Edward Bellamy
Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
Edward Bellamy

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Viertes Kapitel.

Ich wurde nicht ohnmächtig, aber der Versuch, meine Lage mir deutlich vorzustellen, machte mich schwindeln, und ich erinnere mich, daß mein Gefährte mich kräftig zu stützen hatte, als er mich vom Dache in ein geräumiges Gemach des oberen Stockwerks führte, wo er mich nötigte, ein oder zwei Gläser guten Weines zu trinken und ein leichtes Mahl zu mir zu nehmen.

»Ich hoffe, nun wird Ihnen wieder wohl,« sagte er munter. »Ich würde nicht ein so starkes Mittel ergriffen haben, Sie zu überzeugen, wenn nicht Ihr Verhalten, das freilich unter den obwaltenden Umständen zu entschuldigen war, mich dazu gezwungen hätte. Ich gestehe,« fügte er lachend hinzu, »einen Augenblick hatte ich etwas Furcht, von Ihnen zu Boden geschlagen zu werden, wie Sie das ja wohl im neunzehnten Jahrhundert nannten, wenn ich Sie nicht schnell überführte. Ich wußte, daß die Bostoner zu Ihrer Zeit berühmte Faustkämpfer waren, und hielt es für geraten, keine Zeit zu verlieren. Ich denke, Sie sind jetzt bereit, mich von der Anklage, daß ich Ihnen einen Possen gespielt hätte, freizusprechen.«

»Wenn Sie mir gesagt hätten,« erwiderte ich tief bewegt, »daß tausend Jahre statt hundert verflossen wären, seitdem ich diese Stadt zum letztenmal gesehen, jetzt würde ich Ihnen glauben.«

»Nur ein Jahrhundert ist verflossen,« antwortete er; »aber manches Jahrtausend der Weltgeschichte hat minder außerordentliche Wandlungen gesehen.«

»Und nun,« fügte er hinzu, indem er mir mit unwiderstehlicher Freundlichkeit die Hand entgegenstreckte, »heiße ich Sie herzlich willkommen in dem Boston des zwanzigsten Jahrhunderts und in diesem Hause. Mein Name ist Leete; Dr. Leete nennt man mich.«

»Mein Name,« sagte ich, indem ich seine Hand schüttelte, »ist Julian West.«

»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zumachen, Herr West,« antwortete er. »Da Sie sehen, daß dieses Haus an die Stelle des Ihrigen gebaut worden ist, so hoffe ich, daß Sie sich hier bald heimisch fühlen werden.«

Nachdem ich mich erfrischt hatte, nahm ich dankbar das Anerbieten des Dr. Leete an, zu baden und die Kleidung zu wechseln.

Es schien nicht, daß große Veränderungen in der männlichen Tracht zu den Umwälzungen gehörten, von denen mein Wirt gesprochen hatte; denn von wenigen Einzelheiten abgesehen, machten mir meine neuen Kleidungsstücke keine Schwierigkeiten.

Physisch war ich nun wieder ich selbst. Aber wie es geistig um mich stand, wird der Leser ohne Zweifel wissen wollen. Was waren meine inneren Gefühle, als ich mich so plötzlich in eine neue Welt verschlagen fand? Als Erwiderung stelle ich ihm eine Gegenfrage: Angenommen, er werde plötzlich, in einem Augenblick, von der Erde, sagen wir in das Paradies oder in den Hades versetzt, – was meint er, würde sein eigener Geisteszustand sein? Würden seine Gedanken sogleich zur Erde zurückkehren, die er soeben verlassen hatte, oder würde er nicht, nachdem die erste Bestürzung überwunden, bei dem Interesse, das seine neue Umgebung erregt, sein früheres Leben eine Weile fast vergessen, obwohl er später desselben gedenken wird? Alles, was ich sagen kann, ist, daß, wenn sein Geisteszustand dem nur irgend ähnlich sein sollte, welchen ich bei dem Übergange hatte, den ich beschreibe, die letztere Hypothese sich als die richtige erweisen würde. Die Gefühle des Erstaunens und der Neugierde, welche meine neue Umgebung hervorrief, erfüllten meinen Geist, nachdem die erste Erschütterung vorüber war, und schlossen alle anderen Gedanken aus. Die Erinnerung an mein früheres Leben war für den Augenblick geschwunden.

Kaum fand ich mich durch die freundliche Fürsorge meines Wirtes körperlich gekräftigt, so fühlte ich den brennenden Wunsch, auf das Dach des Hauses zurückzukehren; und alsbald saßen wir dort sehr angenehm auf bequemen Sesseln, unter uns und um uns die Stadt. Nachdem Dr. Leete meine zahlreichen Fragen in Bezug auf alte Erscheinungen, die ich vermißte, und neue, die an ihre Stelle getreten waren, beantwortet hatte, fragte er mich, welcher Unterschied zwischen der neuen und der alten Stadt mir am meisten auffiele.

»Um von den kleinen Dingen zuerst zu reden,« erwiderte ich, »so glaube ich, daß das Fehlen der Schornsteine und jeglichen Rauches die Eigentümlichkeit ist, die mir zuerst aufstieß.«

»Ach,« rief mein Gefährte lebhaft aus, »ich hatte die Schornsteine vergessen; es ist so lange her, daß diese außer Gebrauch kamen. Seit einem Jahrhundert beinahe ist jenes rohe Verbrennungsverfahren, das Ihnen Wärme gab, veraltet.«

»Was mir an der Stadt im allgemeinen am meisten auffällt, ist der Volkswohlstand, den ihre Pracht beweist.«

»Ich gäbe viel darum, auf das Boston Ihrer Tage nur einen Blick werfen zu können,« erwiderte Dr. Leete. »Ohne Zweifel waren, wie aus Ihrer Bemerkung hervorgeht, die Städte jener Zeit recht armselig. Wenn Sie auch den Geschmack besaßen, sie glänzend zu gestalten, – und ich bin nicht so unhöflich, dies in Frage zu stellen, – so würde Ihnen doch die allgemeine Armut, welche die Folge Ihres absonderlichen Wirtschaftssystems war, die Mittel dazu verweigert haben. Zudem ließ der außerordentliche Individualismus, der damals herrschte, nicht viel Gemeinsinn aufkommen. Der ganze Reichtum, den Sie besaßen, scheint fast ganz für privaten Luxus verschwendet worden zu sein. Heutzutage im Gegenteil ist keine Verwendung der Überschüsse so beliebt, wie die zur Verschönerung der Stadt, an der Alle in gleichem Maße ihre Freude haben.«

Die Sonne war bereits im Untergehen gewesen, als wir auf das Dach zurückkehrten, und während wir sprachen, senkte sich die Nacht auf die Stadt.

»Es wird dunkel,« sagte Dr. Leete. »Lassen Sie uns hinuntergehen; ich möchte Ihnen meine Frau und meine Tochter vorstellen.«

Seine Worte erinnerten mich an die weiblichen Stimmen, die ich um mich hatte flüstern hören, als ich wieder zu bewußtem Leben erwachte; und höchst neugierig zu erfahren, wie die Damen des Jahres Zweitausend aussähen, stimmte ich dem Vorschlage mit Lebhaftigkeit zu. Das Zimmer, in welchem wir die Gattin und die Tochter meines Wirtes fanden, war wie das ganze Innere des Hauses, von einem milden Lichte erfüllt, welches, wie ich wußte, künstlich sein mußte, obwohl ich die Quelle, aus der es verbreitet wurde, nicht entdecken konnte. Frau Leete war eine ausnehmend stattliche, wohl konservierte Dame, ungefähr im Alter ihres Gatten, während ihre Tochter, in der ersten jungfräulichen Blüte, das schönste Mädchen war, das ich je gesehen hatte. Ihr Antlitz war so bezaubernd, wie es tiefblaue Augen, ein zarter Teint und vollendet schöne Gesichtszüge nur machen konnten; aber selbst Wenn ihr Antlitz des besonderen Reizes ermangelt hatte, so würde doch ihr tadelloser Wuchs ihr einen Platz unter den Schönheiten des neunzehnten Jahrhunderts eingeräumt haben. Weibliche Weichheit und Zartheit war in diesem lieblichen Geschöpfe in herrlicher Weise mit der Erscheinung von Gesundheit und reicher Lebenskraft verbunden, welche bei den Mädchen, mit denen allein ich sie vergleichen konnte, nur zu oft gefehlt hatte. Ein Zusammentreffen, unbedeutend im Vergleich mit der allgemeinen Seltsamkeit der Lage, aber doch auffallend war, daß auch sie Edith hieß.

Der Abend, welcher folgte, war sicherlich einzig in der Geschichte des geselligen Verkehrs: aber anzunehmen, daß unsre Unterhaltung besonders gezwungen oder schwierig war, würde ein großer Irrtum sein. Ich glaube in der That, daß unter unnatürlichen Umständen, wie man sie nennen kann, nämlich ungewöhnlichen, die Menschen sich am natürlichsten betragen, aus dem Grunde ohne Zweifel, weil solche Umstände alles Gekünstelte verbannen. Ich weiß jedenfalls, daß meine Unterhaltung mit den Repräsentanten einer anderen Zeit und Welt an jenem Abend durch eine edle Aufrichtigkeit und Freimütigkeit ausgezeichnet war, wie sie nur selten der Lohn einer langen Bekanntschaft ist. Ohne Zweifel hatte der ausgesuchte Takt meiner Gesellschafter viel dazu beigetragen. Wir konnten natürlich von nichts anderem sprechen als von dem sonderbaren Ereignisse, infolge dessen ich dort war; aber sie sprachen darüber mit einem Interesse, das so offen und gerade in seinem Ausdrucke war, daß dem Gegenstande dadurch in hohem Grade das Zauberhafte und Unheimliche genommen wurde, das so leicht hätte überwältigend wirken können. Man hätte annehmen können, sie wären ganz daran gewöhnt, mit Wesen eines anderen Jahrhunderts sich zu unterhalten, so vollkommen war ihr Takt.

Was mich selbst anbetrifft, so kann ich mich nicht erinnern, daß jemals mein Geist lebendiger und schärfer oder meine intellektuelle Empfänglichkeit feiner gewesen wäre, als an jenem Abend. Natürlich meine ich nicht, daß das Bewußtsein meiner erstaunlichen Lage für einen Augenblick meinem Geiste fern blieb; aber seine Hauptwirkung war bisher nur ein fieberhaftes Mutgefühl, eine Art geistigen Rausches.Bei der Erklärung dieses Geisteszustandes darf nicht vergessen werden, daß außer dem Gegenstande unserer Unterhaltung in meiner Umgebung fast nichts vorhanden war, das mich daran erinnert hätte, was mir zugestoßen sei. Ganz nahe meinem Hause im alten Boston hätte ich Gesellschaftskreise finden können, die mir weit fremdartiger gewesen wären. Die Sprache der Bostoner des zwanzigsten Jahrhunderts unterscheidet sich sogar weniger von der ihrer gebildeten Vorfahren im neunzehnten, als die der letzteren sich von der Sprache Washingtons und Franklins unterschied, während die Abweichungen in der Art der Kleidung und des Hausgeräts der beiden Epochen nicht auffälliger sind, als sie früher die Mode im Zeitraum einer Generation herbeigeführt hat.

Edith Leete nahm wenig Teil an der Unterhaltung: aber wenn zuweilen ihre magnetische Schönheit meinen Blick auf ihr Antlitz zog, fand ich ihr Auge mit äußerster Spannung auf mich gerichtet, die fast einer Bezauberung glich. Es war offenbar, daß ich in außerordentlichem Grade ihr Interesse erregt hatte, wie das, wenn sie ein phantasievolles Mädchen war, nicht verwundern konnte. Obwohl ich annahm, daß Neugierde das Hauptmotiv ihres Interesses war, so würde es mich doch nicht so berührt haben, wenn sie weniger schön gewesen wäre.

Dr. Leete sowohl als die Damen schienen sich für meinen Bericht über die Umstände, unter denen ich mich in meinem unterirdischen Zimmer zur Ruhe begeben hatte, sehr zu interessieren. Alle hatten ihre Vermutungen, wie es wohl gekommen sein möge, daß man mich dort vergessen habe: und die Annahme, über welche wir uns schließlich einigten, bietet wenigstens eine wahrscheinliche Erklärung, obwohl natürlich niemand wissen kann, ob sie in ihren Einzelheiten richtig ist. Die über dem Gemache gefundene Aschenschicht bewies, daß das Haus niedergebrannt war. Nehmen wir an, daß das Feuer in jener Nacht ausbrach, in welcher ich einschlief. Dann brauchen wir nur noch die Voraussetzung zu machen, daß Sawyer bei dem Brande oder einem damit zusammenhängenden Ereignis sein Leben verlor, und das übrige folgt natürlich genug. Niemand außer ihm und Dr. Pillsbury wußte von der Existenz des Gemaches oder meinem Aufenthalt darin, und Dr. Pillsbury, welcher noch in derselben Nacht nach New-Orleans abgereist war, hatte von dem Feuer wahrscheinlich überhaupt nie etwas gehört. Meine Freunde und das Publikum mußten also schließen, daß ich verbrannt sei. Selbst eine Ausgrabung der Trümmer, außer wenn sie sehr gründlich gewesen wäre, würde nicht zu einer Entdeckung des Gemaches in den Grundmauern geführt haben. Freilich, wenn das Grundstück unmittelbar darauf wieder bebaut worden wäre, so würde eine solche Ausgrabung notwendig gewesen sein; aber die unruhigen Zeiten und die ungünstige Lage des Ortes konnten wohl einen Neubau verhindert haben. Die Größe der Bäume in dem Garten, welche jetzt an jener Stelle standen, bewies, sagte Dr. Leete, daß derselbe seit wenigstens einem halben Jahrhundert unbebaut geblieben sei.


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