Edward Bellamy
Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
Edward Bellamy

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Neunzehntes Kapitel

Eines schönen Morgens besuchte ich Charlestown. Unter den Veränderungen, die zu zahlreich waren, um sie einzeln aufzuzählen, und die davon Kunde gaben, daß ein Jahrhundert über diesem Stadtteil dahingegangen war, fiel mir besonders auf, daß das alte Staatsgefängnis verschwunden war.

»Das wurde schon vor meiner Zeit beseitigt, aber ich erinnere mich, daß ich noch davon gehört habe,« sagte Dr. Leete, als ich beim Frühstück darauf zu sprechen kam. »Wir haben keine Gefängnisse mehr. Alle Fälle von Atavismus werden in den Spitälern behandelt.«

»Atavismus!« rief ich verwundert aus.

»Jawohl,« erwiderte Doktor Leete. »Der Gedanke, mit Strafen gegen diese Unglücklichen vorzugehen, ist vor wenigstens fünfzig Jahren, und ich glaube fast vor noch längerer Zeit, aufgegeben worden.«

»Ich verstehe Sie nicht ganz,« sagte ich. »Das Wort Atavismus brauchten wir zu meiner Zeit für Fälle, in denen bei einem lebenden Wesen ein Zug, der irgend einem entfernten Vorfahren desselben eigentümlich gewesen war, in bemerkbarer Weise wieder zum Vorschein kam. Wollen Sie sagen, daß man heutzutage das Vorkommen von Verbrechen aus einem Rückfalle in einen, dem Vorfahren eigentümlich gewesenen Zustand erkläre?«

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte Dr. Leete mit halb belustigtem, halb entschuldigendem Lächeln; »aber da Sie mich so ausdrücklich danach fragen, so muß ich gestehen, daß es sich in der That genau so verhält.«

Nach allem, was ich von dem Unterschiede zwischen den Moralvorstellungen des neunzehnten und denen des zwanzigsten Jahrhunderts mittlerweile erfahren hatte, wäre es sicherlich thöricht von mir gewesen, hierüber empfindlich zu werden; und wenn nicht Dr. Leete in so entschuldigendem Tone gesprochen hätte und Frau Leete und Edith nicht gleichfalls eine gewisse Verlegenheit gezeigt hätten, so wäre ich vielleicht nicht errötet; jetzt aber fühlte ich, daß ich rot wurde.

»Ich hatte freilich kaum eine Anlage, eitel auf die Generation zu sein, in der ich lebte,« sagte ich, »aber in der That –«

»Die jetzige Generation ist die Ihrige, Herr West,« unterbrach mich Edith. »Es ist diejenige, in der Sie leben; und nur weil auch wir in ihr leben, nennen wir sie die unsrige.«

»Ich danke Ihnen! Ich werde versuchen, ebenso von der Sache zu denken,« sagte ich; und als meine Augen den ihrigen begegneten, heilte ihr Ausdruck alsbald meine thörichte Empfindlichkeit. »Übrigens bin ich in der Calvinistischen Lehre erzogen,« sagte ich lachend, »und ich sollte deshalb gar nicht erstaunt sein, wenn man Verbrechen als Erbfehler bezeichnet.«

»In Wahrheit,« sagte Dr. Leete, »enthält der Gebrauch, den wir eben von dem Worte Atavismus machten, gar keine Anspielung auf Ihre Generation – wenn wir sie überhaupt, mit Ediths Erlaubnis, die Ihrige nennen dürfen. Es sollte damit keineswegs gesagt sein, daß wir uns, abgesehen von der Verbesserung unserer Lebensverhältnisse, für besser halten, als Sie es waren. Zu Ihrer Zeit waren volle neunzehn Zwanzigstel aller Verbrechen – wenn wir das Wort im weiteren Sinne nehmen und darunter alle Arten von Vergehen und Übertretungen einbegreifen, – durch die Ungleichheit in dem Besitzstande der Einzelnen hervorgerufen. Mangel führte den Armen in Versuchung, Gier nach größerem Gewinn oder der Wunsch, früheren Gewinn festzuhalten, verführte den Wohlhabenden. Direkt oder indirekt war der Wunsch nach Geld, welches damals gleichbedeutend mit dem Besitze aller guten Dinge war, der Beweggrund zu jeglichem Verbrechen, die Wurzel eines mächtigen Giftbaums, den der ganze große Apparat von Gesetzen, Gerichtshöfen und Polizei kaum verhindern konnte, Ihrer ganzen Civilisation den Garaus zu machen. Wir machten nun die Nation zur alleinigen Hüterin alles Reichtums und verbürgten Allen ein reichliches Auskommen: auf der einen Seite beseitigten wir allen Mangel, auf der anderen verhinderten wir die Anhäufung von Reichtümern. Dadurch schnitten wir dem Giftbaum, der Ihre ganze Gesellschaft überschattete, die Wurzel ab, und er verwelkte gleich Jonas' Kürbisranke an einem Tage. Was die verhältnismäßig kleine Anzahl von Verbrechen betrifft, die mit Gewalt gegen Personen begangen werden, ohne daß dabei Gewinnsucht mit im Spiele ist, so waren diese schon zu Ihrer Zeit ganz und gar auf die Klasse der unwissenden und vertierten Menschen beschränkt: und in unseren Tagen, wo Erziehung und gute Sitten nicht mehr das Monopol einiger Weniger, sondern Allen gemeinsam ist, hört man kaum noch von solchen Abscheulichkeiten. Sie begreifen jetzt, weshalb wir das Wort Atavismus auf Verbrechen anwenden. Es geschieht, weil beinahe für alle Arten von Verbrechen, die Sie kannten, jetzt keine Beweggründe mehr vorhanden sind, und wenn sie dennoch vorkommen, dies allein dadurch sich erklären läßt, daß man sie auf ein Hervorbrechen von Charaktereigentümlichkeiten der Vorfahren schiebt. Sie pflegten Personen, die ohne jedes vernünftige Motiv stahlen, als Kleptomanen zu bezeichnen, und hielten es, wenn der Fall klar vorlag, für thöricht, sie als Diebe zu bestrafen. Ihr Verfahren gegen notorische Kleptomanen ist genau dasselbe wie das, welches wir gegen die Opfer des Atavismus beobachten: es besteht in einer von Mitleid durchdrungenen Behandlung und fester, aber zugleich milder Zucht.«

»Ihre Gerichtshöfe,« bemerkte ich, »müssen gute Tage haben; da ist keine Rede von Privateigentum, kein Streit zwischen Bürgern über geschäftliche Angelegenheiten, kein Grundeigentum zu teilen oder Schulden einzuklagen; somit können Civilklagen eigentlich gar nicht vorkommen; und da nun ferner keine Eingriffe in das Vermögen anderer stattfinden und nur wenige Kriminalfälle abzuhandeln sind, so sollte ich meinen, Sie könnten fast ganz ohne Richter und Advokaten auskommen.«

»Advokaten brauchen wir auch nicht mehr, gewiß nicht,« war Dr. Leetes Antwort. »Es würde uns nicht vernünftig erscheinen, in einem Falle, wo das ganze Interesse der Nation darin besteht, die Wahrheit an den Tag zu bringen, Personen an dem Verfahren teilnehmen zu lassen, welche ein anerkanntes Interesse daran haben, dieselbe zu verdunkeln.«

»Aber wer verteidigt denn den Angeklagten?«

»Wenn er schuldig ist, so bedarf er keiner Verteidigung, denn er wird sich dann meistens selbst schuldig bekennen,« erwiderte Dr. Leete. »Die Erklärung des Angeklagten auf die Anklage ist bei uns nicht wie bei Ihnen eine reine Formalität, sondern auf ihr beruht gewöhnlich die Entscheidung des Falles.«

»Sie wollen wohl damit nicht sagen, daß, wenn jemand sich für unschuldig erklärt, er daraufhin freigesprochen wird?«

»Nein, das meine ich nicht. Niemand wird auf Grund leichter Verdachtsmomente angeklagt, und wenn er leugnet, so muß die Sache doch weiter untersucht werden. Aber das kommt selten vor; meistens legt der Schuldige ein Geständnis ab. Wenn er unwahrerweise leugnet, und dann schuldig befunden wird, so bekommt er die doppelte Strafe. Unwahrheit ist jedoch so verachtet bei uns, daß selten ein Übelthäter lügen wird, um sich dadurch zu retten.«

»Das ist das Erstaunlichste von allem, was Sie mir erzählt haben!« rief ich aus. »Wenn das Lügen außer Mode gekommen ist, dann haben wir ja in der That jetzt ›einen neuen Himmel und eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnet‹, wie der Prophet vorausgesagt hat.«

»Das glauben in der That heutzutage manche Leute,« war die Antwort des Doktors. »Sie glauben, daß wir im tausendjährigen Reiche angelangt sind, und von ihrem Standpunkte aus hat dieser Glaube manches für sich. Aber daß Sie so erstaunt darüber sind, daß die Welt das Lügen aufgegeben hat, dafür giebt es wirklich keinen rechten Grund. Unwahrheiten waren doch schon in Ihren Tagen unter gesellschaftlich gleichstehenden Herren und Damen etwas Ungewöhnliches. Die Lüge aus Furcht war die Zuflucht der Feigheit, die Lüge zum Zwecke des Betruges das Mittel des Schwindlers. Die ungleiche Stellung der Menschen und ihre Gier nach Erwerb setzte damals immer wieder einen Preis auf das Lügen. Dennoch verabscheuten schon damals diejenigen, die weder einander fürchteten, noch einander betrügen wollten, die Unwahrhaftigkeit. Da wir nun alle gesellschaftlich gleichstehen, niemand etwas von dem anderen zu fürchten braucht, noch von ihm etwas gewinnen kann, indem er ihn betrügt, so ist der Abscheu vor der Unwahrhaftigkeit so allgemein geworden, daß, wie gesagt, sogar jemand, der in anderer Hinsicht ein Verbrecher ist, selten sich zu einer Lüge würde bereit finden lassen. Wenn übrigens ein Angeklagter sich aufs Leugnen verlegt, so ernennt der Richter zwei Kollegen, von denen der eine die den Beschuldigten günstigen, der andere die demselben ungünstigen Momente des Falles klarzulegen hat. Wie wenig diese Männer Ihren gemieteten Advokaten und Anklägern gleichen, welche von vornherein darauf ausgehen, den Angeklagten frei zu bekommen, oder seine Bestrafung herbeizuführen, mögen Sie daraus abnehmen, daß der Fall von neuem verhandelt werden muß, wenn nicht beide übereinstimmend zu einem bestimmten Resultate gelangen. Jegliche Voreingenommenheit auch nur in dem Tone seitens eines der Richter, die den Fall klarzustellen suchen, würde als ein unerhörter Skandal angesehen werden.«

»Verstehe ich Sie recht,« sagte ich, »daß es ebensowohl ein Richter ist, der über jede der beiden Seiten des Falles plädiert, wie es ein Richter ist, der die Entscheidung abzugeben hat?«

»Gewiß. Die Richter wechseln in einem bestimmten Turnus miteinander ab; bald sitzen sie auf der Gerichtsbank, bald treten sie als Staatsanwälte oder als Verteidiger auf. Ob sie nun die eine oder die andere dieser Obliegenheiten erfüllen, immer erwartet man von ihnen die nämliche richterliche Unbefangenheit. Unser Verfahren gleicht in seiner Wirkung einer Verhandlung, an welcher drei Richter teilnehmen, von denen jeder den Fall von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachtet. Kommen sie nun alle drei zu einem und dem nämlichen Urteil, so dürfen wir wohl annehmen, daß dasselbe der absoluten Wahrheit so nahe kommt, wie Menschen dies überhaupt erreichen können.«

»Sie haben also die Geschworenengerichte abgeschafft?«

»Die Geschworenengerichte mögen ein ganz gutes Korrektiv gewesen sein, als es noch gemietete Advokaten und Gerichtspersonen gab, die mitunter käuflich waren und oft sich in abhängiger Stellung befanden; jetzt sind sie nicht mehr nötig. Bei uns ist es nicht denkbar, daß eine andere Rücksicht als die auf die Gerechtigkeit unsere Richter leiten könnte.«

»Wie werden diese Richter erwählt?«

»Sie bilden eine ehrenvolle Ausnahme von der Regel, welche alle Personen in dem Alter von fünfundvierzig Jahren von dem Arbeitsdienste befreit. Der Präsident der Nation ernennt alljährlich die erforderlichen Richter aus der Zahl derjenigen, die dieses Alter erreicht haben. Die Zahl der Ernannten ist natürlich außerordentlich gering, und die Ehre eine so hohe, daß sie die Verlängerung der Dienstzeit, die mit ihr verbunden ist, reichlich aufwiegt; und obgleich man die Ernennung zum Richter ablehnen kann, so kommt dies doch nur selten vor. Die Amtsdauer beträgt fünf Jahre, und eine Wiederernennung des Richters nach Ablauf derselben ist nicht statthaft. Die Mitglieder des ›Höchsten Gerichtshofes‹, welcher zugleich über die Verfassung zu wachen hat, werden aus der Zahl der gewöhnlichen Richter entnommen. Wenn eine Stelle in diesem Gerichte frei wird, so steht denjenigen Richtern, deren Amtsdauer sich ihrem Ende nähert, als letzter Akt ihrer Thätigkeit, die Wahl eines ihrer noch im Amte verbleibenden Kollegen zu, wobei sie demjenigen ihre Stimme geben, den sie für den fähigsten für jenen Posten halten.«

»Da es, nach dem, was ich höre, keinen Vorbereitungsdienst giebt, in welchem jemand zum Richter ausgebildet werden kann,« sagte ich, »so müssen die Richter ja direkt aus dem Rechtsunterricht auf der Universität in ihr Amt gelangen?«

»So etwas wie Unterricht in der Rechtswissenschaft giebt es bei uns gar nicht,« erwiderte der Doktor lächelnd. »Die Rechtskunde hat aufgehört, eine besondere Wissenschaft zu sein. Die alte Einrichtung der Dinge, welche selbst verkünstelt war, verlangte auch ein durchgebildetes kasuistisches Rechtssystem, das seinerseits wiederum der Interpretation bedurfte. Bei dem gegenwärtigen wirtschaftlichen System dagegen finden nur einige wenige, völlig klare und einfache Rechtssätze Anwendung. Alle Beziehungen der Menschen untereinander sind unvergleichlich einfacher geworden, als sie es in Ihren Tagen waren. Wir haben keine solche haarspaltenden Juristen mehr, wie sie in Ihren Gerichtssälen präsidierten und argumentierten. Sie müssen aber nicht glauben, daß wir deshalb vor diesen würdigen alten Herren nicht den gebührenden Respekt besitzen, weil wir für sie keine Verwendung mehr haben. Im Gegenteil, wir widmen ihnen die aufrichtigste Hochachtung, ja eine fast ehrfurchtsvolle Scheu, weil sie allein Verständnis und Fähigkeit genug besaßen, um die unendlich verwickelten Materien des Eigentumsrechtes und der durch Handels- und sonstiges Obligationenrecht geschaffenen Schuldverhältnisse zu entwirren, die Ihr Wirtschaftssystem mit sich brachte. Was kann wohl einen mächtigeren und schlagenderen Beweis für die Kompliziertheit und Verkünstelung jenes Systems geben, als die Thatsache, daß es nötig war, die intelligentesten Personen einer jeden Generation den übrigen Beschäftigungen zu entziehen, um aus ihnen ein Gelehrtenkollegium zu schaffen, dem es mit Mühe und Not gelang, das geltende Recht denen einigermaßen verständlich zu machen, deren Geschicke von demselben abhingen. Die Abhandlungen Ihrer großen Juristen, die Werke eines Blackstone und Chitty, Story und Parsons, stehen in unseren Bibliotheken neben den Bänden, welche Duns Scotus und seine scholastischen Genossen geschaffen haben, als wunderliche Denkmäler menschlichen Scharfsinns, der an Gegenstände verschwendet wurde, die in gleicher Weise weit abliegen von den Interessen des heutigen Geschlechts. Unsere Richter sind lediglich wohlunterrichtete, scharfsinnige und gewissenhafte Männer reiferen Alters.

»Ich darf nicht vergessen, einer wichtigen Aufgabe der gewöhnlichen Gerichte Erwähnung zu thun,« fügte Dr. Leete hinzu. »Diese besteht darin, in allen Streitfällen ein Urteil abzugeben, in denen ein einfacher Arbeiter sich über ungebührliche Behandlung von seiten eines Vorgesetzten beklagt. Alle diese Klagen werden, ohne daß gegen die Entscheidung ein Rechtsmittel zulässig wäre, von einem Einzelrichter erledigt. Nur in schweren Fällen werden drei Richter herangezogen. Unsere gewerbliche Thätigkeit bedarf, um gute Resultate zu ergeben, der strengsten Disciplin in der Arbeiterarmee; aber der Anspruch eines jeden Arbeiters auf gerechte und rücksichtsvolle Behandlung wird durch das Gewicht der öffentlichen Meinung der ganzen Nation unterstützt. Der Offizier befiehlt und der Arbeiter gehorcht; aber kein Offizier steht so hoch, daß er es wagen dürfte, sich in hochfahrender Weise gegen einen Arbeiter der niedrigsten Klasse zu benehmen. Grobheit oder Rohheit im Betragen irgend eines Angestellten gegenüber dem Publikum ist unter den einfachen Vergehen dasjenige, welchem am schnellsten und sichersten die Strafe auf dem Fuße folgt. Nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Höflichkeit in allen Verkehrsbeziehungen wird von unseren Richtern erzwungen. Auch die wertvollsten Dienstleistungen fallen nicht ins Gewicht, wenn sich der Betreffende eines rohen oder verletzenden Betragens schuldig macht.«

Es fiel mir auf, daß Dr. Leete bei allem, was er sagte, immer nur von der »Nation« sprach, und gar nicht von den Regierungen der einzelnen Staaten. Ich fragte deshalb, ob mit der Zusammenfassung der Nation zu einem einheitlichen Industriestaate die Einzelstaaten in Wegfall gekommen seien. »Natürlich,« antwortete er. »Die Einzelregierungen würden ein Hindernis in der Kontrole und Disciplinierung des Arbeiterheeres gewesen sein, welches einer einheitlichen und gleichförmigen Behandlung bedarf. Ja, wenn die Einzelregierungen nicht aus anderen Gründen ungeeignet geworden wären, so würden sie durch die wunderbare Vereinfachung, welche heutzutage in den Aufgaben der Staatsleitung eingetreten ist, überflüssig gemacht worden sein. Nahezu die einzige Aufgabe der Regierung ist heutzutage die Leitung des Gewerbebetriebes. Die meisten Dinge, mit denen sie früher sich beschäftigen mußte, sind jetzt in Wegfall gekommen. Wir haben keine Armee und keine Marine mehr und besitzen überhaupt keine militärische Organisation. Wir besitzen weder ein Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, noch ein Schatzamt; wir haben keine Accise und keine Belastung des Einkommens, keine Steuern und keine Steuererhebungsbehörden. Die einzige, auch zu Ihrer Zeit schon vorhandene Aufgabe der Regierung, die uns noch geblieben ist, besteht in der Verwaltung der Justiz und der Polizei. Ich habe Ihnen bereits genugsam erklärt, wie einfach im Vergleiche mit Ihrem ungeheuren und komplizierten Apparate unsere Gerichtseinrichtungen sind. Die Thatsache, daß die Versuchungen, welche zu Verbrechen anlockten, und damit die Verbrechen selbst in Wegfall gekommen sind, hat, wie erwähnt, die Aufgaben des Richteramts ganz erheblich vereinfacht, und sie hat auch die Thätigkeit der Polizei auf ein Minimum reduziert.«

»Aber, wenn es keine Gesetzgebung in den Einzelstaaten und keinen Kongreß giebt, der sich, wenn auch nur alle fünf Jahre, versammelt, wie bringen Sie dann überhaupt Gesetze zu stande?«

»Wir haben keine Gesetzgebung,« erwiderte Dr. Leete, »das heißt nahezu keine. Es kommt hin und wieder vor, daß der Kongreß, während er tagt, einige neue Gesetze in Erwägung zieht, die von Wichtigkeit zu sein scheinen. Dann darf er sie aber lediglich dem nächstfolgenden Kongresse zur Annahme empfehlen, damit nichts übereilt geschehe. Wenn Sie einen Augenblick nachdenken, Herr West, so werden Sie sehen, daß wir eigentlich nichts haben, worüber wir Gesetze machen könnten. Die Grundprinzipien, auf denen unsere Gesellschaft beruht, haben für alle Zeiten die Streitigkeiten und Mißverständnisse beseitigt, welche zu Ihrer Zeit eine Gesetzgebung nötig machten.

»Volle neunundneunzig Prozent aller Gesetze jener Zeit betrafen die Abgrenzung und den Schutz des Privateigentums und die Beziehungen zwischen Käufern und Verkäufern. Jetzt giebt es, außer an Artikeln für den persönlichen Gebrauch, kein Privateigentum mehr, und wir kennen weder ein Kaufen noch ein Verkaufen: und deshalb ist die Veranlassung zu einer Gesetzgebung, wie sie früher nötig war, fast in allen Fällen verschwunden. Zu Ihrer Zeit glich die Gesellschaft einer Pyramide, die auf die Spitze gestellt worden war: jede Schwankung in der menschlichen Natur drohte dieselbe umzustürzen, und nur durch ein wohldurchdachtes und stets der Ergänzung bedürftiges System von Stützen, Strebepfeilern und Stricken in Gestalt von Gesetzen gelang es, diese Pyramide aufrecht oder vielmehr – entschuldigen Sie das schwache Wortspiel – aufunrecht zu erhalten. Ein Gesamtkongreß und vierzig Legislaturen in den Einzelstaaten, die im Jahre an die zwanzig tausend Gesetze fabrizieren konnten, waren nicht im stande, Stützen genug herbeizuschaffen zum Ersatze für diejenigen, die alle Augenblicke brachen oder nutzlos wurden, wenn die Last, welche gegen sie drückte, sich ein wenig verschob. Jetzt dagegen ruht die Gesellschaft auf ihrer Grundfläche und bedarf so wenig wie die ewigen Berge künstlicher Stützen!«

»Aber Sie haben außer der Centralgewalt doch wenigstens städtische Verwaltungsbehörden?«

»Gewiß, und diese haben wichtige und ausgedehnte Aufgaben zu erfüllen. Sie sorgen für die Bequemlichkeit und die Erholungsbedürfnisse des Publikums, für Wohlfahrtseinrichtungen und Verschönerungen in Städten und Dörfern.«

»Aber was können sie ausrichten, da sie doch weder ein Anrecht auf die Arbeit der Bürger, noch die Mittel besitzen, sich Arbeitskräfte gegen Entgelt zu verschaffen?«

»Jede Stadt oder Gemeinde hat das Recht, für ihre eigenen öffentlichen Werke einen gewissen Bruchteil von derjenigen Arbeitsleistung, die ihre Angehörigen der Nation zu leisten haben, in Anspruch zu nehmen. Diese Arbeit, auf deren Empfangnahme der Stadt gleichsam ein Kredit eröffnet wird, kann seitens derselben in beliebiger Weise verwendet werden.«


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