Edward Bellamy
Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
Edward Bellamy

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Zwanzigstes Kapitel.

An diesem Nachmittage fragte mich Edith gelegentlich, ob ich schon das unterirdische Gemach im Garten wieder besucht hätte, in welchem ich gefunden worden war.

»Bisher noch nicht,« antwortete ich. »Offen gestanden, fürchtete ich mich bisher etwas davor, da der Besuch vielleicht alte Erinnerungen erwecken und mein geistiges Gleichgewicht allzusehr hätte erschüttern können.«

»Das ist wahr!« sagte sie. »Ich kann mir denken, daß Sie gut daran gethan haben, davon fortzubleiben. Ich hätte mir selbst sagen müssen, daß das noch nichts für Sie wäre.«

»Im Gegenteil,« erwiderte ich, »es ist mir lieb, daß Sie davon gesprochen haben. Wenn eine Gefahr dabei war, so war dies doch nur am ersten oder in den ersten paar Tagen der Fall. Ihnen vor allem danke ich es, daß ich mich jetzt in der neuen Welt so sicher auf meinen Füßen fühle, daß ich heute Nachmittag gern dorthin gehen möchte, wenn Sie mich begleiten und die Geister von mir fern halten wollen.«

Edith wollte anfangs nicht recht: als sie aber fand, daß es mein Ernst sei, erklärte sie sich bereit, mich zu begleiten. Man konnte den Erdhaufen, der bei der Ausgrabung aufgeworfen war, vom Hause aus zwischen den Bäumen liegen sehen, und wenige Schritte brachten uns an Ort und Stelle. Alles war so geblieben, wie es war, als die Arbeit durch die Auffindung des Bewohners jenes Gemaches unterbrochen wurde. Nur war die Thür geöffnet und die Steinplatte an der Decke wieder eingesetzt worden. Wir stiegen die Böschung hinab in den ausgeschachteten Bauplatz, gingen zur Thür hinein und standen nun in dem spärlich erleuchteten Zimmer.

Alles war noch genau so, wie ich es zuletzt vor hundertunddreizehn Jahren an jenem Abende betrachtet hatte, bevor ich meine Augen zu meinem langen Schlafe schloß. Ich stand eine Zeitlang schweigend da und sah mich in dem Zimmer um. Meine Gefährtin schaute mich verstohlen an mit Blicken voll furchtsamer und mitleidiger Neugier. Ich streckte meine Hand aus und sie legte die ihrige hinein, – ihre zarten Finger erwiderten sanft meinen Händedruck. Endlich flüsterte sie: »Wäre es nicht besser, wir gingen jetzt wieder hinaus? Sie dürfen sich nicht zu viel zutrauen. Wie seltsam muß Ihnen zu Mute sein!«

»Im Gegenteil,« erwiderte ich, »mir ist gar nicht seltsam zu Mute, und das ist das seltsamste bei der ganzen Sache.«

»Wirklich nicht?« wiederholte sie.

»Nicht im geringsten,« erwiderte ich. »Die Gemütsbewegungen, die Sie offenbar bei mir erwartet hatten, und von denen auch ich glaubte, daß sie sich bei diesem Besuche einstellen würden, sind einfach ausgeblieben. Ich nehme alle Eindrücke in mich auf, welche die Dinge, die mich hier umgeben, in mir hervorrufen, aber ohne die erwartete Erregung. Sie können darüber nicht mehr überrascht sein, als ich selbst es bin. Seit jenem furchtbaren Morgen, wo Sie mir zu Hilfe kamen, habe ich immer versucht, jeden Gedanken an mein früheres Leben zu verbannen, ebenso wie ich es vermieden habe, hierher zu kommen, aus Furcht vor der damit verbundenen Aufregung. Ich stehe jetzt allen diesen Eindrücken gegenüber wie ein Mann, der ein beschädigtes Glied hat ruhen lassen, ohne es zu rühren, weil er fürchtete, dies werde ihm heftige Schmerzen verursachen, und der nun versucht, es zu bewegen, und dabei bemerkt, daß es gelähmt und ohne Empfindung ist.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Ihr Gedächtnis Sie verlassen hat?«

»Keineswegs. Ich erinnere mich an alles, was mit meinem früheren Leben zusammenhängt, aber ohne irgend welche lebhaftere Empfindung. Es liegt so klar vor mir, als wäre seitdem nur ein Tag verflossen; aber die Gefühle, welche durch diese Erinnerungen erregt werden, sind so abgeblaßt, als wenn das Jahrhundert, das wirklich verflossen ist, auch vor meinem Bewußtsein vorübergezogen wäre. Vielleicht giebt es auch hierfür eine einfache Erklärung. Ein Wechsel in den Umgebungen hat ähnliche Wirkungen, wie der Ablauf einer langen Zeit: beide lassen uns die Vergangenheit in weite Ferne gerückt erscheinen. Als ich zuerst aus meinem tiefen Schlafe erwachte, da erschien mir mein früheres Leben wie der gestrige Tag; jetzt aber, wo ich meine neuen Umgebungen kennen gelernt und die wunderbaren Veränderungen, welche die Welt umgestalteten, in mich aufgenommen habe, scheint es mir nicht mehr schwierig, sondern eher leicht, mir vorzustellen, daß ich ein Jahrhundert lang geschlafen habe. Können Sie sich vorstellen, daß jemand hundert Jahre in vier Tagen durchlebt? Es kommt mir wirklich so vor, als ob es mir so ergangen sei: und dieses Gefühl ist es, was mir mein früheres Leben so weit entfernt und so schattenhaft erscheinen läßt. Können Sie sich denken, wie so etwas möglich ist?«

»Ich kann es mir ganz gut vorstellen,« antwortete Edith namentlich, »und ich meine, wir sollten alle dankbar dafür sein, daß es so ist, denn es wird Ihnen sicherlich viel Leid ersparen.«

»Stellen Sie sich vor,« sagte ich, indem ich mich bemühte, mir selbst ebensowohl wie ihr meinen seltsamen Gemütszustand klarzulegen, »daß jemand von einem Verluste, der ihn betroffen hat, erst viele, viele Jahre, vielleicht ein halbes Menschenalter nach dem traurigen Ereignisse, Kenntnis erhält. Ich denke mir, sein Gefühl würde mit dem meinigen eine gewisse Ähnlichkeit haben. Wenn ich an meine nächsten Angehörigen denke, die ich in der nun so weit zurückliegenden Zeit besaß, und an den Kummer, den sie um meinetwillen ausgestanden haben müssen, so erfüllt mich eher ein stilles Mitgefühl als ein heftiger Schmerz; ich denke daran wie an etwas Trauriges, was nun schon lange, lange vorbei ist.«

»Sie haben uns noch nichts von Ihren Angehörigen erzählt,« sagte Edith. »Hatten Sie viele, die um Sie trauerten?«

»Gott sei Dank, ich hatte sehr wenige Verwandte und keine näheren als ein Paar Vettern,« erwiderte ich. »Aber es gab ein Wesen, das zwar nicht mit mir verwandt, aber mir teurer war, als irgend ein Blutsverwandter. Sie trug Ihren Namen; sie sollte damals binnen kurzem meine Frau werden. Ach –!«

»Ach!« seufzte auch Edith. »Wie traurig wird sie gewesen sein!«

Die tiefe Empfindung dieses lieben Mädchens berührte eine Saite in meinem eigenen, bisher so starren Herzen. Meine Augen, die so lange trocken geblieben waren und denen die Thränen versagt zu sein schienen, wurden feucht, und als ich meine Fassung wiedergewonnen hatte, sah ich, daß auch sie ihren Thränen freien Lauf gelassen hatte.

»Gott segne Ihr mitleidiges Herz,« sagte ich. »Möchten Sie wohl ein Bild von ihr sehen?«

Ein kleines Medaillon mit Edith Bartletts Porträt, welches mit einer goldenen Kette um meinen Hals befestigt gewesen war, hatte während des langen Schlafes auf meiner Brust gelegen; ich löste es ab, öffnete es und gab es meiner Begleiterin. Sie nahm es mit hastiger Bewegung, blickte lange auf das liebliche Angesicht und drückte es an ihre Lippen.

»Ich weiß, daß sie gut und liebenswürdig war und Ihre Thränen wohl verdiente,« sagte sie; »aber vergessen Sie nicht, daß ihr Herzeleid schon lange aufgehört hat, und daß sie schon vor fast einem Jahrhundert von der Erde geschieden ist.«

Es war in der That so. Wie lebhaft auch immer ihr Kummer gewesen sein mochte, – seit einem Jahrhundert hatte sie aufgehört zu weinen. Da schwand denn auch meine eigne leidenschaftliche Erregung und meine Thränen trockneten. Ich hatte sie in meinem früheren Leben sehr lieb gehabt; aber hundert Jahre waren darüber hingegangen! Ich weiß nicht, ob jemand in diesem Bekenntnis einen Beweis für meinen Mangel an tieferem Gefühle finden wird; aber ich denke, daß nicht leicht jemand eine Erfahrung besitzt, die der meinigen an die Seite zu stellen wäre und ihm gestatte, mit mir ins Gericht zu gehen. Als wir im Begriffe waren, das Zimmer zu verlassen, blieb mein Auge auf dem großen eisernen Geldschrank haften, der in einer Ecke stand. Ich machte meine Gefährtin auf denselben aufmerksam und sagte:

»Dies war zugleich mein Schlafzimmer und meine Schatzkammer. In dem Schranke da sind mehrere tausend Dollars in Gold und ein erheblicher Betrag in Wertpapieren. Hätte ich an jenem Abend beim Zubettegehen gewußt, wie lange mein Schlaf dauern würde, so würde ich bei mir gedacht haben, daß dieses Geld doch einen recht sicheren Rückhalt für mich abgeben werde, in welchem noch so entfernten Lande oder in welcher noch so fernliegenden Zeit ich auch erwachen sollte. Daß eine Zeit kommen könnte, wo es seine Kaufkraft verlieren werde, das wäre mir in meinen wildesten Traumphantasien nicht eingefallen. Und doch bin ich nun hier erwacht und finde mich unter einem Volke wieder, bei dem ich mir für eine Wagenladung voll Gold nicht einmal einen Laib Brot kaufen könnte.«

Natürlich gelang es mir nicht, Edith begreiflich zu machen, was denn an dieser Thatsache Wunderbares sei.

»Weshalb in aller Welt sollte man denn für Gold Brot kaufen können?« fragte sie einfach.


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