Alice Berend
Frau Hempels Tochter
Alice Berend

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Als die Großstädter am andern Morgen erwachten, war der Regen vorüber, und die Sonne blendete auf die Dächer.

Auch angenehmer Besuch erregt Verwirrung, wenn er unerwartet kommt.

Alle Pläne wurden umgestürzt. Nun wollte jeder hinaus aus der Stadt. Die Fernsprecher rasselten, als ob alle Straßen in Brand stünden.

85 Auch in der Wohnung von Herrn und Frau Leutnant läuteten alle Klingeln. Das veränderte Wetter machte die aufgehobene Einladung nach einer Landvilla wieder gültig. Frau Bankdirektor schrie durchs Telephon, daß sie wieder kerngesund sei und das Pariser Kleid vortrefflich passe. Man benachrichtigte andere Bekannte, Automobile fuhren vor, die Hupen heulten, die Herrschaften eilten hinunter, stiegen ein, der Bursche kletterte auf den Bock, und plötzlich war die Wohnung leer, und nur die Sonnenstäubchen tanzten in den schrägen Sonnenstreifen, die den Raum durchquerten. Ida zog sich geschwind das Sommerkleid mit der neuen Schleife an und verschwand auch.

»Grüßen Sie Ihre Mutter,« sagte sie, als sie davoneilte, und ehe sich's Laura versah, war sie allein mit Sonne und Festtag.

In der Eile des Aufbruchs hatte man vergessen, ihr Anweisungen zu geben. Man hatte ihr weder verboten, auszugehen, noch befohlen dazubleiben. Die Sonne war da, und der Tag war schön. Hatte der Graf gestern gescherzt? Laura sah sich in den Spiegel und zog die Mullbluse aus Indien an.

Dann ging sie in die Vorderzimmer, um die Fenstervorhänge niederzulassen.

Was man sieht, muß man glauben. Drüben auf der andern Seite der Straße stand der Graf und rauchte eine Zigarette.

Nicht gleich, aber schließlich ging Laura hinunter. Es 86 war peinlich, aus dem Haus zu kommen, während Graf Egon dort drüben stand. Aber ebenso beunruhigend war die Möglichkeit, daß er plötzlich verschwunden sein könnte. –

Als sie dann auf die Straße kam, war alles ganz selbstverständlich so, wie es war.

Graf Egon kam auf sie zu und fragte sie lächelnd, ob sie Musik hören und Karussell fahren wolle oder still an einem kleinen See sitzen möge, wo man nichts anderes hörte als das Quaken der Frösche. Laura wollte an den kleinen See und erzählte, daß sie auch einmal einen Laubfrosch besessen hätte. So plaudernd verschwanden sie um die Ecke. – – –

Aber auch bei Geheimrats hatte die Nacht des Wetters einen Umsturz der Festordnung gebracht.

Herr Rechnungsrat, der in diesen zwiefach warmen Tagen ganz vergessen hatte, daß ihn manchmal die Gicht plagte, machte den verwegenen Vorschlag, die Waldmeisterbowle auf Flaschen zu füllen und irgendwo unter schattigen Bäumen zu trinken. Braten und Torten sollten gleichfalls mitgenommen werden.

Ein später Bräutigam regiert das Haus. Die Mutter und Frau Hempel beeilten sich, die Braten und Gemüse in Körbe zu bringen, die Flaschen in Stroh zu wickeln, die Torten in Seidenpapier zu hüllen. Endlich war alles miteinander im Wagen und mit Peitschenknall davongefahren.

Als Frau Hempel in ihre grauschwarze Wohnung 87 kam, um sich zu waschen, dachte sie, daß sie einen Spaziergang machen und ihr Mädchen besuchen könnte.

»Vielleicht kannst du sie mitbringen,« sagte Hempel, der auch gern etwas vom Feiertag haben wollte.

Er nahm wie immer drei Stühle hinaus und setzte sich wartend vor die Tür. Bald darauf stieg Frau Hempel aus dem Keller hervor, im schwarzseidenen Umhang und mit Pompadour und Handschuhen. Sie verabschiedete sich und verschwand im Gewühl. Als sie die Marmorsäulen des schönen Hauses erreicht hatte, sagte ihr die Portierfrau, die dort im Gespräch stand, daß Fräulein Laura fortgegangen sei mit einem Herrn, der sie lange erwartet hätte.

Frau Hempel dankte und kehrte um. Endlich hatte sie die Ecke gewonnen und konnte stehenbleiben und sich an eins der fein geschnörkelten Eisengitter lehnen. Ihre Knie zitterten und wollten den schweren arbeitskräftigen Körper nicht tragen. Nach einer Weile des Ausruhens ging sie wieder zurück, denn es war klar, daß die Frau sich geirrt hatte.

Der Eingang war diesmal frei. Die Frau fort, und rasch wie ein Dieb gewann Frau Hempel die Tür, den Flur und die Treppe und eilte neben dem hohlen Fahrstuhlschacht die Stufenwindungen hinauf. Die Klingel oben hallte nach wie ein spottendes Echo. Niemand öffnete.

Endlich begriff Frau Hempel, daß sie gehen müßte, und ungesehen kam sie wieder aus dem Hause.

88 Sie rannte durch Staub und Menschenmenge den Weg zurück. Dieser und jener drehte sich um nach der starkleibigen Frau, die häufig den Kopf schüttelte und oft laut aufstöhnte, wie wenn plötzlich Schmerzenschauer sie durchschnitten.

Von weitem schon sah sie, daß Hempel allein vorm Haus saß. Ihr fiel auf, wieviel grauer sein glatt gebürstetes Haar geworden war. Er hatte die Augen auf dem Boden, denn er beobachtete das Gewimmel der vorbeieilenden Schuhe und Stiefel. Als Lina auf ihn zukam, sah er auf und sagte:

»Hast du sie nicht mitgebracht?«

»Nein,« stieß Frau Hempel hervor und ließ sich schwer auf dem zweiten der freien Stühle nieder. Der Platz zwischen ihnen blieb frei.

Hempel sah mit heimlichem Stolz auf seine Frau. Sie glich in ihrem Sonntagsstaat einem feinen Besuch. Als er aber auf ihr Gesicht guckte, erschrak er. Er fand, daß die gelbliche Haut Furchen und Falten hatte wie verbrauchtes Leder.

»Du sollst nicht so viel arbeiten, um alles auf die hohe Kante zu legen, Lineken,« sagte er. »Man kann doch nicht zwei Paar Stiefel auf einmal tragen.«

Frau Hempel schien nicht gehört zu haben. Sie stand auf, murmelte etwas und ging an ihm vorbei in den Keller.

Hempel dachte, daß sie sich umkleiden werde, aber als sie nicht wieder hinauskam, folgte er ihr.

89 Sie saß mit dem schönen Seidenumhang in der rußigen Küche, ganz zusammengebeugt, und schluchzte.

Er blieb stehen und beobachtete sie voll Schrecken. Seine große breite Lina konnte er sich nicht anders vorstellen als ruhig und aufrecht. Die kräftigen Arbeitsarme bereit zum Schaffen.

»Ist es etwas mit Laura?« fragte er plötzlich, und es wurde ihm noch kälter unter der Haut.

Lina fuhr zusammen und hob den Kopf:

»Unsinn, was soll's mit Laura sein,« sagte sie rauh und stand auf.

Er wurde ganz glücklich, als er wieder ihre barsche Stimme hörte. Unbeholfen ging er auf sie zu und sagte:

»Bist du nicht gesund, Linechen? Willst du ein Glas Wasser?«

Ein Glas Wasser war die Hauptarznei gewesen, damals ehe Laura angekommen war, und eine andre Krankheit kannte Hempel nicht an seiner Frau.

Frau Hempel schüttelte den Kopf, dann horchte sie auf und sagte:

»Kommt da jemand?«

Aber es waren fremde Schritte, die über den Hof hallten und verklangen.

»Ich werde noch ein Stück spazierengehen,« sagte Frau Hempel. »Ich habe Kopfschmerzen.« Und sie ging rasch an Hempel vorbei und hinaus.

Er blieb in ängstlicher Verwunderung zurück. Es dämmerte schon, und bald mußte das Haus erhellt werden. 90 Hatte sie das ganz vergessen? Gewiß, zur Not konnte auch er das machen. Aber man war gewohnt, daß sie es tat. Unruhig setzte er sich für kurze Zeit auf einen der drei leeren Stühle. Er grübelte und fand schließlich heraus, daß Lina nervös sein könnte. Wie oft hatte sie von den feinen Damen erzählt, die plötzlich weinten und unzufrieden waren und über Kopfschmerz jammerten. Aber wenn sie das eine Zeitlang getan hatten und mit Kölnischem Wasser bespritzt worden waren, so wurden sie bald wieder munter, und alles war wieder vorbei.

Er hatte das Geld bei sich, das er für die Brautschuhe mit den gelben Lackspitzen bekommen hatte. Bedächtig öffnete er sein großes, schwarzes Portemonnaie, nahm einige Silberstücke heraus und schritt durch den lebendigen Strudel des Straßendamms. Er ging in die Apotheke, um für Linechen eine Flasche Eau de Cologne zu kaufen. – – –

Frau Hempel lief durch den schwülen Sommerabend zum zweitenmal den langen Weg zu dem Hause mit den Türmchen. Sie mußte dem Mädchen in die Augen gesehen haben, ehe es Nacht wurde.

Um sie herum stieß sich mit Kichern und Lachen die Menschenmasse vorwärts. Die ganze Stadt feierte den warmen Festtag mit Lärm, Musik, mit Tanz und Trunkenheit. Zwischen diesem allen war irgendwo Laura mit einem Fremden. Wer mochte es sein? Das Kind kannte doch niemand? Aber braucht man mit siebzehn 91 Jahren jemanden lange zu kennen, um mit ihm bis ans Ende der Welt gehen zu wollen?

Aus einem Vorgärtchen überschüttete sie ein Fliederbaum mit seinem Honigduft. Frau Hempel erinnerte sich auf einmal der Pfingsten ihrer eigenen Jugend. Hatte sie ihn lange gekannt, den einen, an den sie noch heute denken mußte, wenn sie besonders froh wurde? Es war nicht der gute Hempel, den sie schon lange ohne wilde Wünsche gekannt hatte, ehe sie übereins gekommen waren, einige hübsche Möbel zu kaufen und zu heiraten. Ein feiner Herr war's gewesen. Nur einen Monat lang wohnte er in dem niederen Giebelhaus, worin die einzige Wirtschaft des Dorfes war. Es machte ihm Spaß, im Mühlbach Forellen zu fischen. Im Herbst zog er fort. Aber das Wasser rauschte weiter zwischen den Tannen dahin, und die Tage blieben auch nicht stehen. Solche feinen Hände wie die seinen sollte einmal Laura streicheln, aber nicht zum Spiel. –

Die Lichter blitzten auf in den Straßen. Auf den Dächern sprangen leuchtende Buchstaben hervor, verschwanden und kamen wieder. Tausend Strahlen zuckten ineinander und schnellten wieder zurück, wie angstvolle Geschicke, die sich miteinander verschlangen und wieder lösten.

Der Lärm und das Geschrei wurde stärker, der Menschenknäuel drehte sich enger zusammen. Der Abend war schwül. Frau Hempels zitternder Körper triefte.

Endlich hatte sie wieder das Haus erreicht. Viele 92 Fenster waren erhellt, aber die Wohnung, in die Laura gehörte, lag im Dunkel. Frau Hempel schlich sich auf den Hof. Auch hier war alles schwarz, sie konnte sich die Treppen sparen.

Sie stellte sich hinter eine der feinen Marmorsäulen auf, um zu warten. In dieser Seitenstraße war es stiller. Die Paare kamen einzeln vorüber und nicht in Scharen. Sie gingen meist Schulter an Schulter, und ihre Körper berührten sich bei jedem Schritt. Frau Hempel sah scharf, und nichts entging ihr. Ein Mädchen, das neben einem Mann schlürfte, dessen Arm wie ein Ring um ihre Schultern griff, sagte, als sie bei den Säulen waren:

»Und morgen?«

»Was kümmert uns das?« antwortete der Mann mit heiserer Stimme und schleppte sie schneller vorwärts.

Frau Hempel lehnte sich gegen die kalte Säule und atmete schwer.

Sie wußte nicht, ob es spät oder früher sei. Aber dann bemerkte sie, daß die Haustüren noch erleuchtet waren. Es war also noch nicht zehn Uhr.

Um die Ecke war wieder ein Paar gebogen, doch diese beiden gingen weit voneinander. Leichtschrittig, wie man am Morgen ausgeht, kam Laura neben dem fremden Herrn auf das Haus zu.

Neben der Säule, die die Mutter verbarg, blieben sie stehen, im vollen Licht der Laterne.

93 Mit einem Blick hatte Frau Hempel gesehen, daß Lauras Augen groß und klar blickten, daß um den schmalen Mund noch das kindliche Lächeln lag. Dieser kleine Mund, der noch ganz derselbe geblieben war, seit sie ihn zum erstenmal behutsam zu küssen wagte, lange nachdem sie dem zarten Geschöpfchen zum erstenmal die Brust gereicht hatte.

Laura zögerte. Sie sah zu den Dächern auf und sagte:

»Die vielen schönen Sterne. Ist es wahr, daß sie alle Namen haben?«

»Ja,« antwortete ihr Begleiter, den Frau Hempel sofort erkannt hatte. »Sehen Sie, diese sieben Sterne hier über uns nennt man den Wagen.«

»Wirklich, ich sehe die hochgestellte Deichsel,« rief Laura erfreut und lachte. Dann wurde ihr Gesicht ernst und sie sagte: »Nun muß ich aber hineingehen.«

»Ich danke Ihnen für den schönen Tag, und vergessen Sie mich nicht,« sagte der Graf leise. Rasch hatte er sich über ihre Hand gebeugt und sie geküßt und war mit schnellen Schritten davongegangen.

Frau Hempels Gesicht war naß. Sie merkte es nicht, daß diese eiligen Salztropfen auch über den gehüteten Seidenmantel liefen.

Langsam löste sie sich von ihrem Platz und ging der Ecke zu. Sie wollte Laura nicht sprechen. Worte machen erst etwas aus den Sachen. Sie wollte handeln. Sie wußte, daß sie bald etwas finden mußte, wo das Mädchen bei ihr bleiben konnte. Wieder sah sie das niedere 94 Haus mit der eignen Tür und dem großen Schlüssel vor sich, weit draußen vor dieser gierigen, übelriechenden Stadt.

Sie ging langsam und ließ sich Zeit zum Atemholen. Es war endlich kühler geworden.

Wie schade, dachte sie, daß der Graf ein Graf und doch kein Graf war. Sie wollte ihm doch heute oder morgen sagen, daß sie sich die heimlichen Spaziergänge mit ihrer Tochter verbitte.

Ihre Gedanken wurden gehemmt, weil Hempel im Laufschritt auf sie zukam.

Sie erzählte ihm, daß sie noch einmal bei Laura gewesen wäre, die wohl und munter sei, und daß sie auch keine Kopfschmerzen mehr habe.

Das letztere bedauerte Hempel beinahe ein wenig, und als sie nach Hause kamen, versteckte er die teure Eau de Cologne-Flasche, um sie bis zu Linas Geburtstag aufzuheben.

Frau Hempel legte rasch den Seidenmantel ab. Es schlug zehn, und das Haus mußte geschlossen werden. Als sie in den Flur kam, lag dort eine große dunkle Masse unter dem flackernden Gaslicht, und als sie näher lief und sich niederbeugte, sah sie, daß es der alte Graf war. Die häufigen Sektproben und die vielen Gläser, die über das Kosten hinausgingen, hatten sich ihm schon lange unter die Muskeln und in die Adern gesetzt, die ihn nun plötzlich nicht einmal mehr über die Schwelle seines Heims hatten tragen wollen.

95 Schreckerfüllt rief Frau Hempel nach ihrem Manne, und die Gesichter voll Grausen und Mitleid, schleppten beide den schweren Körper bis zur Wohnungstür, und als die Gräfin laut aufschreiend geöffnet hatte, auch bis zum Bett. Der Arzt wurde geholt. Die Schreie der Gräfin hallten über den Hof. Dann wurden die Fenster geschlossen, und es wurde still.

Als Frau Hempel viel später als sonst das Haus verschloß, kam der junge Graf hinein. Sie sagte leise und ehrerbietig:

»Ihr Vater ist krank geworden, Herr Graf.« –


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