich zu ihm nieder. »Sie betrügen dich alle, Paul! Alle betrügen dich!«

Er hob erstaunt den Kopf, und ein müdes Flackern kam aus seinen Augen. Er wußte es, daß sie recht hatte, und verstand es doch nicht, konnte sich nicht zurechtfinden in der Wildnis seiner Gedanken.

»Wie meinst du das? Wer? Wer betrügt mich?«

Sie dachte an Sanden, aber sie konnte es ihm jetzt nicht sagen. Sie fürchtete sich vor der Mutlosigkeit, die über ihn kommen würde. Einen kurzen Kampf führte sie mit sich selbst. Und verschwieg es.

Aber sie wollte ihm das Barogramm geben. Sie griff in die Tasche. Da zog er sie zu sich nieder und preßte den Kopf an ihre Brust.

Er richtete sich hoch und sah, daß sie die Augen geschlossen hatte. Lange forschte er in ihren Zügen, und stieß auf den zähen Willen, der um ihre Mundwinkel lag, und den Trotz auf der hohen Stirn. Sie zog die Lider von den Augen wie Vorhänge, und Paul Welker stieg durch die weitgeöffneten Pupillen in ihr Innerstes und schritt hastig durch alle Kammern ihrer Seele, die im Halbdunkel lagen, wie hinter geschlossenen Fenstern.

Er wußte um ihre Not. Was Hans Welker nicht erkannt hatte, das kam ihm klar zum Bewußtsein. Sie war stark, aber haltlos und unvollständig. Er sah auch, daß sie bei Hans Welker Schiffbruch gelitten hatte. Das war etwas, das sie nicht leicht überwand, denn ihr Stolz und ihre Kraft bäumten sich gegen jede Niederlage.

Paul Welker erkannte ihren Wert. Sie war eine gefährliche Waffe, die er gegen seinen Bruder ins Feld stellen konnte. Denn sie haßte ihn.

Sie haßte Hans Welker, weil sie ihn geliebt hatte.

176 Nun lächelte sie, als er das dachte, und er erschrak vor ihren Worten.

»Ich will mich an ihm messen! Entweder er oder ich!«

Langsam richtete sie sich auf und sah ein Barogramm auf dem Schreibtisch liegen. Ueberrascht griff sie nach dem dünnen Streifen.

»Es ist mein letzter Höhenflug mit der Konkurrenzmaschine. Die Kurve ist diesmal außerordentlich gut. Ich glaube, diese Zeit ist in Deutschland noch nie erreicht worden!«

Herta Land schaute verwundert auf den Streifen. War das richtig, was hier stand?

10 000 in 22¼.

Sie zog ihr Barogramm hervor und legte es neben das andere auf den Tisch. Da stand auch: 10 000 in 22¼.

Paul Welker griff gierig nach dem Papier. »Wo hast du das her? Wie kommst du zu dem Barogramm?«

Sie bog den Kopf zurück und sprach bedeutungsvoll: »Ich habe es deinem Bruder gestohlen. Es ist der letzte Höhenflug mit seiner neuen Maschine.«

Paul Welker stieß die Luft durch die Nase. Das Blut wich aus seinem Gesicht, und er wurde grau. Scheinbar ruhig beugte er sich über den Barographenstreifen und rechnete die Steigzeiten nach. Dann erhob er sich, wie geistesabwesend, ging schlurfend durchs Zimmer mit vorgedrückten Knien und ließ die erschlafften Arme hängen.

»Er hat genau . . . die . . . gleiche Zeit – – wie – – ich!!«

Herta nickte und sah das erfüllt, was sie geahnt hatte. Paul Welker legte die Barogramme auseinander und hielt sie gegen das Licht.

Da war es einwandfrei zu erkennen. Es war kein Zweifel mehr möglich.

»Seine Maschine steigt besser!«

Dumpf sprach er es vor sich hin und wies auf die beiden Kurven, die er zur Deckung gebracht hatte.

177 Im durchfallenden Licht ließ sich das genau feststellen.

»Das ist das Seltsamste, was mir begegnet ist. Unsere Kurven treffen sich genau in 10 000 Metern. Aber hier, sieh! Seine Kurve ist im Anfang steiler. Er ist mir überlegen. In 6800 wird sie flach. Siehst du das hier? Hier wird sie flach! Warum? Weil oben der Motor nachläßt. Meine Kurve steigt gleichmäßig an. Er ist mir voraus, in 10 000 Meter treffen wir uns und die Kurven schneiden sich. Bei 10 100 habe ich ihn schon geschlagen.«

Er warf die Barogramme auf den Tisch und ließ sich in den Sessel fallen. »Wenn er also einen Motor mit meiner Verbesserung in seiner Maschine hat, ist er mir fraglos überlegen. Weißt du, was das heißt?«

Herta Land wußte es. Sie wußte auch, daß sein eigener Meister ihm diese Verbesserung schon gestohlen und die Zeichnungen zu seinem Bruder gebracht hatte. Sie hatte die Zeichnung wohl zerrissen, aber Hans Welker würde sie wiederbekommen. Er bekam alles, was er wollte.

Alles!

Er ließ den Himmel einstürzen, wenn es für seine Pläne erforderlich war.

Sie setzte sich auf das breite, alte Ledersofa. »Ich will dir einen Rat geben, Paul! Du mußt von deinem Bruder lernen! Es ist nicht immer die Arbeit, die den Erfolg bringt.«

Er aber fing an, seine stolze Hoffnung zu begraben. »Ich komme nicht ans Licht. Er nimmt mir alles fort. Er ist dafür geschaffen, mir die Sonne zu stehlen. Diese Maschine ist der letzte Trumpf, den ich ausspielen kann. Wenn ich verspiele, bin ich endgültig ruiniert.«

Für Herta Land war es an der Zeit, zu reden. »Komm, hier setze dich zu mir, ich will dir etwas sagen.«

Teilnahmlos und abgespannt war er.

»Du mußt die Augen offen halten! Man betrügt dich, deine eigenen Leute betrügen dich! Versprich mir das: Morgen früh wirfst du zuerst diesen Sanden hinaus! Hörst du mich?«

178 Sie hielt einen Augenblick inne. »Er ist ein Judas!«

»Sanden?«

»Er brachte heute morgen deinem Bruder die Zeichnung deiner Verbesserung am . . .«

Paul Welker wollte aufspringen. Sie hielt ihn gewaltsam zurück.

»Er hat es schon? Ist es schon so weit?« Mit der Hand griff er sich an den Kopf und stöhnte. Er sank förmlich in sich zusammen. »Es ist alles vergebens, was ich unternehme!«

Da kam wieder diese unheimliche, gefräßige Ruhe über ihn. Wie ein Träumender stand er auf und ging zum Fenster. Und durch alle mühsam unterdrückten Regungen zwängte sich gewalttätig der Haß, wie ein Hochwasser, das durch die Dämme bricht und alles zerstört.

Er wühlte sich durch ein Chaos von Gedanken, schwül, hungrig und unbefriedigt. Tausende sind schon abgestürzt, und es waren nicht die Schlechtesten. Aber . . . er . . . er!!

Ich will ihm beistehen, dachte Herta Land. Alles will ich für ihn tun. Sie führte die ersten vergifteten Waffen ins Gefecht, schmeichlerisch und voll logischer Ueberzeugungsgabe. Sie impfte ihm die neue Methode ein, mit diplomatischer Schlauheit und verblüffender Folgerichtigkeit. Langsam und werbend fing sie an, sein Gewissen zu töten, und spornte seine Eifersucht.

Ein Gedanke wurde von ihr aus all den zertrümmerten Regungen der Vernunft herausgeschält:

Hans Welker muß niedergerungen werden!

Das war nicht leicht. Paul Welker sträubte sich gegen das Gift. Er wollte rein bleiben und makellos. Er wollte der Alte bleiben, der Schöpfer aus eigener Kraft und eigenem Willen. Aber er fühlte es selbst, er war schon zu schwach dazu, zu mürbe und gedemütigt. Sein Beruf und sein Schaffen waren sauber und blank, aber es schien fast so, daß der Erfolg nur im Betruge lebensfähig und im Schmutz zu Hause ist.

179 So geschah es.

Paul Welker hörte auf die fremde Stimme, und sie wurde ihm mehr und mehr ein werbender Gesang, den er in sich hineinsaugte wie eine Pflanze die ersten Sonnenstrahlen. Herta Land zerrte ihn durch die Pforte des Unrechts. Und er trat geblendet und hilflos in die winkelzügige Zukunft mit einer Heerschar gleißnerischer Prophezeiungen.

Herta Land schürte das Feuer. Die Flammen der Leidenschaft schlugen flackernd zusammen, und Paul Welker verbrannte in der Glut.

Er nahm alles, was sie ihm gab, in wilder, hungriger Gier, als wäre es eine letzte Entschädigung, die ihm das Schicksal bot für sein verpfuschtes Leben . . .

Im Segelschlitten brachte er sie nach der Stadt.

Der Morgen graute. In Decken gehüllt, ruhte sie in seinem Arm.

Und während er hart am Winde lag, sprach sie ihm von Hans Welkers neuer Maschine, die er »Wilder Freiger« nannte.

Dieses war ihr Plan, den er in sich aufnahm wie ein Evangelium:

Paul Welker sollte die gleiche Maschine bauen, die sein Bruder ins Haupttreffen führte. Mit allen Mitteln mußte versucht werden, die Verbesserung am Motor geheimzuhalten. Dann erschienen am Start zwei Maschinen gleichen Typs. Paul Welker mußte siegen, da die Ueberlegenheit seines Motors selbst durch das geschicktere Fliegen Hans Welkers nicht wettgemacht werden konnte. Herta Land aber mußte die Zeichnungen stehlen.

Paul Welker führte einen letzten Kampf. Der Rest seines verzweifelnden Gewissens wollte ihn zurückhalten. Aber alles wurde erstickt und begraben unter dem stampfenden Triumphzug, der durch die weitgeöffneten Pforten seines Inneren brandete. Alle Lichter brannten 180 in seiner Seele, und schon qualmte der mächtige Fackelzug seines Erfolgs.

In der schneidenden Kälte des hereinbrechenden Morgens feierte er eine ruhmbekränzte Auferstehung.

Und sein Bruder lag am Boden.

Endlich! Endlich also!

Aber ein Gedanke zwängte sich fratzenhaft durch den Strudel der Begeisterung:

Herta Land mußte die Zeichnungen stehlen!

Was war das für ein bitterer Beigeschmack? – –

Um zehn Uhr ging Paul Welker in seine Halle. Mitten aus der Schar der Arbeiter holte er Sanden heraus. Mit stahlharter Faust packte er ihn an der Kehle.

»Seht euch diesen an!« schrie er den Arbeitern zu, »betrachtet euch diesen genau! Dieser Kerl frißt mein Brot und stiehlt mir wie ein Pirat mein mühsam erworbenes Eigentum!«

Er würgte ihn in maßloser Wut. Sanden war blau im Gesicht. Die feige Angst kroch aus den hervorgequollenen Augen.

Die Arbeiter liefen durcheinander. Einige kamen herbei. »Wat hett hei makt?« »Hei heit stahlen!«

Paul Welker hatte ihn in die Ecke einer Hobelbank gedrückt.

»Was er gemacht hat? Meine Zeichnungen, meine Pläne und meine Geheimnisse hat er mir geraubt und sie meinem Bruder gegeben. Verkauft hat er mich!«

Wie eine Katze schüttelte er ihn und schleifte ihn durch die Werkstatt.

Die Arbeiter pfiffen und johlten.

»Hei is'n Lump!«

»Slagt em dot, den Swinegel!«

»Hei hett uns ok all ümmer mit'n Lohn beschummelt.«

Sie kamen mit Prügeln und Stahlrohren bewaffnet.

»Laßt ihn!« rief Paul Welker, »ich will schon allein mit ihm fertig werden.«

»In't Water mit dat Luder!«

181 Sanden war das Entsetzen in alle Glieder gefahren. Schlapp wand er sich unter den Griffen Paul Welkers. Der Schweiß stand auf den fetten Backen, und die Augäpfel wurden glasig und glotzten blöde.

Schreiend und pfeifend gingen die Arbeiter hinterher, als Paul Welker ihn durch die Tür ins Freie stieß. Einer rannte ihm ein Stahlrohr in die Seite.

»Hei hett uns all ümmer mit de Lohntüten bedragen!«

»Un bi min Fru wull dat Aas dat versöken!«

Sanden stöhnte und schnappte nach Luft. Flockiger Schaum trat vor den Mund. Mit den Armen schlug er um sich wie ein Ertrinkender.

Paul Welker faßte ihn mit zorngepeitschter Kraft, hob ihn hoch und schleuderte ihn wie ein ekles Vieh in die verschneiten Hecken.

Krachend schlug er durch die Aeste.

Paul Welker aber ging über den Steg auf das Eis.

Taumelnd, wie ein Kranker, mit eingedrückten Knien und müde hängendem Kopf lief er der Sonne entgegen. 182

 


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