Edward Bellamy
Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
Edward Bellamy

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Zweites Kapitel.

Der dreißigste Mai 1887 fiel auf einen Montag. Dieser Tag war im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts einer der nationalen Feiertage, nämlich der sogenannte »Dekorationstag«, an welchem das Andenken der Soldaten der Nordstaaten geehrt wurde, welche an dem Kriege für die Erhaltung der Union teilgenommen hatten. Die Veteranen pflegten an diesem Tage unter militärischem und bürgerlichem Geleit, Musikcorps an der Spitze, nach den Kirchhöfen zu ziehen und auf die Gräber ihrer gefallenen Kameraden Blumenkränze zu legen, eine Ceremonie, die sehr feierlich und ergreifend war. Der älteste Bruder Edith Bartletts war im Kriege gefallen, und die Familie war gewohnt, am Dekorationstage seine Ruhestätte in Mount Auburn zu besuchen.

Ich hatte mir die Erlaubnis erbeten, sie zu begleiten, und blieb, als wir gegen Abend in die Stadt zurückkehrten, bei der Familie meiner Verlobten zur Mahlzeit. Im Gesellschaftszimmer nahm ich nach dem Essen eine Abendzeitung zur Hand und las von einem neuen Streik der Bauarbeiter, welcher wahrscheinlich die Vollendung meines unglücklichen Hauses noch weiter hinausschieben würde. Ich erinnere mich deutlich, wie aufgebracht ich darüber war. Ich verwünschte in so kräftigen Ausdrücken, wie es die Gegenwart von Damen nur gestattete, die Arbeiter im allgemeinen und diese Streikenden im besondern.

Die Anwesenden stimmten mir völlig bei, und die Bemerkungen, welche in der Unterhaltung, die darauf folgte, von allen über das sittenlose Verhalten der Volksverführer gemacht wurden, waren so, daß jenen Herren die Ohren davon geklungen haben müssen. Man war darüber einig, daß es mit jedem Tage schlimmer würde, und daß man kaum mehr wisse, wie das alles noch enden solle. »Das schlimmste dabei ist,« sagte Frau Bartlett, »daß die Arbeiterklasse der ganzen Welt gleichzeitig verrückt geworden zu sein scheinen. In Europa ist es sogar noch schlimmer als hier. Dort möchte ich überhaupt nicht zu leben wagen. Ich fragte neulich meinen Mann, wohin wir auswandern sollten, wenn alle die schrecklichen Dinge sich ereigneten, welche diese Socialisten androhen. Er sagte, er kenne jetzt keinen Ort, wo sichere gesellschaftliche Zustände herrschten, außer Grönland, Patagonien und dem chinesischen Reich.« »Diese Chinesen wußten sehr gut, was sie wollten,« fügte jemand hinzu, »als sie die westliche Civilisation nicht einlassen wollten. Sie wußten es besser, wozu sie führen würde, als wir. Sie sahen, daß sie nichts anderes sei als verkappter Dynamit.«

Ich erinnere mich, wie ich darauf Edith beiseite zog und sie zu überreden suchte, daß es besser wäre, wenn wir uns sogleich heirateten, ohne auf die Vollendung des Hauses zu warten, und daß wir ja eine Zeitlang reisen könnten, bis unser Heim in Ordnung sei. Sie war an jenem Abend besonders schön; das schwarze Kleid, welches sie in Anbetracht des Tages trug, hob die Reinheit ihres Teints sehr vorteilhaft hervor. Ich sehe sie noch im Geiste, wie sie an jenem Abende aussah. Als ich mich empfahl, folgte sie mir in die Vorhalle, und ich küßte sie wie gewöhnlich zum Abschied. Kein außergewöhnlicher Umstand unterschied diesen Abschied von anderen Gelegenheiten, wo wir für den Abend oder für einen Tag einander Lebewohl gesagt hatten. Nicht die leiseste Vorahnung, daß dies mehr als ein gewöhnlicher Abschied sei, bedrückte meinen Geist oder den ihren.

Ach ja!

Es war noch ziemlich früh für einen Liebenden, als ich meine Braut verließ; aber dieser Umstand hatte mit meiner Liebe zu ihr nichts zu thun. Ich litt vielmehr fortdauernd an Schlaflosigkeit, und obwohl ich sonst ganz gesund war, fühlte ich mich doch an diesem Tage völlig ermattet, weil ich in den beiden vorangegangenen Nächten fast gar nicht geschlafen hatte. Edith wußte dies und hatte darauf bestanden, mich um neun Uhr nach Hause zu schicken mit dem strengen Befehl, sofort zu Bett zu gehen.

Das Haus, in welchem ich wohnte, hatte seit drei Generationen meiner Familie gehört, deren letzter und alleiniger Repräsentant ich nunmehr war. Es war ein großes, altes, hölzernes Gebäude; im Innern mit altmodischer Eleganz ausgestattet, aber in einem Viertel gelegen, welches wegen des Eindringens von Mietshäusern und Fabriken schon längst aufgehört hatte, eine begehrenswerte Gegend zu sein. Es war kein Haus, in welches ich eine junge Frau einzuführen denken konnte, am allerwenigsten ein so feines Wesen wie Edith Bartlett. Ich hatte es zum Verkauf ausgeboten und benutzte es inzwischen nur zum Schlafen; meine Mahlzeiten nahm ich im Klub ein. Mein Diener, ein treuer Neger Namens Sawyer, wohnte bei mir und sorgte für meine geringen Bedürfnisse.

Eine Eigentümlichkeit des Hauses fürchtete ich sehr zu vermissen, wenn ich es verlassen würde, und dies war das Schlafzimmer, welches ich mir unter den Grundmauern hatte bauen lassen. Ich hätte in der Stadt mit ihrem nimmer aufhörenden nächtlichen Lärm überhaupt nicht schlafen können, wenn ich ein Zimmer in einem oberen Stocke hätte benutzen müssen. Aber in dies unterirdische Gemach drang kein Laut der Oberwelt. Sobald ich es betreten und die Thür geschlossen hatte, empfing mich Grabesstille. Um die Feuchtigkeit des Bodens von diesem Zimmer abzuhalten, waren die dicken Wände sowohl wie der Boden mit hydraulischem Cement belegt worden. Damit das Zimmer auch der Gewalt von Dieben und der des Feuers widerstehen und als Aufbewahrungsort für Wertsachen dienen könne, hatte ich es mit Steinplatten, die hermetisch aneinander schlossen, decken lassen, ebenso war die äußere eiserne Thür mit einer dicken Lage von Asbest überzogen worden. Eine dünne Röhre, die mit einem Windrade auf dem Dache des Hauses in Verbindung stand, sicherte den Luftwechsel.

Man hätte erwarten sollen, daß der Bewohner einer solchen Kammer sich eines gesunden Schlafes hätte erfreuen müssen; es war jedoch selbst da selten der Fall, daß ich zwei Nächte hintereinander gut schlief. Ich war so an das Wachen gewöhnt, daß mich der Verlust einer Nachtruhe wenig kümmerte. Wenn ich dagegen eine zweite Nacht lesend im Stuhle statt schlafend im Bette verbrachte, ward ich so erschöpft, daß ich eine Nervenkrankheit befürchten mußte. Ich griff daher als letzte Aushilfe zu künstlichen Mitteln. Wenn ich nach zwei durchwachten Nächten fand, daß auch in der dritten der Schlaf sich nicht einstellen wollte, so ließ ich Dr. Pillsbury rufen.

Er wurde nur aus Höflichkeit Doktor genannt, denn er war, was man in jenen Tagen einen »Naturarzt« oder »Quacksalber« nannte. Er selbst nannte sich »Professor des tierischen Magnetismus«. Ich war mit ihm bei Gelegenheit einiger dilettantischer Forschungen in betreff der Erscheinungen des tierischen Magnetismus bekannt geworden. Ich glaube nicht, daß er irgend etwas von Medizin verstand; aber sicherlich war er ein vorzüglicher Magnetiseur. Wenn ich daher eine dritte schlaflose Nacht erwartete, pflegte ich zu ihm zu senden, damit er mich durch seine Manipulationen einschläfere. Mochte meine nervöse Aufregung auch noch so groß sein, so verfehlte doch Dr. Pillsbury nie, mich nach einer kurzen Zeit im tiefsten Schlummer zurückzulassen, welcher anhielt, bis ich durch die Umkehrung der hypnotischen Prozedur wieder aufgeweckt wurde. Das Verfahren, den Schlafenden aufzuwecken, war viel einfacher als das, Schlaf herbeizuführen, und der Bequemlichkeit wegen hatte ich Dr. Pillsbury es Sawyer lehren lassen, wie es zu machen sei.

Niemand als mein treuer Diener wußte, warum Dr. Pillsbury mich besuchte, oder daß er überhaupt zu mir kam. Natürlich war es meine Absicht, Edith mein Geheimnis mitzuteilen, nachdem sie meine Frau geworden sei. Bisher hatte ich ihr noch nichts davon gesagt, weil unfraglich mit dem magnetischen Schlafe eine kleine Gefahr verbunden war und ich wußte, daß sie gegen meine Gewohnheit Einspruch erheben würde. Die Gefahr war natürlich die, daß der Schlaf zu tief werden und in einen Starrkrampf übergehen könnte, den die Gewalt des Magnetiseurs nicht zu brechen vermöchte, und der deshalb mit dem Tode endigen würde. Wiederholte Versuche hatten mich völlig überzeugt, daß die Gefahr außerordentlich gering sei, wenn die nötigen Vorsichtsmaßregeln getroffen wurden, und ich hoffte, obwohl nicht ganz zuversichtlich, auch Edith davon zu überzeugen. Nachdem ich sie verlassen hatte, ging ich direkt nach Hause und sandte Sawyer sofort zum Dr. Pillsbury. Inzwischen begab ich mich in mein unterirdisches Schlafgemach, vertauschte meinen Anzug mit einem bequemen Schlafrock und begann die Briefe zu lesen, welche die Abendpost gebracht und Sawyer auf meinen Lesetisch gelegt hatte.

Einer derselben war von dem Baumeister meines neuen Hauses, und bestätigte, was ich aus den Zeitungsnachrichten bereits geschlossen hatte. Die neuen Streiks, sagte er, würden die Erfüllung seiner kontraktlichen Verpflichtungen auf unbestimmte Zeit hinausschieben, da weder die Meister noch die Arbeiter ohne langen Kampf nachgeben würden. Caligula wünschte dem römischen Volke nur einen einzigen Kopf, damit er ihn abschlagen könne, und ich fürchte, daß, als ich diesen Brief las, ich für einen Augenblick in betreff der Arbeiterklasse Amerikas desselben Wunsches fähig war. Die Rückkehr Sawyers mit dem Doktor unterbrach meine düsteren Gedanken.

Er hatte Schwierigkeit gehabt, sich die Dienste des Doktors zu sichern, da dieser im Begriffe stand, noch in derselben Nacht die Stadt zu verlassen. Pillsbury erklärte mir, daß er, seit er mich zum letztenmale gesehen, von einer einträglichen Vakanz in einer entfernten Stadt gehört und sich entschlossen habe, die Gelegenheit schleunigst wahrzunehmen. Als ich ihn erschreckt fragte, was ich denn ohne ihn beginnen solle, gab er mir die Adressen einiger Magnetiseure in Boston, die, wie er versicherte, die gleichen Kräfte besäßen wie er.

Über diesen Punkt einigermaßen beruhigt, wies ich Sawyer an, mich am nächsten Morgen um neun Uhr zu wecken, legte mich, wie ich war, auf das Bett und überließ mich den Hantierungen des Magnetiseurs. Mein ungewöhnlich nervöser Zustand war vielleicht schuld daran, daß ich langsamer als gewöhnlich das Bewußtsein verlor, aber schließlich überkam mich eine köstliche Schläfrigkeit.


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