Edward Bellamy
Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
Edward Bellamy

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Als ich am Abend mit Edith im Musikzimmer saß und einige Stücke anhörte, die in dem Tagesprogramm meine Aufmerksamkeit erregt hatten, benutzte ich eine Pause und sagte: »Ich möchte gern eine Frage an Sie richten, Fräulein Leete, wenn ich nicht fürchtete, indiskret zu sein.«

»Bitte, fragen Sie nur,« erwiderte sie.

»Ich bin in der Lage eines Horchers, der etwas von einer Sache gehört hat, die nicht für ihn bestimmt war, obwohl sie ihn zu betreffen schien, und nun so unbescheiden ist, sich bei dem, den er behorcht hat, nach dem Rest zu erkundigen.«

»Behorcht!« wiederholte sie erstaunt.

»Ja,« sagte ich, »aber ich war zu entschuldigen, wie Sie, denke ich, zugeben werden.«

»Das klingt sehr geheimnisvoll,« erwiderte sie. »Ja, so geheimnisvoll,« sagte ich, »daß ich oft im Zweifel war, ob ich es denn wirklich gehört habe, was ich Sie fragen will, oder ob ich es bloß geträumt habe. Sie müssen mich darüber aufklären. Die Sache ist diese: Als ich aus jenem hundertjährigen Schlafe erwachte, war der erste Eindruck, dessen ich mir bewußt ward, der von Stimmen, die um mich her sprachen, – Stimmen, welche ich nachträglich als die Ihrer verehrten Eltern und als Ihre eigene erkannte. Zuerst, erinnere ich mich, sagte die Stimme Ihres Herrn Vaters: ›Er wird gleich die Augen öffnen. Es ist besser, wenn er zuerst nur einen von uns sieht.‹ Dann sagten Sie, wenn ich nicht alles träumte: ›Versprich mir also, daß du ihm nichts sagen wirst.‹ Ihr Herr Vater schien zu zögern, das Versprechen zu geben, aber Sie bestanden darauf, und da Ihre Frau Mutter sich ins Mittel legte, so versprach er endlich, und als ich die Augen öffnete, sah ich nur ihn.«

Es war völlig mein Ernst gewesen, als ich sagte, ich wäre nicht sicher, ob ich die Unterhaltung, die ich gehört zu haben glaubte, nicht bloß geträumt hätte, – so unbegreiflich erschien es mir, daß diese Menschen irgend etwas von mir, dem Zeitgenossen ihrer Urgroßeltern, wissen sollten, was ich selbst nicht wußte. Aber als ich sah, welche Wirkung meine Worte auf Edith machten, wußte ich, daß es kein Traum war, sondern ein neues Geheimnis, – ein noch rätselhafteres, als alle bisherigen. Denn sobald sie merkte, worauf meine Frage hinauswollte, zeigte sie die peinlichste Verlegenheit. Ihre Augen, die immer einen so freien und offenen Ausdruck hatten, senkten sich erschreckt vor meinem Blicke, und ihr Antlitz errötete bis zur Stirn hinauf.

»Verzeihen Sie,« sagte ich, sobald ich mich von dem Erstaunen über die seltsame Wirkung meiner Worte erholt hatte. »Es scheint also, daß ich nicht geträumt habe. Ein Geheimnis ist vorhanden, etwas, was mich angeht, das Sie mir vorenthalten. Wirklich, scheint es nicht etwas hart, daß einer Person in meiner Lage nicht alle mögliche Auskunft hinsichtlich ihrer selbst gegeben werden sollte?«

»Es betrifft nicht Sie, – das heißt, nicht direkt. Wirklich, es geht nicht Sie an,« erwiderte sie kaum hörbar.

»Aber es betrifft mich doch in irgend einer Weise,« beharrte ich. »Es muß etwas sein, was mich interessieren würde.«

»Nicht einmal das weiß ich,« erwiderte sie, indem sie einen Augenblick mich anzusehen wagte, wobei sie glühend errötete, während doch ein eigenes Lächeln um ihre Lippen zuckte, welches verriet, daß sie in der Situation trotz ihrer Verlegenheit etwas Komisches fand, – »ich bin nicht sicher, daß es Sie auch nur interessieren würde.«

»Aber Ihr Herr Vater hätte es mir gesagt,« entgegnete ich in vorwurfsvollem Tone. »Sie waren es, die ihn daran hinderten. Er schien zu meinen, daß ich es erfahren sollte.«

Sie antwortete nicht. Sie war so reizend in ihrer Verwirrung, daß mich nun das Verlangen, die Situation zu verlängern, ebensosehr wie meine ursprüngliche Neugierde dazu bestimmte, noch weiter in sie zu dringen.

»Soll ich es niemals erfahren? Wollen Sie es mir niemals sagen?« fragte ich.

»Das hängt davon ab,« antwortete sie nach einer langen Pause.

»Wovon?« beharrte ich.

»Ach, Sie fragen zu viel,« erwiderte sie. Dann fügte sie hinzu, indem sie mir ihr Antlitz zuwendete, dessen unergründliche Augen, errötende Wangen und lächelnde Lippen es völlig bezaubernd machten: »Was würden Sie dazu meinen, wenn ich Ihnen sagte, daß es von – Ihnen abhängt?«

»Von mir?« wiederholte ich. »Wie kann das sein?«

»Herr West, wir verlieren jetzt ein reizendes Stück!« Das war ihre einzige Antwort darauf. Sie ging zu dem Telephon, berührte es mit dem Finger, und ein herrliches Adagio ertönte. Auch weiterhin sorgte sie dafür, daß die Musik keine Unterhaltung zuließ. Sie hielt ihr Gesicht von mir abgewendet und gab sich den Anschein, als ob sie sich ganz in die Melodien vertiefte; daß dies aber nur vorgegeben war, verriet hinlänglich die hohe Röte, welche immer noch ihre Wangen überflutete.

Als sie schließlich bemerkte, daß ich für diesmal genug Musik gehört hatte, und wir uns erhoben, um das Zimmer zu verlassen, trat sie gerade auf mich zu und sagte, ohne die Augen aufzuschlagen: »Herr West, Sie sagen, ich sei gut gegen Sie gewesen. Ich bin es nicht besonders gewesen; aber wenn Sie meinen, daß ich es war, so bitte ich Sie mir zu versprechen, daß Sie nicht wieder wegen der Sache in mich dringen werden, nach der Sie mich diesen Abend gefragt haben, und daß Sie auch nicht versuchen werden, es von irgend jemand anders zu erfahren, – zum Beispiel von meinem Vater oder meiner Mutter.«

Auf eine solche Bitte war nur eine Antwort möglich. »Verzeihen Sie mir, daß ich Sie gequält habe. Selbstverständlich will ich es versprechen,« sagte ich. »Ich würde Sie niemals gefragt haben, wenn ich geahnt hätte, daß es Ihnen peinlich sein könnte. Aber tadeln Sie mich darum, weil ich neugierig war?«

»Ich tadle Sie gar nicht.«

»Und später einmal,« fügte ich hinzu, »wenn ich Sie nicht quäle, sagen Sie es mir aus freien Stücken. Darf ich das nicht hoffen?«

»Vielleicht,« flüsterte sie.

»Nur vielleicht?«

Sie sah zu mir auf und las in meinem Antlitz mit einem tiefen, tiefen Blicke. »Ja,« sagte sie, »ich denke, ich werde es Ihnen sagen – später.« Und so endete unsere Unterhaltung, denn sie gab mir keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen.

An diesem Abend, denke ich, würde selbst Dr. Pillsbury mich nicht haben in Schlaf bringen können, wenigstens nicht bis gegen Morgen. Rätsel waren nun seit Tagen meine gewohnte Speise gewesen; aber keines zuvor war so geheimnisvoll und zugleich so bestrickend wie dieses, dessen Lösung auch nur zu suchen mir Edith Leete verboten hatte. Es war ein doppeltes Rätsel. Wie war es zunächst denkbar, daß sie ein Geheimnis in Bezug auf mich wissen konnte, den Fremden aus einem fremden Zeitalter? Und ferner, selbst wenn sie solch ein Geheimnis wissen konnte, wie war es zu erklären, daß dieses Wissen sie so aufzuregen schien? Es giebt Rätsel, die so schwierig sind, daß man auch nicht einmal dahin gelangen kann, die Lösung zu ahnen; und dies schien ein solches zu sein. Ich bin sonst von einer zu praktischen Sinnesrichtung, um auf solchen Rätselkram viel Zeit zu verschwenden; aber die Schwierigkeit eines Rätsels, das in einem schönen jungen Mädchen verkörpert ist, ist nicht eben geeignet, seine Anziehungskraft zu verringern. Im allgemeinen zwar kann man zweifellos ohne Gefahr annehmen, daß der Mädchen Erröten den jungen Männern zu allen Zeiten dieselbe Geschichte erzählt; aber Ediths errötenden Wangen eine solche Erklärung zu geben, das wäre in Anbetracht meiner Lage und der Kürze unserer Bekanntschaft die äußerste Albernheit gewesen. Und dennoch war sie ein Engel, und ich hätte kein junger Mann sein müssen, wenn Vernunft und Verstand gänzlich vermocht hätten, aus meinen Träumen in jener Nacht alle Rosenfarbe zu verbannen.


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