Honoré de Balzac
Tante Lisbeth
Honoré de Balzac

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Kaum war der Riegel vorgeschoben, als der Brasilianer aus dem Ankleidezimmer, wo er gesteckt hatte, hervorkam. Er sah verweint und jämmerlich aus. Offenbar hatte er alles mit angehört.

»Heinrich, du liebst mich nicht mehr! Ich weiß es!« klagte Valerie, indem sie das Gesicht mit ihrem Taschentuch bedeckte und in Tränen ausbrach.

Es war ein Aufschrei echter Liebe. Die Verzweiflungslaute des Weibes sind so untrügerisch, daß sie die Verzeihung herbeizwingen, die im Herzen jedes Verliebten harrt, wenn die Geliebte jung, hübsch und in der Halbnacktheit der Gesellschaftskleidung vor ihm steht.

»Warum verläßt du denn nicht alles mir zuliebe?« fragte der Brasilianer.

Diese echt amerikanische Frage war logisch wie alles, was solche Naturburschen sagen.

»Warum?« wiederholte Valerie, indem sie sich aufrichtete und ihn liebevoll ansah. »Ja, liebes Herzchen, ich bin eine verheiratete Frau, und wir leben in Paris, nicht in den Steppen Amerikas. Bester Heinrich, meine erste und einzige Liebe, höre mich an! Mein Mann, simpler Sekretär im Kriegsministerium, will Kanzleidirektor und Ritter der Ehrenlegion werden. Kann ich ihn an seiner Streberei hindern? Siehst du, mit derselben Berechnung, mit der er uns vor vier Jahren volle Freiheit ließ – erinnerst du dich daran, du Bösewicht? –, halst er mir jetzt seinen Chef auf, den Baron Hulot. Ich kann mich des widerlichen Kanzleimenschen, der wie ein Seehund japst und Haare in den Nasenlöchern hat, nicht so ohne weiteres entledigen. Er ist dreiundsechzig Jahre alt. Seit drei Jahren ist er über zehn Jahre gealtert, aber er hält sich für ewig jung. Er ist mir so verhaßt, daß ich an dem Tage, nachdem mein Mann Kanzleidirektor und Ritter der Ehrenlegion geworden ist . . .«

Der Brasilianer unterbrach sie:

»Wieviel Gehalt wird er dann mehr bekommen?«

»Tausend Taler.«

»Ich will sie ihm lebenslänglich aussetzen!« erklärte der Marquis. »Komm, verlassen wir Paris!«

»Wohin aber?« Valerie zog ein niedliches Schmollgesicht. »Paris ist die einzige Stadt, wo wir glücklich leben könnten. Deine Liebe geht mir über alles. Ich habe keine Lust, sie nach und nach einzubüßen, bloß weil wir uns in irgendeinem öden Neste langweilen. Höre mich an, Heinrich! Du bist der einzige Mann in der ganzen Welt, den ich liebe. Schreibe dir das auf deinen Tigerschädel!«

Die Frauen reden Männern, die sie zu Schafen gemacht haben, immer ein, sie seien Löwen und hätten einen eisernen Charakter.

»Also paß mal gut auf! Mein Mann lebt keine fünf Jahre mehr. Er ist zerfressen bis ins Mark seiner Knochen. Von den zwölf Monaten im Jahr bringt er sieben damit zu, weiß der Teufel was alles einzunehmen. Er verpackt sich in Watte. Der Arzt meint, jeden Augenblick könne ihn der Schlag rühren. Die kleinste Erkältung, die einem andern Manne nicht ein bißchen schadet, ist für ihn tödlich. Sein Blut ist total verdorben, seine Lebenskraft bis in den Grund erschüttert. Seit fünf Jahren darf er mich nicht anrühren. Der Kerl ist die reine Pest. Eines Tages – und der Tag ist nicht mehr fern – bin ich Witwe. Und ich erkläre dir, ich, die ich sogar von einem Manne begehrt werde, der sechzigtausend Francs Renten besitzt und dem ich was pfeife, ich erkläre dir, und wenn du arm wie Hulot und aussätzig wie Marneffe wärest und mich schlügest wie er: daß ich dich zum Manne haben will, dich und keinen andern, weil ich dich liebe und deinen Namen tragen will! Ich bin bereit, dir jeden Liebesbeweis zu geben, den du von mir nur wünschen kannst!«

»Noch heute abend?«

»Mein lieber Jaguar, der du mir zuliebe die Urwälder Brasiliens verlassen hast«, schmeichelte sie, indem sie seine Hand erfaßte, sie küßte und streichelte, »achte doch das Geschöpf ein bißchen, das du zu deiner Frau machen willst! Soll ich das einmal werden, Heinrich?«

»Ja!« beteuerte der Brasilianer im Banne seiner sinnlosen Leidenschaft.

Er sank auf die Knie.

Valerie ergriff seine beiden Hände und schaute ihm tief in die Augen. »Schwörst du mir, Heinrich, hier in Gegenwart meiner besten und einzigen Freundin, daß du mich nach meinem Witwenjahre zur Frau nehmen willst?«

»Ich schwöre es dir!«

»Das genügt nicht. Schwöre bei den Gebeinen und dem Andenken deiner Mutter, schwöre es bei der Madonna und bei deiner ewigen Seligkeit!«

Valerie wußte, daß er diesen Schwur halten werde, selbst wenn sie in den tiefsten Schmutz der menschlichen Gesellschaft sänke.

Der Brasilianer legte den Eid feierlich ab, indem er mit seinem Gesicht die bloße Brust Valeries leise berührte. Seine Augen flammten. Er befand sich in einem Rausche, wie er einen Mann überkommt, wenn er eine geliebte Frau wiedersieht, der zuliebe er vom andern Ende der Welt hergeeilt ist.

»Nun sei aber friedlich! Ehre in Frau Marneffe die einstige Marquise von Montejanos! Und keinen roten Heller gibst du für mich aus. Ich verbiete dir das! Bleibe hier im ersten Zimmer, und leg dich da auf das kleine Sofa. Ich werde selber kommen und dich benachrichtigen, wenn du deinen Posten verlassen kannst. Morgen werden wir zusammen frühstücken, und um ein Uhr wirst du gehen, als hättest du mir einen Mittagsbesuch gemacht. Habe keine Angst! Die Pförtnersleute sind mir treu wie Gold. Jetzt muß ich aber hinunter, den Tee bereiten.«

Sie machte Lisbeth ein Zeichen, worauf diese sie zur Treppe geleitete.

»Dieser Schwarzkopf ist etwas zu zeitig wiedergekommen«, flüsterte sie draußen der alten Jungfer ins Ohr. »Ich muß dich erst an Hortense rächen!«

»Sei ruhig, geliebter kleiner Teufel!« beschwichtigte Lisbeth sie, indem sie die Freundin auf die Stirn küßte. »Liebe und Rache vereint sind unbesiegbar! Hortense erwartet mich morgen. Sie ist in elender Lage. Um in den Besitz von tausend Francs zu kommen, wird dich Stanislaus tausendmal küssen!«

 

Als Hulot Valerie verlassen hatte, war er bis zur Wohnung des Pförtners hinuntergestiegen.

»Frau Olivier!«

Der Befehlston Hulots und die Geste dazu jagte die Gerufene aus ihrem Stübchen.

»Sie wissen«, begann der Baron, »wenn irgend jemand Ihrem Sohne seine Karriere fördern kann, so bin ich es. Mir verdankt er es, daß er jetzt dritter Schreiber beim Notar ist und daß er seine juristische Ausbildung vollenden kann.«

»So ist es, Herr Baron, und darum kann sich der Herr Baron auf unsere Dankbarkeit verlassen. Jeden Tag bete ich zum lieben Gott um das Wohlergehen des Herrn Baron.«

»Schon gut, liebe Frau«, meinte Hulot, »nicht so viel Worte! Taten beweisen!«

»Was soll ich tun, Herr Baron?« fragte die Frau.

»Heute abend ist ein Herr in einem Wagen gekommen. Kennen Sie ihn?«

Frau Olivier hatte den Brasilianer sehr wohl wiedererkannt. Wie hätte sie ihn auch vergessen können? Hatte er ihr doch ehedem in der Rue du Doyenné jedesmal beim Gehen aus dem Hause einen Taler in die Hand gedrückt. Es war meist frühmorgens gewesen. Hätte sich Hulot an ihren Mann gewandt, so hätte er vielleicht alles erfahren. Aber er schlief bereits. In den unteren Volksklassen ist die Frau dem Manne nicht nur geistig überlegen, sondern sie beherrscht ihn fast immer. Schon seit langem hatte Frau Olivier für den möglichen Fall eines Zusammenstoßes ihrer beiden Wohltäter ihren Entschluß gefaßt. Sie hielt Frau Marneffe für die stärkere der beiden Mächte.

»Ob ich ihn kenne?« fragte sie. »Bei Gott, ich habe ihn niemals gesehen!«

»Was sagen Sie? Den Vetter der Frau Marneffe? Hat er sie denn nie besucht, als sie noch in der Rue du Doyenné wohnte?«

»Ach, der Vetter von Frau Marneffe!« rief Frau Olivier. »Ja, vielleicht ist er da schon einmal dagewesen. Aber wiedererkannt habe ich ihn nicht. Das nächste Mal will ich Achtung geben, Herr Baron!«

»Wenn er herunterkommt . . .«, sagte Hulot.

»Er ist schon fort!« unterbrach sie ihn. Mit einem Male war ihr alles klar. »Der Wagen steht ja auch nicht mehr da.«

»Haben Sie ihn fortgehen sehen?«

»Ganz gewiß! Er rief dem Kutscher zu: Nach der Gesandtschaft!«

Die sichere Art der Frau entlockte dem Baron einen Seufzer der Erleichterung. Er drückte ihr die Hand.

»Ich danke Ihnen, beste Frau Olivier! Ich möchte noch etwas wissen. Sagen Sie einmal: Was ist das mit Herrn Crevel?«

»Herr Crevel? Was sollte über ihn zu sagen sein, Herr Baron? Ich verstehe das nicht.«

»Passen Sie nur auf! Er hat etwas mit Frau Marneffe . . .«

»Gott bewahre, Herr Baron! Ganz unmöglich!«

Frau Olivier stemmte die Hände in die Hüften.

»Er hat eine Liebelei mit Frau Marneffe!« wiederholte der Baron herrisch. »Wie stehen sie sich? Ich weiß es nicht, aber ich will es wissen, und zwar durch Sie! Wenn Sie mich dieser Intrige auf die Spur bringen, wird Ihr Junge Notar!«

»Herr Baron, Sie sind sozusagen eifersüchtig«, sagte Frau Olivier. »Die gnädige Frau liebt Sie und keinen andern. Ihr Kammermädchen weiß es genau. Ich sage Ihnen, Sie sind der glücklichste Mensch von der Welt, wenn Sie wissen, was die gnädige Frau wert ist. Eine unvergleichliche Frau! Alle Tage steht sie um zehn Uhr auf; eine Stunde braucht sie zum Anziehen. Um eins geht sie in den Tuilerien vor aller Welt spazieren. Um vier Uhr kehrt sie immer zurück, zu der Zeit, wo Sie kommen. Das geht alles Tag für Tag nach dem Glockenschlage. Sie hat keine Geheimnisse vor ihrem Kammermädchen, und die hat keine vor mir. Sie sehen also: wenn die gnädige Frau mit Herrn Crevel was hätte, müßten wir es wissen!«

Strahlenden Gesichts stieg der Baron wieder hinauf in die Marneffesche Wohnung, überzeugt, der einzige Geliebte der schändlichen Dirne, der ebenso schönen und trügerischen Sirene zu sein.

Crevel und Marneffe begannen eben ihre zweite Partie. Crevel verlor. Sehr natürlich, denn er war nicht bei der Sache! Marneffe, der den Grund von Crevels Zerstreutheit wußte, zog unbedenklich seinen Nutzen daraus, indem er sich die abgehobenen Karten ansah, Karten beiseite schob und dem Gegner in die Karten schielte. Auf die Weise spielte er mit Erfolg und hatte dem Bürgermeister bereits dreißig Francs abgenommen, als der Baron wieder eintrat.

»Ihr seid ja allein!« sagte Hulot, erstaunt, niemanden weiter vorzufinden. »Wo sind die anderen?«

»Deine gute Laune hat sie von dannen gejagt!« meinte Crevel.

»Sie meinen wohl die Ankunft des Vetters meiner Frau?« bemerkte Marneffe. »Die Damen und Herren haben geglaubt, Valerie und Heinrich hätten sich viel zu erzählen, weil sie sich drei Jahre nicht gesehen haben, und so sind sie rücksichtsvoll allesamt gegangen. Wenn ich zur Stelle gewesen wäre, hätte ich niemanden weggelassen. Ich hätte damit zwar etwas Dummes angerichtet, denn Tante Lisbeth ist unwohl und hat das ganze Haus in Aufruhr gebracht . . .«

»Fehlt ihr ernstlich etwas?« fragte Crevel ärgerlich.

»Man hat es gesagt«, warf Marneffe mit der Gleichgültigkeit eines Mannes hin, für den die Frauen nicht mehr vorhanden sind.

Crevel blickte auf die Standuhr. Nach seiner Rechnung hatte der Baron vierzig Minuten bei Tante Lisbeth verweilt. Hulots freudiges Gesicht zeugte schwer gegen Hektor, Lisbeth und Valerie.

»Der armen Lisbeth geht es gar nicht gut. Ich war eben bei ihr«, berichtete Hulot.

»Leid anderer ist deine Lust, lieber Freund!« sagte Crevel bissig. »Du bist nämlich mit einem Gesicht voll eitel Freude wiedergekommen. Lisbeth liegt wohl im Sterben? Deine Tochter soll sie ja beerben. Man kennt dich nicht wieder! Mit der Miene des Mohren von Venedig bist du gegangen, und mit der eines Saint-Preux kehrst du wieder! Da möchte ich erst einmal das Gesicht von Frau Marneffe sehen . . .«

»Was meinen Sie mit Ihren Worten?« fragte Marneffe den Bürgermeister, indem er seine Karten zusammenschob und vor sich auf den Tisch legte.

Die erloschenen Augen dieses mit siebenundvierzig Jahren abgelebten Mannes flammten auf, und etwas wie Farbe belebte seine schlaffen blutlosen Wangen. Er öffnete die schwarzen Lippen seines zahnlosen Mundes, aus dem weißer Schaum trat. Die Wut des kraftlosen Mannes, dessen Leben nur noch an einem Faden hing, erschreckte Crevel.

»Ich habe gesagt«, entgegnete Crevel, »ich möchte einmal Frau Marneffes Gesicht sehen. Ich habe um so mehr Anlaß, da das Ihrige in dem Augenblick ganz abscheulich aussieht. Auf Ehrenwort, verehrter Marneffe, Sie sind toll häßlich!«

»Wissen Sie, daß Sie unhöflich sind?«

»Ein Mensch, der mir in vierzig Minuten dreißig Francs abgewinnt, kommt mir niemals schön vor«, lenkte Crevel ein.

»Ach so!« bemerkte Marneffe. »Sie hätten mich vor siebzehn Jahren sehen sollen!«

»Waren Sie da ein hübscher Kerl?«

»Das war ja mein Unglück! Hätte ich ausgesehen wie Sie, wäre ich heute Bürgermeister und wer weiß was.«

»Jawohl«, spottete Crevel, »Sie sind zu tätig gewesen! Und von den beiden Metallen, die Merkur den Menschen spendet, haben Sie das falsche erwischt, das aus der Apotheke!«

Er lachte laut auf. Wenn sich Marneffe auch ärgern konnte, wenn man seiner Ehre zu nahe trat, derbe und gemeine Stammtischwitze nahm er nie übel. Das war die Scheidemünze in der Unterhaltung zwischen ihm und Crevel.

»Es ist wahr, Frau Venus ist mir schlecht bekommen. Meinetwegen! Kurz, aber gründlich! Das ist mein Wahlspruch.«

»Lang und lustig – ist mir lieber!« sagte Crevel.

Frau Marneffe trat ein. Als sie ihren Mann mit Crevel am Spieltisch, den Baron daneben und alle drei allein sah, erkannte sie lediglich aus den Mienen des ehrsamen Bürgermeisters die Lage.

Sofort wußte sie, was zu tun war.

»Marneffe, mein Liebling!« sagte sie, indem sie sich auf ihres Mannes Schulter stützte und ihm mit ihren hübschen Fingern durch das häßlich graue Haar fuhr, das den Kopf bei weitem nicht mehr deckte. »Es ist recht spät für dich! Du solltest schlafen gehen. Du weißt, morgen mußt du einnehmen. Der Doktor hat es verordnet. Um sieben Uhr wird dir Regina die Kräutersuppe bringen. Wenn dir dein Leben lieb ist, so hör auf zu spielen.«

»Noch fünf Points!« schlug Marneffe vor.

»Einverstanden! Zwei davon habe ich bereits!« bemerkte Crevel.

»Wie lange wird das dauern?« fragte Valerie.

»Zehn Minuten«, gab ihr Mann zur Antwort.

»Es ist bereits elf Uhr«, sagte Valerie. »Herr Crevel, Sie scheinen es auf das Leben meines Mannes abgesehen zu haben! Beeilen Sie sich wenigstens!«

Der doppelte Sinn ihrer Worte belustigte Crevel und Hulot und selbst Marneffe. Valerie begann mit Hektor zu plaudern.

»Geh, Liebster!« flüsterte ihm Valerie ins Ohr. »Geh die Rue Vanneau hin und her. Wenn du Crevel fortgehen siehst, kommst du zurück.«

»Ich möchte lieber den Salon verlassen und durch dein Ankleidezimmer in dein Zimmer gehen. Du könntest Regina sagen, daß sie mir die Tür aufschließt.«

»Regina pflegt Tante Lisbeth.«

»So! Da werde ich einmal hinaufgehen.«

Valerie war in großer Gefahr. Sie sah eine Auseinandersetzung mit Crevel voraus. Hulot durfte nicht in ihrem Zimmer sein, wo er alles hören konnte. Und oben wartete ja der Brasilianer.

»Tatsächlich, wenn ihr Männer euch einmal irgendwas eingebildet habt, dann rennt ihr mit dem Kopf gegen die Wand«, sagte Valerie. »Lisbeths Zustand erlaubt ihr nicht, Besucher anzunehmen. Du hast wohl Angst, dir auf der Straße den Rheumatismus zu holen. Geh oder – gute Nacht!«

»Ich empfehle mich, meine Herren!« sagte der Baron mit lauter Stimme. An der Achillesferse des alten Mannes getroffen, wollte er beweisen, daß er noch Jüngling genug sei, um in der nächtlichen Straße einer Schäferstunde zu harren. Er ging.

Marneffe sagte seiner Frau gute Nacht. Er gab ihr dabei in demonstrativer Zärtlichkeit beide Hände. Valerie drückte ihm eine in einer ganz bestimmten Weise, was besagen sollte: Schaff mir den Crevel vom Halse!

»Gute Nacht, Crevel!« sagte er darauf. »Ich hoffe, Sie halten Valerie nicht lange auf. Ich bin nämlich eifersüchtig. Das ist bei mir ein bißchen spät gekommen, aber nun ist es da. Ich werde nach einer Weile nachsehen, ob Sie fort sind.«

»Wir haben geschäftliche Angelegenheiten zu besprechen, aber ich werde schnell machen.«

»Sprich leise!« mahnte Valerie. »Was willst du?« Sie sprach unsicher und betrachtete Crevel mit einer Miene, in der sich Unnahbarkeit und Verachtung paarte. Angesichts dieser Geringschätzung wurde Crevel, der Valerie beträchtliche Dienste erwiesen hatte und das gern herausstrich, doch demütig und unterwürfig.

»Der Brasilianer . . .«, fing er an, blieb aber stecken, als er merkte, wie scharf und hochmütig Valerie ihn ansah.

»Weiter!« drängte sie.

»Dieser Vetter . . .«

»Er ist gar kein Vetter von mir«, sagte sie, »nur vor der Gesellschaft und vor Marneffe. Und selbst wenn er mein Geliebter wäre, müßtest du ganz still sein. Ein Krämer, der sich eine Frau erkauft, bloß um sich an einem Manne zu rächen, steht in meiner Achtung tief unter dem, der sie sich aus Liebe erschachert. Du warst in mich nicht verliebt, du sahst in mir die Mätresse des Barons von Hulot, und du hast mich gekauft, wie sich ein anderer eine Pistole kauft, um seinen Gegner niederzuknallen. Ich hatte Hunger, ich machte mit.«

»Du hast den Vertrag aber noch nicht völlig erfüllt!« widersprach Crevel, in dem der Kaufmann erwachte.

»So? Du willst, Hulot solle erfahren, daß du ihm seine Geliebte ausgespannt hast als Revanche für die Wegkaperung der Josepha? Nichts beweist mir mehr deine Gemeinheit. Du gibst vor, eine Frau zu lieben; du behandelst sie wie eine Fürstin und willst sie doch nur entehren! Aber freilich, mein Verehrter, du hast vollkommen recht. Ich stehe tief unter Josepha. Dieses Weib hat den Mut zur Schande, während ich eine Heuchlerin bin, wert, öffentlich ausgepeitscht zu werden. Josepha schützt sich durch ihre Künstlerschaft und ihr Geld. Mein einziger Schutz ist das Firmenschild der anständigen Frau. Ich gelte als ehrbare brave Bürgersgattin. Wenn du einen Skandal verursachst, was bin ich dann? Wenn ich wenigstens Vermögen besäße. Aber ich besitze zur Zeit höchstens fünfzehntausend Francs Rente. Mehr ist es doch nicht?«

»Viel mehr!« berichtigte Crevel. »Ich habe in den letzten Monaten deine Einkünfte durch Spekulationen verdoppelt.«

»Mag sein, aber in Paris beginnt das Ansehen erst bei fünfzigtausend Francs Rente. Du kannst mir keine genügende Geldentschädigung für die gesellschaftliche Stellung geben, die ich verlieren werde. Was war mein Ziel? Marneffe zum Kanzleidirektor zu machen. Dann bekäme er sechstausend Francs Gehalt. Er ist siebenundzwanzig Jahre im Amt. In drei Jahren hätte ich Anspruch auf fünfzehnhundert Francs Pension, wenn er stürbe. Ich habe dich mit Güte überschüttet; du schwimmst im Glück, und doch verstehst du nicht zu warten! Und das nennt sich Liebe!«

»Wenn ich auch aus Berechnung angefangen habe: ich bin doch dein treuestes Schäfchen geworden!« warf Crevel ein. »Du aber hast mein Herz mit Füßen getreten, hast mich malträtiert, vor den Kopf gestoßen. Und ich liebe dich, wie ich noch nie geliebt habe! Valerie, ich liebe dich genauso wie meine Cölestine! Deinetwegen bin ich zu allem fähig. Also gut! Bisher trafen wir uns zweimal in der Woche in der Rue du Dauphin. Komm fortan dreimal hin!«

»Sapperlot! Du wirst wieder jung, Verehrter!«

»Laß mich Hulot wegschicken, ihn demütigen, dich ihm ganz wegnehmen!« bat Crevel, ohne ihre Unverschämtheit zu beachten. »Jag den Brasilianer zum Teufel und sei einzig mein! Du sollst es nicht zu bereuen haben. Zunächst würde ich dir achttausend Francs Rente eintragen lassen, aber auf Lebenszeit! Das Kapital soll dir nach fünfjähriger Treue gehören . . .«

»Ewig dieser Schacher! Ein Spießbürger lernt niemals schenken! Du willst wohl mit deinen Renteneintragungen gewissermaßen Liebesetappen einrichten? Du Krämerseele! Du Pomadenhändler! Du etikettierst alles. Hektor hat mir erzählt, der Herzog von Hérouville habe seiner Josepha dreißigtausend Francs Rentenverschreibung in einer Bonbonniere gebracht. Ich bin zehnmal mehr wert als Josepha . . . Ach ja, die Liebe!«

Sie stellte sich vor den Spiegel und ordnete sich das Haar. »Heinrich liebt mich. Er würde dich auf meinen leisesten Wink hin aufspießen wie einen Laubfrosch. Hulot liebt mich. Er läßt seine Frau verhungern . . . Gehen Sie, seien Sie ein braver Familienvater, Verehrtester! Sie besitzen neben Ihrem eigentlichen Vermögen dreihunderttausend Francs, um dumme Streiche zu machen, eine Art vergrabenen Schatz, und haben nichts im Kopfe, als ihn zu vermehren.«

»Für dich, Valerie! Ich biete dir die Hälfte davon an.«

Er sank vor ihr nieder. In dem Augenblick erschien Marneffe im Schlafanzug.

»Was, Sie sind immer noch da? Was machen Sie denn?«

»Er bittet mich um Verzeihung, Schatz, weil er mir soeben einen schmutzigen Antrag gemacht hat. Da er so nichts bei mir erreicht, versucht der Herr mich zu erschachern!«

Crevel wäre am liebsten durch eine Versenkung in den tiefsten Keller hinabgesunken.

»Erheben Sie sich, mein lieber Crevel!« meinte Marneffe belustigt. »Das ist ja lächerlich. Ich sehe es Valerie an der Nasenspitze an, daß mir hier keine Gefahr droht!«

»Geh in dein Bett und schlaf friedlich!« sagte Valerie.

Sie ist schlau! dachte Crevel bei sich. Sie hat mich aus der Klemme gezogen!

Als Marneffe wieder verschwunden war, ergriff Crevel Valeries Hände und küßte sie unter Tränen.

»Alles für dich!« sagte er.

»Das ist Liebe!« flüsterte sie ihm zu. »Also Liebe um Liebe! Hulot lauert unten auf der Straße. Der alte Esel wartet darauf, wieder heraufkommen zu dürfen, sobald ich eine brennende Kerze in eins meiner Schlafstubenfenster stelle. Ich erlaube dir, ihm mitzuteilen, daß du mein einziger Geliebter seist. Er wird dir natürlich nicht glauben. Führe ihn nach der Rue du Dauphin! Zeige ihm Beweise! Drücke ihn nieder! Ich erlaube dir's! Ich befehle dir's! Diese Seerobbe langweilt mich, bringt mich zur Verzweiflung. Halte deinen Kumpan die ganze Nacht in der Rue du Dauphin auf! Morde ihn stückweise! Räche dich für den Raub der Josepha! Vielleicht stirbt er daran. Dann retten wir seine Frau und seine Kinder vor einem gräßlichen Untergang. Frau von Hulot fristet ihr Leben bereits durch Handarbeiten . . .«

»Was! Die arme Frau! Beim Teufel, das ist hart!« rief Crevel, dessen angeborene Gutmütigkeit wieder Raum gewann.

»Wenn du mich liebst, Cölestin«, flüsterte sie ihm ins Ohr, so daß er ihre warmen Lippen spürte, »dann halte den Baron zurück! Sonst bin ich verloren. Marneffe hat Verdacht geschöpft. Hektor hat den Hausschlüssel und rechnet darauf zurückzukommen.«

Crevel drückte Valerie an sich. Glückberauscht ging er. Sie geleitete ihn zärtlich an die Treppe. Wie hypnotisiert stieg sie die Treppe zum ersten Stock mit hinunter und wollte noch weitergehen.

»Valerie! Geh zurück! Kompromittiere dich nicht vor den Portiersleuten!« warnte Crevel besorgt. »Geh, du mein Alles, mein Glück! Was mein ist, soll dein sein! Geh, meine Prinzessin!«

»Frau Olivier!« rief Valerie leise, als die Haustür wieder geschlossen war.

»Ach, die gnädige Frau ist's?« fragte Frau Olivier überrascht.

»Schieben Sie den Riegel oben und unten vor! Machen Sie nicht wieder auf!«

»Gewiß, gnädige Frau!«

Nachdem sie alles fest verschlossen hatte, berichtete Frau Olivier den gegen Valerie gerichteten Bestechungsversuch des Barons.

»Sie haben sich musterhaft benommen, liebe Frau Olivier. Morgen werden wir weiter darüber sprechen.«

Wie im Fluge erreichte Valerie den dritten Stock, klopfte dreimal an Lisbeths Tür und huschte dann zurück in ihre Wohnung, wo sie ihrer Jungfer Befehle gab. Einen Montes, der aus Brasilien kommt, läßt keine Frau sitzen!

Sapperlot, sagte sich Crevel, nur eine Dame der Gesellschaft kann so lieben! Als sie mich die Treppe hinuntergeleitete, da haben ihre Augen richtig geleuchtet. Ich habe sie entflammt. Josepha ist gar nichts dagegen, Ausschuß! Der ehemalige Kommis begann laut zu sprechen. »Was habe ich gesagt? Ausschuß! Das Wort ist nicht gerade salonfähig. Na ja. Valerie muß mich ein bißchen erziehen, sonst entgleise ich immer wieder. In den Tuilerien darf ich einmal nicht so reden! Und ich will doch ein Grandseigneur werden! Nein, diese Frau! Es geht mir durch Mark und Knochen, wenn sie mich so kalt anguckt! Und ihre Grazie! Ihre Geistesgegenwart! Josepha hat mich niemals so aus dem Häuschen gebracht. Und alle ihre Vorzüge kenne ich noch nicht einmal . . . Halt! Da steht ja mein Mann!«

Im Dunkel der Rue de Babylone sah er die lange Gestalt des Barons, der, ein bißchen geduckt, an der Bretterwand eines Neubaus hinschlich. Crevel ging geradenwegs auf ihn zu.

»Guten Morgen, Baron. Der neue Tag ist nämlich schon losgegangen. Verehrter! Zum Donnerwetter, was machst du denn hier? Du promenierst ein bißchen im Sprühregen? Bei deinem Alter ist das nicht gerade gesund. Soll ich dir einen Vorschlag machen? Wir wollen beide nach Hause gehen. Denn, unter uns gesagt, die Kerze im Fenster kriegst du heute nicht zu sehen . . .«

Bei dieser Anspielung spürte Hulot mit einem Male seine dreiundsechzig Jahre und daß sein Mantel regenfeucht geworden war.

»Woher weißt du das?« fragte er.

»Von Valerie natürlich! Von unserer Valerie! Das heißt von nunmehr einzig und allein meiner Valerie! Wir sind quitt, Baron! Du darfst dich darüber nicht ärgern. Du weißt doch, daß ich mir seinerzeit das Recht auf Rache vorbehalten habe. Du hast ein Vierteljahr gebraucht, um mir Josepha auszuspannen. Na und ich, ich habe Valerie herumgekriegt in . . . aber das ist ja eine Sache für sich. Jetzt will ich sie ganz für mich haben, aber wir bleiben dennoch gute Freunde!«

»Crevel, mach keine Witze!« entgegnete der Baron mit wuterstickter Stimme. »Es handelt sich um Leben oder Tod!«

»Nimm es nur nicht gleich tragisch, Baron! Erinnerst du dich, daß du mir an Hortenses Hochzeitstag gesagt hast: ›Ist das eine Sache, daß zwei alte Sünder wie wir beide sich einer Schürze wegen entzweien? Das ist kleinlich. Spießbürger machen das so.‹ Einverstanden! Wir machen es wie im Ancien régime. Pompadour! Marschall Richelieu! Rokoko! Ja, ich wage es zu sagen: Liaisons dangereuse!«

Crevel hätte in diesem literarischen Stil noch lange fortfahren können. Hulot hörte unbeweglich zu. Aber als der Sieger im Scheine einer Laterne das fahlgewordene Gesicht seines Feindes sah, hielt er inne, Hulot war nach den Beteuerungen der Frau Olivier und nach Valeries Blick beim Abschiednehmen mit einem Male wie vom Donner gerührt.

»Du mein Gott!« rief er endlich aus. »Es gibt in Paris soviel andere Frauen . . .«

»Dasselbe habe ich dir gesagt, als du mir Josepha genommen hast!« entgegnete Crevel.

»Höre mich an, Crevel! Das ist unmöglich! Gib mir Beweise! Hast du, wie ich, einen Hausschlüssel?«

Wieder vor dem Hause angelangt, steckte der Baron seinen Schlüssel ins Schlüsselloch; aber die Tür ging nicht auf, und er versuchte vergeblich, sie zu öffnen.

»Keine nächtliche Ruhestörung!« riet Crevel gemütlich. »Ich sage dir, Baron, ich besitze bessere Schlüssel zur Geschichte als deiner da . . .«

»Beweise! Beweise will ich!« wiederholte Hulot, maßlos erregt und fast wahnsinnig vor Schmerz.

»Komm mit! Ich will sie dir geben!«

Valeries Weisung gemäß führte Crevel den Baron den Kai entlang durch die Rue Hillerin-Bertin. Dem unglücklichen Staatsrate war zumute wie einem Kaufmann am Tage, ehe er seinen Konkurs anmelden muß. Er verlor sich in Vermutungen über den Anlaß der tief in Valeries Herzen verborgenen Entfremdung; er nahm an, das Opfer irgendeiner Mystifikation zu sein. Als er über den Pont-Royal ging, dünkte ihm sein Dasein so inhaltlos, so abgewirtschaftet, dabei so finanziell in Unordnung, daß er nahe daran war, einem bösen Drange nachzugeben: Crevel in den Fluß zu stürzen und dann selber hineinzuspringen.

In der Rue du Dauphin angekommen, die damals noch nicht verbreitert war, blieb Crevel vor dem Nebeneingang eines alten Hauses stehen. In diesem Gelände, dessen Eigentümer Crevel war und das ganz eigentümlich gebaut war, hatte er eine kleine Parterrewohnung von drei Zimmern: Salon, Eß- und Schlafzimmer. Dieses Nestchen, das zwei verschmitzte Zugänge hatte, war fast unauffindbar. Die Hausmannsfrau, von Crevel besonders besoldet, war nebenbei eine ausgezeichnete Köchin. Crevel konnte die Wohnung zu jeder Nachtstunde betreten und wieder verlassen, ohne irgendwelche Spionage befürchten zu müssen. Am Tage riskierte eine Dame, wenn sie nur so gekleidet war wie die Pariserinnen, die Einkäufe machen wollen, und wenn sie einen Schlüssel hatte, gar nichts, wenn sie Crevel besuchte.

Als Crevel den Kronleuchter des Salons angezündet hatte, war der Baron angesichts des hier entfalteten koketten und erlesenen Luxus ganz starr. Der ehemalige Kaufmann hatte den alten Architekten Grindot frei walten lassen. Er hatte ein kleines Paradies im Pompadourstil geschaffen, das übrigens sechzigtausend Francs kostete.

Der Auftraggeber hatte zu dem Künstler gesagt: »Eine Fürstin, die hier eintritt, soll überrascht sein!«

Er wollte seine Ninon, seine Dame der Gesellschaft, seine Valerie, seine Prinzessin im schönsten Pariser Eden besitzen.

»Es sind zwei Betten da«, sagte Crevel zu Hulot, indem er auf einen zum Bett umwandelbaren Diwan hinwies, »eins da, das andere im Schlafzimmer! Wir können also beide die Nacht hierbleiben.«

»Die Beweise!« drängte der Baron.

Crevel ergriff einen Leuchter, zündete ihn an und führte seinen Freund in das Schlafzimmer, wo auf einer Chaiselongue ein Hauskleid lag. Hulot erkannte es als Valerie gehörig; sie hatte es in der Rue Vanneau getragen, um Staat damit zu machen, ehe es in dieser Dependance Crevels seine Verwendung finden sollte. Dann öffnete Crevel das Geheimfach eines hübschen kleinen Schreibtisches mit eingelegter Arbeit, suchte darin, nahm einen Brief und reichte ihn dem Baron: »Da! Lies!«

Der Staatsrat las das kleine Briefchen in Bleistiftschrift:

»Ich habe vergeblich auf Dich gewartet, alter Bummler. Weißt Du, ein Mann wie Du hat eine Frau wie mich nicht warten zu lassen! Es ist nichts zu essen da. Nicht einmal Zigaretten. Warte nur!«

»Ist es ihre Handschrift?«

»Bei Gott!« murmelte Hulot, indem er sich kraftlos niederließ. »Ich kenne alle ihre Sachen wieder. Da stehen ihre Hausschuhe. Sage mir, seit wann . . .«

Crevel machte ein Zeichen, daß er ihn verstanden habe, und holte ein Bündel Rechnungen aus dem Schreibtisch.

»Hier, alter Junge! Im Dezember 1838 habe ich die Einrichtung bezahlt. Acht Wochen vorher ist dieses köstliche Nestchen bezogen worden.«

Hulot sank in sich zusammen.

»Zum Donnerwetter! Wie hat sie das nur angefangen! Ich kenne doch ihre Zeiteinteilung Stunde auf Stunde!«

»Der tägliche Spaziergang in den Tuilerien?«

Crevel rieb sich vergnügt die Hände.

»Wieso?« fragte Hulot verdutzt.

»Deine sogenannte Geliebte spaziert nach den Tuilerien. Sie soll da von ein bis vier Uhr lustwandeln. Scheibenschießen! In der Zeit war sie meistens hier!«

Hulot, der an nichts mehr zweifeln konnte, verharrte in düsterem Schweigen. Katastrophen machen kluge und starke Menschen immer zu Philosophen. Der Baron aber war, moralisch betrachtet, wie einer, der nachts in einem Walde nach dem Wege sucht.

Seine trübsinnige Schweigsamkeit, die Veränderung, die auf seinem eingefallenen Gesicht vor sich ging, alles das beunruhigte Crevel. Den Tod seines Genossen wollte er nicht.

»Wie gesagt, alter Junge«, begann er von neuem, »wir sind quitt! Pfeifen wir auf die Frauen! Oder bringst du das nicht fertig?«

Als ob Hulot mit sich selber spräche, murmelte er:

»Von zehn Frauen sind immer sieben verdorben! Warum wohl?«

Er war fassungslos, um die Lösung dieses Problems zu finden.

»Du brauchst gar nicht zu jammern, lieber Kollege«, tröstete Crevel. »Du hast ja zu Hause die schönste Frau. Und tugendhaft ist sie auch.«

»Ich verdiene mein Schicksal«, klagte Hulot. »Ich habe meine Frau nicht schätzen wollen, habe sie leiden lassen. Sie ist ein himmlisches Geschöpf! Arme Adeline, du bist gerächt! Sie leidet, einsam, stumm, verehrungswürdig. Sie verdient, von mir geliebt zu werden. Ich sollte . . . Noch ist sie begehrenswert, schön und ewig jung. Und keine ist gemeiner, schamloser und lasterhafter als diese Valerie!«

»Eine Drohne«, ergänzte Crevel, »eine Intrigantin, die öffentlich ausgepeitscht werden sollte! Eine aus dem achtzehnten Jahrhundert. Eine Pompadour! Eine Dubarry! Der Teufel soll mich holen!«

Hulot hörte nicht auf Crevel.

»Was muß man tun, um Liebe zu finden?« philosophierte er.

»Dummheit ist es für unsereinen, Liebe zu erwarten, Verehrter!« antwortete ihm Crevel. »Wir werden höchstens geduldet. Die Marneffe ist noch hundertmal gerissener als Josepha . . .«

»Und habgieriger! Sie hat mich hundertzweiundneunzigtausend Francs gekostet . . .«

»Und wieviel Centimes?« fragte Crevel mit der Frechheit des Geldmenschen. Er fand die Summe gering.

»Man sieht so recht, daß du überhaupt nicht lieben kannst«, meinte der Baron melancholisch.

»Ich! Na, ich denke doch!« versetzte Crevel. »Mehr als dreihunderttausend Francs habe ich für sie ausgegeben!«

»Was soll nun werden?« sagte der Baron verzweifelt.

»Wenn wir uns beizeiten verständigt hätten wie Studenten, die sich zusammen irgendein kleines Ladenmädel aushalten, dann wäre die Geschichte billiger für uns geworden.«

»Sehr richtig! Aber auch dann hätte sie uns hintergangen. Mein Lieber, was hältst du von dem Brasilianer?«

»Hm! Alter Junge, du hast recht! Man hat uns mitgespielt wie . . . wie Aktionären«, sagte Crevel. »Alle diese Weiber sind sozusagen Aktiengesellschaften . . .«

»Hat sie dir wirklich von dem Licht im Fenster erzählt?«

»Natürlich!« Crevel nahm seine Attitüde an. »Lieber Kerl, wir sind die Dummen gewesen. Jetzt wird mir alles klar. Sie hat mir befohlen, dich hier festzuhalten. Weißt du warum? Ihr Brasilianer ist bei ihr! Valerie ist eine . . . Na, ich danke schön. Ich will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Wenn man der die Hände zusammenbände, fände sie Mittel und Wege, einen mit den Füßen an der Nase herumzuführen. Die schamlose Person! Die Dirne!«

»Sie steht unter den Prostituierten!« sagte Hulot. »Josepha und Jenny Cadine, die hatten ein Recht, uns zu betrügen, denn die machen aus ihren Reizen ein Geschäft!«

»Aber Valerie«, fuhr Crevel fort, »die hat die Prüde, die Heilige gespielt . . . Ich rate dir, Hulot, kehre zu deiner Frau zurück! Mit deinen Finanzen steht es gar nicht besonders. Man munkelt bereits von gewissen Wechseln, die du einem Wucherer gegeben hast, dessen Spezialität es sonst ist, Kokotten zu bewuchern. Vauvinet heißt der Mann. Was mich betrifft: ich bin von den anständigen Frauen kuriert. Alte Kerle wie wir sollten wirklich gescheiter sein. Du hast weiße Haare und falsche Zähne. Und ich sehe wie ein Silen aus . . . Ich werde Geld zu Geld türmen. Der Mammon betrügt einen nicht . . .«

»Die Frauen sind unergründlich . . .«, meinte Hulot.

»Unsinn!« brummte Crevel. »Wir sind alt, und der Brasilianer ist jung und ein hübscher Kerl. Das ist das ganze Geheimnis!«

»Ja, ja«, sagte Hulot, »so ist es! Wir sind alt geworden. Aber, mein lieber Freund, warum soll man deshalb darauf verzichten, zuzuschauen, wenn diese schönen Geschöpfe sich entkleiden, ihr Haar kämmen, wenn sie, durch die Finger listig nach uns blinzelnd, ihre Locken wickeln, wenn sie alle ihre Umtriebe spinnen, ihre Lügen dichten, uns weismachen, sie wären ungeliebt und unverstanden, wenn sie uns, die wir müde sind von unserem Berufe, trotz alledem aufheitern?«

»Du hast recht. Das ist der einzige Reiz des Lebens!« bestätigte Crevel. »Ja, wenn einen so ein Schelmengesicht anlacht und einem sagt: ›Schatz, du bist doch ein lieber Kerl! Und ich, ich bin wirklich nicht so wie die andern Frauen, die sich in jeden grünen Jungen vergucken, in die Laffen, die sich den Bart drehen, ewig rauchen und grob wie Stallknechte sind. Sie bilden sich auf ihre Jugend etwas ein. Sie tun so, als ob man noch froh sein müßte, wenn sie nur kommen. Guten Tag! Adieu! Weg sind sie wieder. Ich, die ich nach deiner Meinung kokett sein soll, ich ziehe einen Fünfziger all den jungen Stöpseln vor. So einer ist treu und ergeben; er weiß, daß eine Frau innere Kämpfe zu bestehen hat; er weiß sie zu schätzen. Siehst du, darum liebe ich dich, du großer Bösewicht!‹ Diese Art Geständnisse begleiten kleine Koketterien und Schmeicheleien . . . und doch ist alles Lug und Trug!«

»Ach, Lüge ist oft viel schöner als Wahrheit!« meinte Hulot, indem er sich der reizenden Szenen erinnerte, wenn Valerie Crevels Manieren nachgeäfft hatte. »Und dann muß man doch auch selber Komödie spielen . . .«

»Bis man sie hat, diese Lügnerinnen!« ergänzte Crevel brutal.

»Valerie ist eine Zauberin!« schwärmte Hulot. »Greise macht sie zu Jünglingen!«

»Wie ein Aal ist sie«, wandte Crevel ein, »sie gleitet einem aus den Händen. Aber ein wunderschöner Aal . . . ein Wesen, weiß und süß wie Honig, drollig und voller Einfälle, ach . . .«

»Enorm klug!« rühmte Hulot, der seine Frau schon wieder vergessen hatte.

Die beiden Spießgesellen gingen schlafen. Sie waren wieder die dicksten Freunde, indem sie sich wechselweise Valeries Reize ins Gedächtnis zurückriefen, den Tonfall ihrer Stimme, ihre Katzenart, ihre Gesten, ihre lustigen Einfälle, ihre dummen Streiche, die Bizarrerien ihres Herzens. Diese Künstlerin der Liebe hatte wahrhaftig wundervolle Gefühlswandlungen. Wie ein Tenor heute besser singt als morgen . . .

Darüber schliefen beide ein.

 

Andern Tags um neun Uhr sprach Hulot davon, ins Ministerium gehen zu wollen. Crevel hatte auf dem Lande zu tun. Sie gingen beide zusammen fort. Als sie sich trennten, bot Crevel dem Baron die Hand und sagte:

»Keine Feindschaft mehr! Nicht wahr! Keiner von uns beiden denkt noch an Frau Marneffe.«

»Ach; das ist ja vorbei!« sagte Hulot. Dabei überkam ihn etwas wie Schaudern.

Halb elf eilte Crevel die Treppe zu Frau Marneffe hinauf, indem er immer vier Stufen auf einmal nahm. Er traf das »schamlose Geschöpf«, die »anbetungswürdige Zauberin« im entzückendsten Morgenkleide der Welt bei einem süperben kleinen Dejeuner in Gesellschaft von Marquis Montes von Montejanos und Tante Lisbeth. Trotz des Widerwillens, den ihm der Anblick des Brasilianers verursachte, bat er Valerie um eine kurze Unterredung. Sie ging mit ihm in den Salon.

»Valerie, mein Engel«, begann der verliebte Crevel, »dein Mann hat nicht mehr lange zu leben. Wenn du mir treu sein willst, wollen wir uns nach seinem Tode heiraten. Überlege dir das! Ich habe dich von Hulot frei gemacht. Überlege dir, ob dieser Exot einen Pariser Bürgermeister aufwiegt, einen Mann, der dir zuliebe nach den höchsten Würden streben will, einen Mann, der seine achtzigtausend und soundso viel Francs Rente hat.«

»Ich will mir's überlegen«, meinte sie. »Um zwei Uhr werde ich in der Rue du Dauphin sein. Wir wollen einmal darüber reden. Aber sei vorsichtig! Und vergiß nicht, mir die Eintragung machen zu lassen, die du mir gestern versprochen hast!«

Sie ging in das Eßzimmer zurück. Crevel folgte ihr. Er war stolz, das Mittel gefunden zu haben, Valerie für sich allein zu besitzen. Da bemerkte er den Baron von Hulot, der während der kurzen Unterredung gekommen war, um dasselbe zu erreichen wie er. Genau wie Crevel bat er Valerie um einen Augenblick Gehör. Frau Marneffe erhob sich wieder, um nochmals mit in den Salon hinüberzugehen, wobei sie dem Brasilianer zulächelte, als wollte sie sagen: Die Schafsköpfe! Du bist doch da!

»Valerie, mein Kindchen!« begann der verliebte Staatsrat, »dieser Vetter, das ist so ein Vetter . . .«

»Still!« unterbrach sie ihn heftig. »Marneffe war niemals mein Gatte und wird es nie sein. Der erste, der einzige Mann, den ich geliebt habe, der ist wiedergekommen. Unerwartet. Ich kann nichts dafür. Schau dir nun meinen Heinrich an und dann dich selber! Dann frage dich: Kann da eine Frau, zumal wenn sie verliebt ist, schwanken? Mein Lieber, ich bin kein Frauenzimmer, das sich aushalten läßt. Von heute an hab ich keine Lust mehr, Susanne zwischen zwei Mummelgreisen zu sein. Wenn du zu mir hältst, sollt ihr – du und auch Crevel – meine Freunde bleiben. Alles andere ist aus! Ich bin eine Sechsundzwanzigjährige. Von jetzt an will ich eine unnahbare, treffliche, anständige Frau sein – wie deine es ist.«

»So steht die Sache!« sagte Hulot. »Ach, wenn ich sonst kam, wie hast du mich da empfangen! Wie den Papst. Mit zärtlichen lieben Händen! Ich sage dir aber: dein Mann wird niemals weder Kanzleidirektor noch Ritter der Ehrenlegion!«

»Das wollen wir abwarten!« sagte Frau Marneffe, indem sie den Baron rätselhaft anblickte.

»Na, wir wollen uns nicht ärgern!« meinte Hulot verzweifelt. »Ich werde heute abend wiederkommen. Wir werden uns schon verständigen.«

»Oben bei Tante Lisbeth, ja!«

»Gut, bei Lisbeth«, sagte der verliebte Greis.

Hulot und Crevel gingen zusammen die Treppe hinunter, ohne ein Wort zu sprechen, bis sie auf die Straße kamen. Auf dem Bürgersteig sahen sie einander an und brachen in ein trübsinniges Lachen aus.

»Sind wir beide alte Narren!« bemerkte Crevel.

»Ich habe beiden die Schippe gegeben!« berichtete Valerie, als sie sich wieder an den Eßtisch setzte. »Ich habe nie geliebt, ich liebe nicht und werde keinen andern lieben als meinen Jaguar!« Sie lachte den Brasilianer an. Und zu Lisbeth gewandt, fuhr sie fort:

»Lisbeth, Kindchen, weißt du schon? Heinrich hat mir die Schandtaten verziehen, zu denen mich das Elend gezwungen hat.«

»Ich bin schuld daran. Ich hätte dir hunderttausend Francs schicken sollen!« erklärte Montes.

»Liebling! Arbeiten hätte ich sollen und mich damit durchschlagen! Aber ich habe nicht die Hände dazu.«

Der Brasilianer ging als der glücklichste Mann in ganz Paris von dannen.

 

Gegen Mittag plauderten Valerie und Lisbeth in Valeries prächtigem Schlafzimmer. Die gefährliche Pariserin verlieh ihrer Toilette jenes letzte Etwas, das eine Frau am besten selber hinzufügt. Die Türen waren verschlossen, die Vorhänge dicht zugezogen. Valerie erzählte bis in die kleinsten Einzelheiten alle Ereignisse des Abends, der Nacht und des Vormittags.

»Was sagst du dazu, Beste!« fragte sie am Schlusse. »Soll ich dermaleinst Frau Crevel oder die Marquise von Montejanos werden? Was rätst du mir?«

»Crevel lebt keine zehn Jahre mehr«, gab Lisbeth zur Antwort. »Er hat zu sehr gewüstet. Montes ist jung. Crevel würde dir etwa dreißigtausend Francs Rente hinterlassen. Laß den Brasilianer warten! Er ist auch so glücklich. Du heiratest ihn später. Dann bist du dreiunddreißig. Konserviere dich nur gut! Mit sechzigtausend Francs Rente wirst du einmal eine große Rolle in der Pariser Gesellschaft spielen, zumal als Protegé einer Frau Marschall!«

»Und Montes ist Brasilianer. Er wird es nie zu etwas bringen«, meinte Valerie.

»Wir kommen durch die Eisenbahnen in ein Zeitalter des Verkehrs, und die Ausländer werden in Frankreich noch zu großem Einfluß gelangen.«

»Wir wollen warten«, erklärte Valerie, »bis Marneffe tot ist. Er wird bald ausgelitten haben.«

»Ich will Hortense einen Besuch machen.«

»Famos!« frohlockte Valerie. »Bring mir den Künstler! Wir haben in drei Jahren keine Handbreit Terrain gewonnen. Eine Schande für uns beide! Stanislaus und Heinrich, das sind meine beiden Passionen. Der eine die Liebe und der andere die Phantasie!«

»Wie schön du heute bist!« rief Lisbeth, indem sie die Freundin um den Leib faßte und sie küßte. »Ich genieße alle deine Freuden, Erfolge und Toiletten mit. Seit wir beide Schwestern geworden sind, lebe ich erst!«

»Warte mal, Wildkatze«, lachte Valerie, »dein Schal sitzt schlecht. Drei Jahre lang gebe ich dir nun schon Unterricht in derlei Dingen, und trotzdem verstehst du noch nicht einmal, einen Schal umzulegen. Und du willst Frau Marschallin werden!«

Lisbeth hatte ein seidenes Kleid an, Siefelchen aus feinem Leder und grauseidene Strümpfe; auf dem gutfrisierten Haar trug sie einen sehr hübschen schwarzen Samthut mit gelbem Seidenfutter. So ging sie über den Boulevard des Invalides nach der Rue Saint-Dominique. Unterwegs fragte sie sich: Wird mir Hortense in ihrer Mutlosigkeit endlich ihr starkes Herz erschließen, und wird Stanislaus in seiner slawischen Sprunghaftigkeit, bestürmt zu einer Stunde, wo bei solchen Naturen alles möglich ist, nachgeben?

 

Hortense und Stanislaus bewohnten das Erdgeschoß eines Hauses an der Ecke der Rue Saint-Dominique und der Esplanade des Invalides. Als Lisbeth kam, war Hortense eben mit dem Ankleiden ihres Söhnchens fertig geworden und hatte das Kind in den Garten bringen lassen.

»Guten Tag, Tante Lisbeth!« wurde sie von der jungen Frau begrüßt, die selbst öffnete. Die Köchin war auf den Markt gegangen; das Stubenmädchen, das zugleich das Kind mit versorgen mußte, hatte zu waschen.

»Guten Tag, Kindchen!« erwiderte Lisbeth und umarmte Hortense. »Stanislaus ist wohl im Atelier?«

»Nein, er plaudert mit Stidmann und Chanor im Salon.«

»Können wir ungestört miteinander reden?«

»Komm mit in mein Zimmer!«

Das Boudoir war mit persischem Stoff tapeziert – rote Blumen und grüne Ranken auf weißem Grund –, aber Wände wie Teppich waren bereits in der Sonne verschossen. Die Vorhänge sahen grau aus; offenbar waren sie seit langem nicht gewaschen worden. Man spürte, daß Stanislaus hier geraucht hatte. Der Meister und Grandseigneur pflegte die Asche seiner Zigarren an den Stuhllehnen und ähnlichen schönen Dingen abzustoßen, wie das verwöhnte Männer tun, denen alles nachgesehen wird, sorglose Künstler, die sich an bürgerliche Ordnung nicht gewöhnen mögen.

»So, nun können wir deine Sache einmal besprechen«, begann Lisbeth, als sie sah, daß die schöne Frau schweigsam im Fauteuil verharrte, in den sie gesunken war. »Was hast du denn? Du siehst so blaß aus, liebe Hortense.«

»Es sind zwei Aufsätze in den Zeitungen erschienen, in denen mein armer Mann heruntergemacht wird. Ich habe sie gelesen, sie ihm aber vorenthalten. Es würde ihn ganz und gar mutlos machen. Die Marmorstatue des Marschalls Montcornet wird für völlig mißlungen erklärt. Die Reliefs am Sockel läßt man ja gelten, aber auch nur mit der tückischen Absicht, Stanislaus als lediglich für die Ornamentik begabt hinzustellen; man will damit nur um so vernichtender begründen, daß ihm die Kunst großen Stils versagt sei . . . Ich habe Stidmann flehentlich um seine ehrliche Meinung gebeten. Er hat mir gestanden, seine Ansicht stimme mit der aller Künstler, der Kritiker und des Publikums überein. ›Wenn Stanislaus‹, meinte er, ›nächstes Jahr kein Meisterwerk ausstellt, muß er die Plastik im großen Stil sein lassen und sich der Kleinkunst widmen.‹ Dieser Ausspruch hat mir den größten Schmerz bereitet, denn Stanislaus wird davon nichts wissen wollen. Er fühlt sich. Er trägt sich mit den wundervollsten Ideen . . .«

»Mit Ideen kann man keine Auftraggeber befriedigen«, meinte Lisbeth trocken. »Ich würde offen mit ihm reden, und sollte ich dabei sterben. Schon des Geldes wegen. Geld erhält man nur für fertige Werke. Und sie müssen dem Spießbürger gefallen, wenn er sie kaufen soll. Wenn es sich um die Existenz handelt, so ist ein Künstler besser daran, wenn er in seiner Werkstatt den Entwurf eines Leuchters, eines Aschenbechers, eines Tisches stehen hat als das Modell einer Statue oder einer Gruppe. Jene sind jedermanns Bedürfnisse, während reiche Kunstliebhaber sich nicht alle Tage einstellen und mit der Bezahlung monatelang warten lassen.«

»Du hast recht, meine gute Lisbeth! Sag es ihm doch! Ich selber habe nicht den Mut dazu. Übrigens, wenn er sich auf die Kleinkunst beschränkte und auf große Schöpfungen verzichtete, dann entgingen uns auch die ihm in Aussicht gestellten Aufträge des Hofes, der Stadt Paris und des Ministeriums im Betrage von dreimalhunderttausend Francs. Das ist es ja nur, um was uns die beiden häßlichen Aufsätze bringen wollen. Sie sind von Konkurrenten veranlaßt worden, die ihm diese Aufträge wegschnappen wollen.«

»Armes Herzchen«, sagte Lisbeth, indem sie Hortense auf die Stirn küßte, »wo sind deine Träume von einst! Du ersehntest dir einen großen Mann im Leben wie in der Kunst, einen führenden Meister der Plastik! Siehst du, das war eine Phantasterei! Um solche Utopien zu verwirklichen, hättest du Millionärin sein müssen; ihr aber habt nur zweitausendvierhundert Francs und nach meinem Tode dreitausend!«

Hortenses Augen füllten sich mit Tränen, an denen sich Lisbeth weidete wie eine Katze am Milchtopfe.

 


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