Roland Betsch
Der Wilde Freiger
Roland Betsch

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12.

Herta Land stand vor dem eisernen Tor von Hans Welkers Villa. Die Gaslaternen blitzten durch den dunstigen Nebel des Dezemberabends, und der Wind schüttelte seinen Kristallschnee von den kahlen Kastanien.

Unschlüssig stand sie und blickte auf das kleine Messingschild am Tor. Oben brannte ein weißes Licht, hell und aufdringlich.

Sie läutete. Nach kurzer Zeit kam ein Diener über die Treppe geschlürft und öffnete das kreischende Tor. »Herr Direktor ist oben!«

Langsam und gleichgültig ging Herta Land über die Freitreppe, stieß die schwere Eisentür auf und stieg ins erste Stockwerk. Der Diener kam hinterher und zeigte stumm auf eine Tür. Herta klopfte und trat ein.

Hans Welker saß am Schreibtisch und schraubte an einem Photographenapparat, den er auseinandergenommen hatte.

Sie setzte sich in einen der großen Ledersessel und öffnete den schweren Pelzmantel. Nach geraumer Weile sprach sie: »Guten Abend!«

Er machte eine halbe Drehung mit dem Kopf und nahm ein kleines Messingschräubchen in den Mund. »Servus! Was wollen Sie?«

»Ich ahnte, daß Sie die Langeweile plagt, und wie ich sehe, habe ich mich nicht getäuscht. Sie scheinen da wieder eine sehr geistreiche Beschäftigung zu haben! Ich habe Ihnen ein paar Briefe zur Unterschrift gebracht.« Sie warf eine braune Aktentasche auf den Tisch.

128 Er setzte einen kleinen Schraubenzieher ein und zeigte ihr die Zähne. »Wegen der Briefe sind Sie nicht gekommen! Das können Sie andern erzählen! Sie wollen . . . ich habe heute keine Zeit!« Unwillig schüttelte er den Kopf.

Mit den Fingern strich sie tastend über das weiche Lederpolster. »Frechheit! Sie wollen mich wohl hinauswerfen? Denken Sie, ich bin einer Ihrer Arbeiter?«

Sie erhob sich und kam auf ihn zu. »Ich nehme Ihnen ja Ihre halbwüchsigen Redensarten nicht übel. Wer könnte Ihnen etwas übelnehmen! Sie sind unerzogen wie ein Gassenjunge! Die Hauptschuld daran tragen nicht Sie, sondern Ihre läppische Umgebung, die Sie wie einen Gott verherrlicht. Warum?«

Sie beugte sich lauernd über den Schreibtisch bis kurz vor sein Gesicht. Weidete sich an den wulstigen Falten auf seiner Stirn und an dem unschönen Oberkiefer.

»Warum?! He! Wissen Sie, warum Ihre Umgebung sie verherrlicht? Weil sie Ihr Brot ißt!«.

Er lachte verächtlich und hämmerte mit dem Brieföffner ein Stückchen Blech gerade.

»Sie aber stehen in meiner Schuld! Habe ich recht oder nicht? Haben Sie nicht von mir Besitz nehmen wollen? Haben Sie mich nicht schon zweimal gehalten, als ich gehen wollte? Oder sind unsere Beziehungen vielleicht nur geschäftlicher Natur? Ich meinte, sie wären auch etwas anderes.«

»Gott, eine schwache Stunde hat jeder Mensch, warum nicht auch ich! Wer mir da in die Quere kommt, bei dem versuche ich's eben. Wenn's mißlingt, na . . . ob Sie wirklich so . . .«

Sie hob abwehrend die Hand. »Sparen Sie diese Unverschämtheiten! Ich bin keine Dirne, das wissen Sie. Wer Ihnen in die Quere kommt? Wollen Sie mir das vielleicht auch bezahlen?«

Er antwortete nicht. Sie beobachtete ihn, wie er mit den einzelnen Konstruktionsteilchen herumhantierte. Eine grimmige Gier flackerte aus ihren Augen.

129 Mit einer hastigen Handbewegung strich sie alles vom Schreibtisch auf den Teppich. »Fort mit dem albernen Krempel, wenn ich mit Ihnen rede! Ich bin gewohnt, daß man mir Beachtung schenkt.«

Er sprang vom Sessel auf. Ratlos, unschlüssig stand er da. »Was erlauben Sie sich? Sie machen mir den wertvollen Apparat zuschanden!«

»Zuschanden! Jawohl zuschanden! Hier sehen Sie! So! Sooo!!«

Mit den Füßen trat sie darauf herum.

»Ihre ganze Oede und Hohlheit grinst aus diesen Nägeln und Schräubchen. Aus diesem Plunder, an dem Sie stundenlang herumtrödeln.«

Mit beiden Händen packte er sie, daß sie aufstöhnte. Er sah, wie sie die Augen schloß und willenlos in seinem Arm hing.

»Sie sind eine Katze! Was zwingen Sie mich, Sie zu packen?«

Er sah auf ihr Gesicht mit den zusammengepreßten Lippen. Behutsam öffnete sie die Augen. Sie waren klar und glänzten aus weitgeöffneten Pupillen.

Ob sie mich jetzt betrügt? dachte er für sich und versank in dem stahlblauen Glanz ihres reichen Haares.

»Ich betrüge Sie nicht!« antwortete sie auf seine Gedanken.

Sie verfolgte es nüchtern, wie er sie an sich riß. Das gab ihr einen stillen Triumph, der in ihr hochstieg wie ein brausendes Wetter.

»Versprechen Sie, daß Sie mich fliegen lehren! Versprechen Sie!«

Er hob sie empor und trug sie durchs Zimmer.

Warum küßt er mich nicht? Jetzt, jetzt will er mich küssen. Sie bog den Kopf zurück. Er wollte sie zwingen. Mit Gewalt.

»Versprechen Sie!«

»Meinetwegen!« stieß er hervor.

Geschmeidig wurde sie unter seinen Händen.

130 »Warten Sie, lassen Sie mich nur erst meinen Mantel . . .«

Er ließ sie los, da sprang sie zur Tür und löschte die weiße Deckenbeleuchtung. Tastend ging sie zum Tisch und knipste eine kunstvolle Lampe mit gelbem Seidenschirm an.

»Ich hasse das weiße Licht! Nun wird es erst warm im Zimmer.«

Hochaufgerichtet stand sie da. Erwartungsvoll. »Bitte!« sprach sie spitz und hob beide Arme.

Er stand unbeweglich. Hatte sie ihn jetzt doch betrogen? Wollte sie nur das Versprechen?

»Na, bitte!« wiederholte sie. »Finden Sie das gelbe Licht nicht schön? Sie finden überhaupt nichts schön. Nun sind Sie wieder steif und hölzern. Wie ein Kind stehen Sie da, dem man das Spielzeug entrissen hat.«

In hastiger Erregung sprang er auf sie zu. Er schob die Zunge vor die Lippen und griff mit den Händen nach ihr. »Glauben Sie, wenn ich wollte, hätte ich nicht die Kraft . . .«

Sie langte nach der braunen Aktenmappe. »Die Unterschriften. Vergessen wir die Unterschriften nicht!«

Sie trat hinter den Tisch, kalt, abweisend. Ihr Gesicht war unbeweglich, als stände sie vor dem Objektiv eines Photographen. Die rechte Hand lag auf der Tischdecke.

»Sie werden morgen mit mir fliegen! Ich brauche diesen Sport! Sie werden mich lehren, sagen Sie es noch einmal! Ganz nüchtern will ich's hören, bitte!«

Er warf sich in den Klubsessel und fuhr mit beiden Händen über die glattgescheitelten Haare. »Sie wollten mir doch die Briefe geben!«

Sie schrak zurück. War er schon am Ende? »Wollen Sie mich fliegen lehren?«

»Ich denke im Traum nicht daran!«

»Sie haben mir's versprochen!«

»Ich habe das schon längst wieder bereut. Wenn ich das alles halten wollte, was ich verspreche! Ich 131 verspreche Himmel und Seligkeit, wenn ich mir dadurch einen Vorteil sichern kann.«

Das sprach er mit Absicht, weil er wußte, daß sie damit verwundet würde. Es gehörte eine ungeschwächte Kraft dazu, um nicht mit ihr zu verspielen. Sie war gefährlich und scheute kein Mittel, und dazu war es fast unmöglich, ihre Gedanken zu erraten, weil sie äußerlich von einer steinernen Ruhe war.

Hans Welker grübelte in sich hinein. Er überlegte, wie er sie am besten fassen konnte. Ein sehnendes Verlangen nach ihr wurde in ihm wach, ein schwüler Drang, sie zu besitzen und zu demütigen. Nun, da sie vor ihm stand, mit kalter Berechnung und innerem Hader, nun übte sie eine quälende Kraft auf ihn aus, der er nur mit starkem Willen widerstehen konnte. Alle Möglichkeiten ihrer Niederlage malte er sich aus, mit wohligem Eifer und höhnischer Befriedigung. Mit Gewalt zerrte er sie in den Unrat seiner Gedanken. Auslachen wollte er sie dann! Auslachen und vor die Türe setzen.

Er spann sich ein in die Wirrnis seiner verächtlichen Begierden. Den Kopf in die Hand gestützt, schaute er nach ihr hin. Sie wühlte in der Mappe und zog einen Stapel Papiere hervor. Jeden Brief nahm sie zur Hand, las ihn gedankenlos durch und legte ihn auf den Tisch.

Was saß er so still? Warum redete er keinen Ton? Ganz in seiner unnahbaren Dünkelhaftigkeit saß er dort. Mit eingezogenem Kopf. Wie ein Affe! Pfui, wie ein Affe!

Sie ergriff die Briefe und schleuderte sie vor seine Füße. »Da haben Sie die Fetzen! Ich gehe!«

Sie griff nach dem Mantel.

Er blieb ruhig sitzen. Nun schien sie ihm gleichgültig. Fast war es ihm angenehm, daß sie ging. Da hatte er doch seine Ruhe. Wie konnte er überhaupt dieses Theater spielen.

»Ich bin doch kein Komödiant!« sprach er laut vor sich hin.

132 »Sie sind kein Komödiant? Sie?« Mit theatralischer Stimme kniete sie sich auf dieses: »Sie?«

»Sie sind kein Komödiant? Sie sind der größte Possenreißer, der mir begegnet ist. Wenn Sie mehr Geist hätten, wären Sie gefährlich, waghalsig wären Sie!«

Nun bleibe ich gerade, überlegte sie. Nun, da er mich draußen haben will, bleibe ich hier.

»Alles kommt mir lächerlich vor und trivial. Wir streiten uns über die unnötigsten Fragen. Komm, laß' uns vernünftig sein. Warum sollen wir uns ewig in den Haaren liegen?«

Sie legte sich über den Schreibtisch und stützte das Kinn in beide Hände. »Erzählen Sie mir was! Sprechen Sie mir von Ihren Maschinen, von Ihren Motoren und Barogrammen! Wie stehen Ihre Papiere? Ich höre Sie so gerne plaudern.«

Hans Welker sah in das fahlgelbe Licht.

Ist sie verrückt geworden?

Er dachte an Scanzoni, der oben seinen Bruder Paul getroffen hatte. Eine eigenartige Begegnung. Die Barogramme mußte er unter allen Umständen haben. Robert Sanden fiel ihm ein, er sah sein fettglänzendes Gesicht. Es war Zeit, daß der Kerl sich wieder blicken ließ.

»Sie wissen nichts zu erzählen? Mir fällt etwas ein. Ich will Ihnen die Langeweile vertreiben. Hören Sie nur zu, das muß Sie interessieren, denn Sie lieben den Nervenkitzel. Hören Sie zu und sagen Sie mir, ob ich waghalsig bin. Sagen Sie, ob das Fliegen mir größere Gefahren bringen kann, Hans Welker, oder ob es verblaßt gegenüber den Schrecknissen, die ich durchkostet habe! Vom Wilden Freiger, von dieser wahnwitzigen Tour auf dem Wilden Freiger will ich Ihnen erzählen. Ich habe es Ihnen damals schon angedeutet. Aber . . . hören Sie zu, Hans Welker!«

Die Gestalt des Barons Felting tauchte vor ihr auf, und sie wußte, daß sie es war, die ihn dem Tod in die Arme geführt hatte. War nun ein anderer an der 133 Reihe? Sie warf sich auf das Ledersofa und schaute nach der Decke. Und rief sich jenen Tag des Schreckens ins Gedächtnis zurück, und die Bilder kamen zu ihr wie graue Schleier.

Mit veränderter Stimme fing sie an zu erzählen. Wie Gesang kamen die Worte von ihren Lippen und geschmeidig, wie ein fließendes Wasser. Alles wurde so lebhaft in ihr, während sie erzählte. – – – – – –

Herta Land richtete sich auf. Ein namenloses Staunen in den Augen, kam sie auf Hans Welker zu.

Er schlief. Wahrhaftig, er schlief! Mit verschrumpftem Gesicht, den Kopf auf der Brust, lag er im Sessel und stieß die Luft durch die Nase.

Herta Land fühlte ihre Ohnmacht diesem Menschen gegenüber. Noch nie war ihr diese Ohnmacht so stark, so zwingend zum Bewußtsein gekommen wie jetzt, da sie ihn hier liegen sah, im trägen Schlaf.

Leise zog sie den schweren Mantel an, nahm die dunkle Pelzmütze und schlich sich aus dem Zimmer.

Der Diener öffnete das knarrende Tor.

Vom Turme schlug es Elf.

Mit elastischen Schritten ging sie über das glitzernde Schneepolster der Straßen zum großen See. Weit und eintönig lag die riesige Eisdecke vor ihr. Der Nebel war zerstoben, und eine flimmernde Sternennacht stand kalt und fröstelnd am Himmel. Halb schlafend tauchte der Mond über das jenseitige Ufer. Rot und mit schwachem Leuchten. Alles schlief, nur ein rauflustiger Nordwind kam pfeifend über den Wald und riß den feingliedrigen Schnee zu wirbelndem Tanz.

Herta Land ging über das Eis und sprach mit ihrer suchenden Seele. Weiter traten die Ufer zurück. Schwach blitzten die Lichter der Stadt zu ihr herüber. Welch eine friedvolle Einsamkeit war hier, welch wärmende und köstliche Ruhe des Alleinseins.

Da kamen die Freunde über das diamantglitzernde Eis, die Gespielen und Weggenossen versunkener Jahre. 134 Kamen zu ihr in die Einsamkeit der Nacht, mit offenen Armen und lächelnd wie die christbeschenkten Kinder.

Ach, daß ihr mich nicht vergessen habt. Ach, daß ihr mich wiederfindet und euch um mich drängt, die ihr wie ich um Liebe und Sehnsucht bettelt. Seid ihr denn Menschen, daß ihr so hilfreich zu mir kommt und mit singendem Mund und schenkenden Armen? . . .

Ihr fühlt nicht die Kälte, die alles Leben erstarrt, denn sonnenschwer und voll tauender Wärme ist das Lied eures Lebens.

Wie, nun wollt ihr mich verlassen? So wenig Zeit nur habt ihr für meine einsamste, meine freudvollste Stunde!

O! über euch, ihr Weggenossen meiner weinenden Kindheit! . . .

Herta Land hob den Kopf und suchte das Ufer. Es war verschwunden. Kein Lichtstrahl drang zu ihr. Kein Stern flimmerte vom Himmel.

Graue Oede mit einem matten, rötlichen Schein. Lautlos war der Nebel über den See gekommen. Schleichend, wie ein Strauchdieb.

Unschlüssig blieb sie stehen. Wo war sie hergekommen? Wohin wollte sie gehen? Sie wußte es nicht.

Stundenweit lag der See. Wo war das Ufer? Sie suchte nach ihrer Spur, aber sie verlor sie bald auf dem rissigen Eis.

Ratlos blieb sie stehen. Die Kälte schnitt ihr in die Haut. Sollte sie hier warten, bis der Nebel sich verzog? Oder geradeswegs in einer Richtung laufen, bis sie auf irgendein Ufer stieß? Dann kam sie vielleicht in den Wald, vielleicht auf die schmale Insel, die mitten im See lag. Aber die Nacht war lang.

»Ich habe Hunderte von Hochtouren gemacht,« sprach sie lächelnd vor sich hin. »Bei Nacht und Eis, und habe mich nie verirrt; und nun stehe ich da im Nebel, der mich wie ein Feigling von hinten überfiel, und habe jeglichen Sinn für Richtung verloren.«

135 Der frostige Wind drang durch die Kleider, und der Schnee stäubte ihr in das brennende Gesicht.

Dumpf rollte das vor Kälte berstende Eis.

Sie nahm sich eine Richtung vor und stampfte eiligen Schrittes durch den Nebel. Da fiel ihr der Wind ein. Am Ufer hatte sie den Wind von vorn gehabt. Wieder blieb sie stehen und überlegte. Nun kam er von der Seite, aber er konnte sich ja längst gedreht haben. »Wenn er sich nicht gedreht hat, müßte ich meine Richtung ändern.«

Die Pelzmütze über den Kopf gezogen und mit hochgestülptem Kragen lief sie weiter, den Wind im Rücken.

In einer dumpfen Apathie sah sie vor sich hin. Das nagende Gefühl einer inneren Zwecklosigkeit kam über sie und war ihr ein streitsüchtiger Begleiter auf ihrem trottenden Marsch durch die schneidende Kälte.

Da kam die Begegnung. Sie wuchs aus der Nacht wie eine selbstverständliche Lösung.

Ein knisterndes Geräusch traf ihr Ohr.

In einem bestimmten Zwang schnellten ihre Gedanken auf Hans Welkers Bruder. Drei Wochen war sie hier und hatte ihn noch nicht gesehen. Er verkroch sich wie eine Ratte.

Das Knistern wurde stärker. Sie blieb stehen und lauschte.

Ein riesiger Schatten tauchte aus dem Nebel. In jagender Fahrt kam er auf sie zu. Hart am Winde lief ein Segelschlitten. Sie sah eine Gestalt in dem schmalen Boot und rief mit schriller Stimme.

Hinterher dachte sie: Das ist Paul Welker. Ganz bestimmt, das ist Paul Welker.

Er hatte sie gesehen. In scharfer Kurve ging er knirschend über Stag und drehte rauschend in den Wind.

In dicke Pelze gehüllt, eine gefütterte Fliegerkappe über den Kopf gezogen, kam Paul Welker auf sie zu. Die Arme hingen schlaff nach unten, und ein fragendes Erstaunen sprang aus seinen tiefbeschatteten Augen.

136 »Welch ein seltsames Zusammentreffen! Ich glaubte zu träumen, dachte an eine Erscheinung. Eine Nebelgestalt.«

Herta Land forschte in seinem feingeschnittenen Gesicht und suchte nach einer Aehnlichkeit mit seinem Bruder. Aber da war nichts, kein Zug erinnerte daran, keine Bewegung, kein Tonfall in seiner Stimme.

»Ich habe mich verirrt auf dem See. Der Nebel hat mich überrascht.«

»Aber wie kommen Sie dazu, hier in Nacht und Kälte herumzuirren?«

»Ein wenig Laune, ein wenig Leidenschaft.«

»Aber mehr Laune, wie mir scheint. Sie hätten ohne mich wohl schwerlich aus diesem Chaos herausgefunden. Ich kenne den See genau, aber bei solcher Unsichtigkeit finde ich mich auch nur mit dem Kompaß zurecht. Kommen Sie, ich sehe, wie Sie frieren!«

»Nun lerne ich auf abenteuerliche Weise Paul Welker kennen.«

»Woher wissen Sie . . .«

»Sie können nur Paul Welker sein!«

Er ging mit ihr zum Schlitten. Willenlos ließ sie alles mit sich geschehen. Sorgsam setzte er sie zurecht, schlug eine schwere Decke um sie und setzte sich eng an ihre Seite. Ein Gefühl wohligen Geborgenseins kam über sie. Flutende Wärme durchdrang ihren Körper, und eine stille Erfüllung verworrener Träume schmeichelte sich durch ihre Gedanken. Zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen, lag sie weichgebettet und dämmerte hinüber in eine Flut namenloser Seligkeit.

Nur jetzt nichts denken! Nichts denken! Nur empfinden! O, diese Ueberfülle berauschender Empfindungen.

Er beugte sich über sie, grübelnd, als wollte er lesen, was da geschrieben stand auf der steilen Stirn und um den festen Mund mit den leichtgeworfenen Lippen. Sie merkte durch ihr Inneres, wie er sie erforschte, wie er schwankte, zweifelte und vermutete.

137 Behutfam öffnete sie die Augen, da braßte er das Segel an und schoß spitz am Winde über das spröde Eis.

Wohin wollte er? Ins Endlose, Ewige, in ein gedankenloses Nichts? Was fragte sie nach Ziel und Ende!

»Der Wind wird stärker,« hörte sie ihn sagen. »Da wird der Nebel bald weichen. Wohin soll ich Sie bringen?«

Wohin sollte er sie bringen! Sie wußte es doch selbst nicht. Wohin? Sollte diese Seligkeit schon ein Ende nehmen! War es nicht wie eine halsbrecherische Jagd nach dem Glück, wie sie hier in stürmender Fahrt über das Eis brausten?

»Warum schon nach Hause?« antwortete sie mit bedauernder Stimme. »Es ist so namenlos schön hier. Ich glaube, Sie schleppen dauernd ein Stück Romantik mit sich herum.«

Angestrengt schaute er voraus. Mit sicher abschätzenden Blicken steuerte er scharfen Kurs. Nahe fühlte er die belebende Wärme ihres Körpers.

Aufpassen, Paul Welker! Er verjagte etwas in seinem Innern. Sollten sie hier den Hals brechen, wenn er mit seinen Gedanken spazierenging?

Einen kurzen Augenblick wandte er den Kopf nach ihr. Da sah er in zwei Augen mit weiten, leuchtenden Pupillen.

Aufpassen, Paul Welker!

»Aber es ist spät in der Nacht.« Mit eintöniger Stimme sprach er es in den Nebel und fiel in geschmeidigem Bogen nach Steuerbord ab.

Gierig stieß der Wind ins Großsegel, und mit wachsender Geschwindigkeit liefen sie nach Osten. Feiner Kristallschnee sprühte von den Kufen, und das Eis tönte unter dem Druck des Schlittens. Der Nebel schien sich zu lichten. In zerrissenen Fetzen flatterte er vorüber.

Herta Land sah in das unbewegliche Gesicht Paul Welkers, hing an den straff in Kurs stehenden Augen und dachte durch den Sturmwind ihrer Gefühle: Er ist, wie ich ihn mir gedacht habe. Ganz, wie er sein mußte. 138 Er ist voll Wärme und Leidenschaft. O, Hans Welker, was hast du Teufel für einen göttlichen Bruder!

Kamen nicht die Sterne durch das fliehende Grau? Oder ist es der Glanz seiner Augen, ist es die Leuchte seines Herzens?

Ohne daß sie es wußte, legte sie den Kopf an seine Brust. »Warum ist das alles so qualvoll schön!«

Ganz mit Bewußtsein, ganz, als ob es etwas Letztes wäre, an das sie sich klammern konnte, ganz mit Glück und Furcht und Zittern trank sie seine Küsse.

Es waren Sekunden vollster Klarheit, Augenblicke der größten Selbstbestimmung.

Unter dem Rauschen des Segels schloß er sie in seine Arme.

Im Triumph!

Im Triumph nahm er sie! 139

 


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