Honoré de Balzac
Tante Lisbeth
Honoré de Balzac

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Einige Tage vorher hatte Hulot sein Leben bei einer Lebensversicherungsgesellschaft mit hundertundfünfzigtausend Francs versichert. Im Besitze der Police, deren Prämien er auf drei Jahre bezahlt hatte, hielt er dem Baron von Nucingen, Pair von Frankreich, mit dem er in dessen Wagen von einer Kammersitzung zum Diner fuhr, folgende Rede:

»Lieber Baron, ich brauche siebzigtausend Francs, um die ich Sie bitte. Sie werden einen Strohmann nehmen, dem ich mein Gehalt auf drei Jahre abtrete. Es beträgt fünfundzwanzigtausend Francs im Jahr; das sind in drei Jahren fünfundsiebzigtausend. Sie werden einwenden, ich könnte bis dahin sterben . . .«

Nucingen nickte bejahend. Hulot zog die Police aus der Tasche.

»Hier ist eine Lebensversicherung auf hundertundfünfzigtausend Francs. Achtzigtausend davon sollen auf Sie eingetragen werden.«

»Wenn nun aber Ihre Stellung hops geht?« wandte der Millionenbaron lachend ein.

Der andere Baron, der Nichtmillionär, wurde nachdenklich.

»Beruhigen Sie sich! Will damit nur gesagt haben, daß es ein Dienst ist, wenn ich die Summe gebe. Sie sind in Verlegenheit, denn die Bank hat 'n Wechsel von Ihnen.«

»Ich verheirate meine Tochter«, gab Hulot zur Antwort. Dann fuhr er fort: »Ich besitze kein Vermögen wie alle, die Beamte bleiben in einer Zeit, wo fünfhundert Spießbürger im Abgeordnetenhause sitzen, ohne daran zu denken, verdienstvolle Leute so reichlich zu belohnen, wie es der Kaiser tat.«

»Na, Sie haben ausgehalten die Josepha. Das erklärt alles!« meinte der Pair. »Unter uns gesagt, der Herzog von Hérouville hat Ihnen 'n großen Gefallen getan, daß er Sie befreit hat von dem Vampir!« Nach einer Weile setzte er hinzu: »Nehmen Sie den Rat eines Freundes! Schließen Sie Ihren Laden, sonst ist es aus mit Ihnen!«

Das verdächtige Geschäft wurde durch die Vermittlung eines kleinen Bankiers namens Vauvinet abgeschlossen, eines der »Managers«, die sich neben den großen Banken zu halten wissen wie die Hechte neben den Haien. Dieser Halsabschneider, versessen darauf, sich die Protektion einer so einflußreichen Persönlichkeit zu verschaffen, erbot sich, dem Baron einen Dreimonatswechsel auf dreißigtausend Francs zu diskontieren und ihn viermal zu prolongieren, ohne daß er in Umlauf kommen sollte.

Der Nachfolger Fischers mußte für das Haus vierzigtausend Francs zahlen, bekam aber das Versprechen, daß man ihm die Furagelieferung für ein an Paris grenzendes Departement verschaffen werde.

In diesen schrecklichen Irrgarten jagten die Leidenschaften einen bis dahin grundehrlichen Mann, einen der geschicktesten Beamten der napoleonischen Verwaltung. Das Joch des Wuchers zwang ihn zur Unredlichkeit, und in das Joch hatten ihn seine galanten Streiche und die Verheiratung seiner Tochter getrieben. Seine verschwenderischen Ausgaben und alle seine Bemühungen hatten keinen andern Sinn, als in Frau Marneffes Augen groß dazustehen. Er wollte der Jupiter dieser bürgerlichen Danaë sein. Mehr Beweglichkeit, Umsicht und Wagemut, als der Baron entfaltete, um Hals über Kopf in sein Unglück zu stürzen, hätte der Tüchtigste nicht für die beste Sache der Welt aufbieten können. Er erledigte seine Amtspflichten, trieb die Handwerker an, beaufsichtigte die Arbeiter und kümmerte sich bis in die nebensächlichsten Einzelheiten um die Einrichtung in der Rue Vanneau. Bei aller Fürsorge für Frau Marneffe ging er auch noch in die Kammersitzungen. Kurzum, er lebte ein doppeltes Dasein, ohne daß weder seine Familie noch sonstwer seine Vielgeschäftigkeit durchschaute.

Die Baronin hatte sich über die Rettung ihres Onkels höchlichst gewundert, ebenso über die im Ehevertrage prangende Mitgift. Bei allem Glücksgefühl über die Verheiratung Hortenses unter so anständigen Umständen empfand sie eine gewisse Unruhe. Aber am Tage vor der Hochzeit, die der Baron auf denselben Tag gelegt hatte, an dem Frau Marneffe ihren Einzug in die neue Wohnung halten sollte, ließ sie sich von Hulot durch folgende feierliche Erklärung beschwichtigen:

»Liebe Adeline, mit der Verheiratung unserer Tochter sind alle unsere Sorgen in der Beziehung zu Ende. Damit ist der Zeitpunkt gekommen, daß wir uns aus der großen Gesellschaft zurückziehen. Ich werde nun keine drei Jahre mehr in meinem Amte verbleiben. Nach Verlauf dieser Frist will ich meinen Abschied nehmen. Wozu sollen wir alle noch unnützen Aufwand machen? Unsere Wohnung kostet uns sechstausend Francs Miete; wir halten vier Dienstboten, und der Haushalt verschlingt jährlich dreißigtausend Francs. Wenn dir daran liegt, daß ich meinen Verpflichtungen nachkomme – ich habe nämlich mein Gehalt auf die Dauer von drei Jahren verpfändet, um dadurch das nötige Geld zu Hortenses Aussteuer und zur Deckung des Wechsels deines Onkels . . .«

»Ah, damit hast du recht getan, mein Lieber!« unterbrach ihn die Baronin, indem sie ihm die Hand streichelte.

»Ich möchte dich noch um etliche kleine Opfer ersuchen«, fuhr Hulot fort, indem er ihr seine Hand entzog und sie auf die Stirn küßte. »Man hat mir in der Rue Plumet in einem ersten Stock eine wunderhübsche Wohnung angeboten, die sehr nett und gut vorgerichtet ist. Sie kostet nur fünfzehnhundert Francs. Du brauchtest da nur ein Kammermädchen für dich, und ich würde mich mit einem jungen Diener begnügen.«

»Ich bin einverstanden, Bester!«

»Indem wir unsern Haushalt vereinfachen, ohne uns nach außen etwas zu vergeben, wirst du mit sechstausend Francs gut auskommen. Was ich für mich brauche, ist nicht mitgerechnet. Das bringe ich selbst auf.«

Die hochherzige Frau fiel ihrem Manne überglücklich um den Hals.

»Wie herrlich, daß ich dir von neuem beweisen kann, wie sehr ich dich liebe!« rief sie aus. »Du weißt doch immer Hilfe!«

»Wir werden unsere Verwandten einmal in der Woche bei uns sehen. Zu Tisch komme ich, wie du weißt, selten. Du kannst also ruhig zweimal wöchentlich bei Viktor und zweimal bei Hortense essen. Und da ich glaube, daß sich zwischen Crevel und uns eine völlige Wiederversöhnung bewerkstelligen läßt, werden wir alle acht Tage bei ihm zu Tisch sein. Wenn ab und zu noch eine Einladung außerhalb des Familienkreises dazukommt, dann ist die ganze Woche ausgefüllt!«

»Ich werde für dich sparen!« sagte Adeline.

»Du bist die Perle aller Frauen!«

»Mein lieber, herrlicher Hektor! Ich werde dich bis zum letzten Atemzuge segnen«, gab sie zur Antwort, »weil du unsere Hortense so gut verheiratet hast!«

So begann die Einschränkung des Haushalts der schönen Frau von Hulot und damit die Trennung, die der Baron der Frau Marneffe versprochen hatte.

Der dicke kleine Vater Crevel, der selbstverständlich den Ehevertrag als Zeuge mit unterschrieben hatte, betrug sich bei alledem so, als ob sich die Szene zu Beginn unserer Erzählung nie zugetragen hätte und als ob er nicht den geringsten Groll gegen den Baron Hulot hegte. Er erschien als der liebenswürdigste Mensch von der Welt. Der ehemalige Ladenbesitzer verriet sich zwar noch genügend, aber kraft seiner Würde als Bataillonskommandeur machte er wirklich den Eindruck des überlegenen Mannes.

Er machte den Vorschlag, daß nach der Hochzeit getanzt werden solle.

»Meine Gnädige«, sagte er galant zur Baronin, »Menschen wie wir müssen vergessen können. Verbannen Sie mich nicht gänzlich aus Ihrem Herzen und seien Sie so gütig, hin und wieder mein Haus zu durchsonnen, indem Sie mit Ihren Kindern kommen! Seien Sie unbesorgt, nie sollen Sie von mir hören, was in der Tiefe meines Herzens ruht! Ich habe mich damals wie ein dummer Junge benommen, aber um alles in der Welt möchte ich Sie nicht verlieren . . .«

»Herr Crevel, als anständige Frau verstehe ich gewisse Anspielungen nicht. Wenn Sie Ihr Wort halten, dann können Sie fest überzeugt sein, daß ich den Zwist mit Freuden schwinden sehe. Zwiespalt innerhalb einer Familie ist immer betrübend.«

»Na also, alter Streithammel!« meinte der Baron, indem er den Dicken in den Garten schleppte. »Du schneidest mich, und sogar in meinem Hause? Zwei alte Don Juans wie wir beide sollten sich weiß Gott nicht einer Schürze wegen in die Haare fahren! Das sollten wir wirklich nicht tun. Es wäre Spießerei.«

»Bester Baron, ich bin kein Adonis wie du, und das Arsenal meiner Verführungskünste ist nicht derart, daß ich Verluste so leicht ersetze, wie du das vermagst . . .«

»Unsinn!« wehrte Hulot ab.

»Der Sieger hat gut lachen!«

In diesem Tone begann eine Aussprache, die zu einer völligen Versöhnung führte. Aber Crevel betonte trotzdem, daß er berechtigt bleibe, sich gelegentlich zu revanchieren.

Frau Marneffe wollte zur Hochzeitsfeier von Fräulein von Hulot eingeladen werden. Um zu ermöglichen, seine künftige Geliebte in seinem Salon zu sehen, mußte der Staatsrat alle Beamten seines Ressorts – einschließlich der Kanzleisekretäre – einladen. Damit wurde ein großer Ball nötig. Als sparsame Hausfrau errechnete die Baronin sofort, daß ein Ball weniger kosten werde.als ein Festmahl und daß man dabei viel mehr Personen einladen könne.

Zu Führern der Braut wurden bestimmt: der Marschall Fürst von Weißenburg und der Baron von Nucingen; zur Seite des Bräutigams sollten Graf Rastignac und Popinot schreiten. Da Steinbock, seit er berühmt war, von den glänzendsten Persönlichkeiten der polnischen Emigration aufgesucht worden war, mußten sie eingeladen werden. Dazu kamen die Staatsräte und die hohen Verwaltungsbeamten. Die Armee, die den Grafen von Pforzheim zu ehren beabsichtigte, sollte durch ihre Spitzen vertreten werden. Notgedrungen mußten somit zweihundert Einladungen ergehen. Das Verlangen der Frau Marneffe, im Glanz einer derartigen Gesellschaft erscheinen zu dürfen, war somit wohl begreiflich.

Die Baronin verwandte den Ertrag ihrer Brillanten, aus denen sie die Prachtstücke für den Trousseau Hortenses ausgesucht hatte, zur Einrichtung der Wohnung des jungen Paares. Der Verkauf hatte fünfzehntausend Francs gebracht, wovon fünftausend für die Wäscheausstattung genommen wurden. Was sind zehntausend Francs für eine Wohnungseinrichtung, wenn man den modernen Luxus bedenkt? Indessen machten Herr und Frau Hulot jun., Vater Crevel und der Graf von Pforzheim bedeutende Hochzeitsgeschenke. Der alte Onkel hatte eine Summe für das Silberzeug zurückgelegt. Dank dieser Beihilfe wäre selbst eine anspruchsvollere Pariserin mit der neuausgestatteten Wohnung in der Rue Saint-Dominique an der Esplanade des Invalides zufrieden gewesen.

 

Endlich kam der große Tag, ein großer Tag in der vollen Bedeutung des Wortes für Hortense und Stanislaus ebenso wie für den Baron. Frau Marneffe hatte sich entschlossen, am Tage nach der Hochzeit der Liebesleute und ihrem Sündenfall einen Einzugsschmaus zu geben.

Wozu ein Hochzeitsfest schildern? Wer hätte noch keinen Hochzeitsball mitgemacht? Man erinnere sich solch eines feierlich geputzten Menschenschwarms und aller der festlich gestimmten Gesichter, und man wird leise lächeln. Nirgends kann man die Wirkung der Umwelt besser beobachten. Das Festliche ist so sehr das allgemeine Charakteristikum, daß man die Leute, die auch am Alltag gut angezogen gehen, nicht von denen unterscheiden kann, für die eine Hochzeit ein ganz besonderes Ereignis ist. Man erinnere sich an alle die Typen, die so ein Fest heraufbeschwört: an die Gleichgültigen, die steif dastehen; an die alten Ehepaare, deren Gesichter die Trauer am Ende desselben Lebens verkünden, das die Neuvermählten mit soviel Freudigkeit beginnen; an die jungen Mädchen, die die Braut beneiden; an die Frauen, die sich um den Eindruck ihrer Toiletten sorgen; an die armen Verwandten, die in ihrer dürftigen Tracht von den Leuten im Staatsanzug abstechen; an die Gourmets, die bloß des Diners wegen erschienen sind, und an die Spielratten, die das Jeu hinterher anlockt; an all den Drang nach Freude, der diese Menschen durchzittert wie die Perlen der Kohlensäure den Sekt. Alles ist da, arm und reich, Neider und Beneidete, Philosophen und Illusionsmenschen. Eine Hochzeit ist eine Welt im kleinen.

Auf dem Höhepunkt der Feststimmung faßte Crevel den Baron am Arm und flüsterte ihm mit der unschuldigsten Miene der Welt ins Ohr: »Sag mal, wer ist denn die hübsche Frau in Rosa? Die dich nicht aus den Augen läßt!«

»Welche denn?«

»Na, die Frau des Kanzleisekretärs, den du Gott weiß wie begönnerst, die Frau Marneffe!«

»Woher weißt du das?«

»Siehst du, Hulot! Ich will mir Mühe geben, deine Untaten an mir zu vergessen, wenn du mich bei ihr einführst. Ich werde dich dafür mit zu meiner Heloise nehmen. Alle Welt fragt, wer das scharmante Weib da sei. Bist du übrigens sicher, daß niemand in deinen Kanzleien dahinterkommt, warum ihr Mann Karriere macht? Alter Spitzbube! Na, komm! Laß uns Freunde sein, Cinna!«

»Und ehrliche Freunde!« bekräftigte der Baron. »Ich verspreche dir, ein braver Kerl zu sein. In vier Wochen sollst du mit dem Engel zusammen soupieren. Alter Junge, mach es wie ich! Halte dich an die Engel, und laß die Teufel der Rache, wo der Pfeffer wächst!«

 

Tante Lisbeth hatte sich in der Rue Vanneau in einer hübschen kleinen Wohnung im dritten Stock niedergelassen. Als sie um zehn Uhr vom Hochzeitsballe nach Hause kam, fand sie zwei Urkunden über je sechshundert Francs Rente vor; als Eigentümerin des Kapitals war in der einen Urkunde die Gräfin Steinbock, in der anderen Frau von Hulot jun. eingetragen. Man begreift nun, warum Crevel zu seinem Freunde Hulot von Frau Marneffe hatte sprechen können, d. h. von einem Geheimnis, das niemandem bekannt sein konnte. Da Herr Marneffe abwesend war, waren der Baron, Valerie und Tante Lisbeth die allein Wissenden gewesen.

Baron Hulot hatte die Unklugheit begangen, Frau Marneffe eine Toilette zu schenken, die für die Frau eines Kanzleisekretärs viel zu kostbar war. Die andern Beamtenfrauen wurden sowohl auf diese Toilette wie auf die Schönheit Valeries eifersüchtig. Es gab ein allgemeines Tuscheln hinter den Fächern, denn die Not im Hause Marneffe war im ganzen Kriegsministerium bekannt. Marneffe hatte gerade, als sich sein Chef in seine Frau verliebte, ein Unterstützungsgesuch eingereicht. Außerdem vermochte Hulot sein Entzücken über den Eindruck, den Valerie machte, nicht zu verbergen. Voll wirklich edler Zurückhaltung ließ die Vielbeneidete jene allgemeine Prüfung über sich ergehen, die so viele Frauen beim Eintritt in eine ihnen neue Welt fürchten.

Nachdem sich Hulot von seiner Frau, seiner Tochter und seinem Schwiegersohn am Wagen verabschiedet hatte, überließ er seinem Sohne und seiner Schwiegertochter die Rolle des Hausherrn und entschlüpfte unbemerkt. Er stieg in Frau Marneffes Wagen und begleitete sie. Sie kam ihm wortkarg und nachdenklich, fast schwermütig vor.

»Macht dich das Glück traurig, Valerie?« fragte er sie und zog sie an sich.

»Mein Lieber, soll eine arme Frau wie ich nicht traurig sein, wenn sie ihren ersten Fehltritt begeht? Selbst wenn ihr Mann in seiner Gemeinheit nichts dagegen hat. Glaubst du, ich hätte keine Seele, keinen Glauben, keine Moral? Du hast dich heute abend auf die indiskreteste Weise amüsiert und mich gräßlich bloßgestellt. Tatsächlich, ein Primaner hätte sich schlauer benommen. Alle diese Damen haben mich mit ihren Glotzaugen und Giftzungen aufgespießt. Jede Frau hält auf ihren guten Ruf. Du hast mir den meinen vernichtet. Ach ja, ich bin nun ganz die Deine! Ich kann meine Sünde durch nichts wiedergutmachen als durch die Treue zu dir, du Scheusal!«

Sie lachte und ließ sich von ihm küssen.

»Du wußtest wohl, was du tatest! Frau Coquet, die Frau unseres Kanzleidirektors, hat sich neben mich gesetzt, um meine Spitzen zu bewundern. Echt irische? meinte sie. Die sind mordsteuer! – Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen, hab ich ihr darauf geantwortet. Habe sie von meiner Mutter geerbt. Ich bin nicht so reich, um mir solche Spitzen kaufen zu können!«

Valerie hatte den ehemaligen Liebling des Kaiserhofes dermaßen behext, daß er glaubte, sie beginge ihren ersten Fehltritt und vergäße alle ihre Pflichten aus Leidenschaft zu ihm. Sie erzählte ihm, ihr Gatte hätte sie dereinst nach dreitägiger Ehe verlassen, aus ordinärstem Anlaß. Seitdem habe sie das Dasein des keuschesten jungen Mädchens geführt und sei eigentlich recht glücklich gewesen. Die eheliche Gemeinschaft sei ihr etwas Gräßliches. Das sei auch der Grund ihrer augenblicklichen Traurigkeit.

»Wenn die Liebe auch nichts anderes wäre als die Ehe!« jammerte sie unter Tränen.

Diese eitlen Lügen, die fast alle Frauen in der nämlichen Lage machen, trugen den Baron in den siebenten Himmel. Valerie ließ sich nur unter Sträuben erobern, während in der gleichen Stunde Hortense und der verliebte Künstler ihr Alleinsein kaum erwarten konnten.

Früh sieben Uhr erschien der Baron wieder auf dem Balle, um seinen Sohn und seine Schwiegertochter abzulösen. Er war überglücklich. Er hatte in seiner Valerie die verschämteste Braut und die raffinierteste Teufelin gefunden.

Wie auf allen Hochzeiten hatten sich jene Tänzer und Tänzerinnen des Terrains bemächtigt, die nie genug haben. Die Spieler saßen wie angewurzelt an ihren Tischen. Vater Crevel hatte in der Nacht sechstausend Francs gewonnen. Indessen berichteten die Morgenzeitungen bereits von dem Feste.

 

Wenn sich in Paris eine Frau entschlossen hat, aus ihrer Schönheit ein Geschäft, Marktware zu machen, so ist damit noch lange nicht gesagt, daß sie Glück hat. Man trifft unter diesen Frauen, die allerdings in der erschreckenden Mehrzahl Durchschnittsnaturen sind, wundervolle und geistig hervorragende Geschöpfe, deren galantes Leben häufig sehr schlimm endet. Und zwar aus folgendem Grunde. Das Betreten der unehrenhaften Laufbahn einer Kurtisane in der Absicht, wirtschaftliche Vorteile daraus zu schlagen, selbst wenn man dabei die Maske einer anständigen Bürgersfrau beibehält, genügt an und für sich nicht. Die Sünde feiert so leicht nicht ihre Triumphe. Es ist ganz ähnlich wie mit dem Genie. Bei beiden muß eine Menge glücklicher Umstände mitwirken, ehe der Erfolg kommt. Man denke an Napoleon Bonaparte. Eine käufliche Schönheit ohne Liebhaber, ohne Berühmtheit, ohne den blutigen Glorienschein, soundso viel Existenzen vernichtet zu haben, ist wie ein Correggio in der Rumpelkammer, wie ein Genie, das in der Dachkammer verhungert. Eine Lais von Paris muß somit vor allen Dingen einen reichen Mann finden, der verliebt genug in sie ist, um sie ordentlich zu bezahlen. Sie muß todschick sein. Die Eleganz ist Bedingung. Das und ein leidlich gutes Benehmen schmeicheln der Eitelkeit der Männer. Eine solche Frau muß den natürlichen Witz einer Sophie Arnould haben; das reizt die Blasiertheit der Reichen. Schließlich muß sie es verstehen, einem Roué begehrenswert zu erscheinen, indem sie offenbar einem einzigen treu ist, den man allgemein darum beneidet.

Alle diese günstigen Vorbedingungen, die Frauen dieser Art Chance nennen, lassen sich in Paris gar nicht so leicht erfüllen, obgleich die Stadt von Millionären, Müßiggängern, Lebemännern und Phantasten wimmelt. Zweifellos schützt die Vorsehung in wirksamer Weise die Ehen des Beamtenstandes und Kleinbürgertums. In so einem Milieu sind die Hindernisse mindestens doppelt so groß. Trotzdem gibt es in Paris noch genug Frauen wie Valerie Marneffe, in der man einen Typ der Sittengeschichte dieser Stadt vor sich hat. Von diesen Frauen gehorchen die einen ebenso wirklicher Leidenschaft wie der Not. Es ist ihnen unmöglich, ihren Haushalt mit augenscheinlich viel zu knappen Mitteln aufrecht zu erhalten. Andere werden von der Eitelkeit verführt. Die Sucht nach Luxus läßt sie straucheln. Die Sparsamkeit des Staates oder der Kammern, wenn man lieber so sagen will, ist vielfach am Elend und an der sittlichen Entartung des Mittelstandes schuld. Man bemitleidet heutzutage in hohem Maße den Arbeiter. Man spricht von den ihn aussaugenden Arbeitgebern. Aber der Staat ist hundertmal hartherziger als der habgierigste Industrielle. Er geizt mit den Gehältern der kleinen Beamten auf das unsinnigste. Ein besonders tüchtiger Arbeiter wird auf alle Fälle entsprechend bezahlt. Der Staat aber ignoriert die Begabten.

Es gilt für eine verheiratete Frau als ein unentschuldbares Vergehen, vom Pfade der Tugend abzuweichen. Indessen gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Fällen. Manche Frauen, im Grunde durchaus nicht entartet, verbergen ihre Sünde und wahren den Schein der anständigen Frau. Andere wiederum begehen ihre Ausschweifungen aus gemeiner Berechnung. Frau Marneffe war eine Vertreterin des Typs der ehrgeizigen verheirateten Dirne, die sich von vornherein mit der Schmach und allen ihren Folgen abfindet, fest entschlossen, sich auf vergnügliche Weise ein Vermögen zu erwerben, und in der Wahl der Mittel skrupellos. Fast immer sind die Ehemänner dieser Frauen – wie bei Frau Marneffe – Mitwisser und Zuhälter. Diese Macchiavellis in Unterröcken sind die gefährlichsten Weiber. Unter der schlimmen Sorte von Pariserinnen sind das die allerübelsten. Wirkliche Kurtisanen wie Josepha, Jenny Cadine und ähnliche machen kein Hehl aus ihrer sozialen Stellung. Sie sind nicht minder leicht erkennbar wie die Bordelle an ihren roten Laternen. Ein Mann weiß vor solchen Weibern, daß er sich in Gefahr begibt. Die übertünchte Ehrbarkeit aber, die falsche Tugend, das heuchlerische Getue einer verheirateten Frau, die keine andern Bedürfnisse zu haben vorgibt, als ein Alltagshaushalt erfordert, und die sich gegen törichte Ausgaben scheinbar sträubt – das führt ohne Sang und Klang in den Abgrund. Hier ist ein schlichtes Ausgabenbuch, nicht phantastische Lebenslust, die Unsummen verschlingt. Familienväter ruinieren sich so im stillen, und nicht einmal die befriedigte Eitelkeit ist die große Trösterin in ihrem Elend.

Man findet Frauen wie die Marneffe auf allen Rangstufen der Gesellschaft, sogar im Dunstkreise der Fürstenhöfe. Valerie ist bis in die kleinsten Einzelheiten eine durchaus realistische Kopie nach dem Leben. Trotzdem wird dieses düstere Bild niemanden von dem Wahnwitz abhalten, sich in einen Engel mit süßem Lächeln, träumerischen Augen, unschuldigem Gesicht und – einer Geldkassette an Stelle des Herzens zu verlieben.

Etwa drei Jahre nach Hortenses Verheiratung, im Jahre 1841, galt der Baron Hulot von Ervy für solid geworden, wie man zu sagen pflegt. Dabei hatte ihn Frau Marneffe währenddem zweimal soviel gekostet wie einst Josepha. Obgleich sie immer schick aussah, kaprizierte sie sich vor der Öffentlichkeit geradezu auf die Einfachheit einer mittleren Beamtenfrau und sparte sich den raffinierten Luxus für ihre Toiletten im Boudoir und im Salon auf. Sie verzichtete also ihrem Hektor zuliebe auf die Eitelkeit der Pariserin. Nur wenn sie in das Theater fuhr, trug sie immer einen hübschen Hut und ein modisches elegantes Kleid. Der Baron pflegte sie im Wagen und in die für sie gemietete Loge zu begleiten.

Ihre Wohnung in der Rue Vanneau, die den ganzen zweiten Stock eines neuzeitlichen Palastes einnahm, machte einen durchaus ehrbaren Eindruck. Der Luxus beschränkte sich auf ein paar persische Teppiche und das höchst behagliche hübsche Mobiliar. Das Schlafzimmer machte eine Ausnahme; es zeigte jene gewisse Üppigkeit, wie sie die besseren Kurtisanen lieben: Spitzengardinen, seidene Vorhänge, Brokatportieren; dazu einen Kaminaufsatz nach einem Modell von Stidmann und ein Glasschränkchen voller Kostbarkeiten. Hulot war durchaus nicht der Mann, seine Valerie in einem Nest zu halten, das im Vergleich zu dem an Schätzen reichen Sündenheim einer Josepha armselig und schmucklos ausgesehen hätte. Von den beiden Hauptzimmern, dem Salon und dem Eßzimmer, hatte das erstere Möbel mit rotem Damast, das andere in geschnitzter Eiche. Vom Wunsche geleitet, alles ganz ordentlich zu haben, hatte Hulot nach einem halben Jahre dem scheinbaren Luxus wirkliche Wertsachen hinzugefügt, zum Beispiel Silberzeug, das ihn vierundzwanzigtausend Francs kostete.

Das Haus Marneffe erwarb sich binnen zweier Jahre den Ruf, urgemütlich zu sein. Man spielte daselbst. Valerie galt als eine liebenswürdige und kluge Frau. Um den Wandel ihrer Verhältnisse nach außen zu begründen, verbreitete man das Märchen, ihr natürlicher Vater, der Marschall Montcornet, habe ihr ein beträchtliches Vermächtnis in Gestalt einer Rente vermacht. Auf ihre Zukunft bedacht, begann sie neben ihrer gesellschaftlichen Komödie auch die Fromme zu spielen. Sie ging regelmäßig sonntags in die Kirche und kam in den Geruch der Frömmigkeit. Sie beteiligte sich an gemeinnützigen Sammlungen, unterstützte die Schwesternstifte, beschenkte die Kirche und wurde eine Wohltäterin ihres Viertels – immer auf Kosten Hulots. In ihrem Hause vollzog sich alles nach bester Sitte. So kam es, daß viele Leute steif und fest glaubten, ihre Beziehungen zum Baron seien lauter und rein, wobei man das Alter des Staatsrats in die Waagschale warf und ihm eine platonische Vorliebe für die witzige Art, das entzückende Wesen und die Plauderkunst der Frau Marneffe andichtete.

Der Baron pflegte sich gegen zwölf Uhr mitternachts zugleich mit allen Gästen zu empfehlen. Eine Viertelstunde später war er wieder da. Er bewerkstelligte das auf folgende geheimnisvolle Art. Den Pförtnerposten des Hauses hatte das Ehepaar Olivier inne. Durch die Empfehlung des Barons, der mit dem Hausbesitzer bekannt war, hatten die Leute ihren früheren gewöhnlichen und wenig einträglichen Hausmannsposten in der Rue du Doyenné mit dem vorzüglich gestellten in der Rue Vanneau vertauscht. Frau Olivier, ehemalige Wäschebeschließerin am Hofe Karls X., mit der legitimen Monarchie zugleich »gestürzt«, hatte drei Kinder. Der älteste Junge, bereits Schreiberlehrling bei einem Notar, war der Augapfel seiner Eltern. Das Goldsöhnchen war nahe daran gewesen, sechs Jahre als Soldat dienen zu müssen, wodurch seine gute Laufbahn unterbrochen worden wäre. Da hatte ihm Frau Marneffe die Befreiung vom Militärdienst eines jener körperlichen Fehler wegen erwirkt, wie sie die Aushebungskommissionen zu entdecken wissen, wenn sie insgeheim von einflußreichen Persönlichkeiten darum angegangen werden. Infolgedessen gingen Olivier (er war ehedem königlicher Bereiter) und seine Frau für den Baron Hulot und seine Geliebte durchs Feuer.

Die Gesellschaft ist immer auf das äußerste nachsichtig gegen die Herrin eines Hauses, in dem man sich amüsiert. Frau Marneffe hatte überdies, abgesehen von allen andern Annehmlichkeiten des Verkehrs mit ihr, den Vorzug, die Vertreterin einer heimlichen Macht zu sein. So ging zum Beispiel Claude Vignon, damals Sekretär des Marschalls Fürsten von Weißenburg, ein Mann, der sich bereits als Mitglied des Staatsrats (und zwar als Berichterstatter über die Bittgesuche) sah, im Salon der Frau Marneffe ein und aus. Verschiedene Abgeordnete, brave harmlose Leute, verkehrten ebenfalls dort, des Hasardspiels wegen. Der Kreis ihres Hauses hatte sich in kluger Langsamkeit gebildet. Die nach und nach hinzukamen, waren immer nur Leute, die in Sitte und Gesinnung hineinpaßten, denen daran gelegen war, dauernd darin zu bleiben, und die infolgedessen Herolde der hohen Vorzüge der Hausherrin waren. Das Cliquenwesen ist ja die Hauptstaatsmacht in Paris. Die Interessen der einzelnen laufen schließlich immer auseinander, aber in der Sünde verträgt man sich.

Drei Monate nach ihrem Einzug in die Rue Vanneau hatte Frau Marneffe den Besuch Crevels empfangen, der eben Bürgermeister seines Bezirks und Offizier der Ehrenlegion geworden war. Crevel hatte lange gezögert. Es handelte sich für ihn darum, den schönen bunten Rock der Bürgerwehr, in dem er in den Tuilerien einherstolziert war, an den Nagel zu hängen. Nicht zu vergessen, daß er sich als Soldat für einen zweiten Napoleon hielt. Aber sein von Frau Marneffe beratener Ehrgeiz war mächtiger als seine Eitelkeit. Der neubackene Herr Bürgermeister hielt sein Verhältnis mit Heloise Brisetout für unvereinbar mit seiner politischen Stellung. Schon vor seiner Thronbesteigung im Rathause hatte sich daher sein Liebesleben in mystischer Verborgenheit abgespielt. Nunmehr hatte er sich das Recht, ob des Raubes der Josepha Rache zu nehmen, so oft er das imstande war, durch einen Renteneintrag von sechstausend Francs auf Frau Valerie Marneffe geborene Fortin, der in Gütertrennung lebenden Gattin des Herrn Marneffe, käuflich erworben. Valerie, offenbar von mütterlicher Seite her mit dem Sondersinn der ausgehaltenen Frau erblich belastet, hatte den Charakter ihres grotesken Verehrers mit einem Blick durchschaut. Jenes Geständnis, das Crevel Lisbeth gemacht hatte: »Ich habe noch nie eine Frau der Gesellschaft gehabt!«, hatte die alte Jungfer ihrer Busenfreundin Valerie getreulich berichtet; es hatte wesentlich bei dem Schacher mitgewirkt, dem Valerie ihre sechstausend Francs Rente verdankte. Seitdem hatte sie sich in ihrem Prestige vor dem ehemaligen Kommis in Firma Cäsar Birotteau nie wieder etwas vergeben.

Crevel hatte eine Geldheirat gemacht, als er die Tochter (übrigens das einzige Kind) eines Mühlenbesitzers aus der Brie heiratete, dessen Vermögen er zu zwei Dritteln erbte. Die Kleinindustriellen werden meist weniger durch ihr Geschäft reich als durch das Zusammenwirken von Geschäft und Landwirtschaft. Für viele Pächter, Mühlenbesitzer, Viehzüchter und Bauern in der Umgebung von Paris ist der Inbegriff eines Schwiegersohnes ein Kaufmann. Ein Ladeninhaber, ein Goldwarenhändler, ein kleiner Bankier ist ihnen für ihre Töchter viel willkommener als ein Rechtsanwalt oder ein Arzt, dessen höhere gesellschaftliche Stellung sie beunruhigt. Sie haben Angst, später von diesem sozusagen besseren Bürger über die Achsel angesehen zu werden. Frau Crevel, eine ziemlich häßliche, höchst gewöhnliche und ungebildete Frau, die sehr bald starb, hatte ihrem Manne weiter keine Freude als die der Vaterschaft gemacht. Zu Beginn seiner kaufmännischen Laufbahn hatte Crevel, eine lüsterne Natur, in den Fesseln seines Berufs und im Joche seiner Armut die Rolle eines Tantalus spielen müssen. Er bewunderte die vornehmen Pariserinnen, ihren Schick, ihre Modetorheiten, jenes verführerische Ich-weiß-nicht-was, das man »rassig« nennt, aber seine Beziehungen zu solchen Damen beschränkten sich auf seine Bücklinge als Ladenjüngling. Sich an die Seite einer der Salonfeen emporzuschwingen, war sein von jeher gehegter heimlicher Herzenswunsch. Ein Favorit der Frau Marneffe zu werden, war somit für ihn nicht nur die Erfüllung seines Traumes, sondern gleichzeitig ein Reiz für seine Eingebildetheit, Eitelkeit und Eigenliebe. Sein Dünkel wuchs mit dem Erfolge. Er verspürte einen grenzenlosen geistigen Genuß, und wo das Hirn gewonnen, ist auch das Herz in Banden; das Glück wird hundertfältig. Frau Marneffe war ihm übrigens sichtlich entgegengekommen, aber er mißtraute ihrem Gebaren nicht, denn weder Josepha noch seine sonstigen kleinen Geliebten hatten ihm Leidenschaft vorgeheuchelt. Frau Marneffe hingegen hielt es für nötig, diesem Manne, der ihr ein unversiegbarer Geldquell war, ordentlich etwas vorzumachen. Die Mätzchen der käuflichen Liebe sind viel reizvoller als die wahrhafte Leidenschaft. In der wirklichen Liebe streitet man sich zuweilen um gar nichts und verletzt sich dabei zu Tode. Ein Scheinkampf dagegen schmeichelt der Eigenliebe des Betörten. Die Seltenheit der Stelldicheins steigerte in Creyel die Verliebtheit bis zur Leidenschaft. Er hatte immer wieder von neuem Valeries spröde Tugend zu bestürmen. Sie heuchelte Gewissenskämpfe und gab sich den Anschein, als mache sie sich darüber Gedanken, was wohl ihr Heldenvater droben in Walhall von ihr denken werde. Crevel stand im Kampfe mit ihrer Froschblütigkeit, aber das durchtriebene Weib machte ihm weis, er erobere sie. Sie tat so, als ob sie sich dem tollen Ungestüm des Spießbürgers ergebe. Hinterher nahm sie alsbald gleichsam schamerfüllt die Unnahbarkeit und den Tugendblick der anständigen Frau wieder an. Mit der Wucht ihrer Würde hielt sie ihren Crevel immer am Gängelbande, dem es ja von vornherein ihre Ehrbarkeit angetan hatte. Kurz und gut, Valerie besaß eine ganz besondere Art von Zärtlichkeit, ohne die weder Crevel noch Hulot leben konnten. Vor der Öffentlichkeit erschien sie als die reizendste Verkörperung keuscher verträumter Natürlichkeit, tadellosen Anstandes, witziger Munterkeit, gesellschaftlicher Liebenswürdigkeit und graziöser Ungebundenheit. Unter vier Augen aber stach sie die Kurtisanen aus, wobei sie drollig, witzig und in Einfällen unerschöpflich war. Gerade diese Gegensätze gefallen Menschen vom Schlage Crevels über alle Maßen; sie schmeicheln sich, jene Komödie spiele sich nur ihnen zuliebe und zu ihren Gunsten ab, und voll von Bewunderung haben sie an der köstlichen Heuchelei ihre Freude.

Valerie wußte den Baron Hulot wunderbar zu nehmen. Sie nötigte ihn, sein Altwerden nicht mehr vor der Welt zu verbergen, durch ihre erlesenen Schmeicheleien, die so recht den Teufelssinn dieser Sorte Frauen kennzeichnen. Bei einer belagerten Festung, die sich lange Zeit brav hält, kommt doch einmal der Augenblick, wo sich die wahre Lage offenbart. Ganz ebenso ist es im intimen Verkehr. Valerie sah den nahen galanten Bankrott des napoleonischen Don Juans voraus und hielt es für angebracht, ihn noch zu beschleunigen.

»Was genierst du dich eigentlich, geliebter Graukopf?« fragte sie ihn ein halbes Jahr nach ihrer heimlichen und zwiefach ehebrecherischen Vereinigung mit Hulot. »Hast du Absichten auf irgendwen? Willst du mir untreu werden? Ich hätte es viel lieber, wenn du dich nicht schminktest. Meinst du, der Lack deiner Schuhe, dein Gummigürtel, dein Korsett und dein Toupet wären das an dir, was ich liebe? Ach was! Je älter du wirst, um so geringer wird meine Angst, meinen Hektor am Arme einer anderen zu sehen!«

Da der Baron ebenso an die göttliche Freundschaft wie an die Liebe der Frau Marneffe glaubte und mit ihr sein Leben zu beschließen hoffte, befolgte er diesen Wink mit dem Zaunpfahl. Er hörte auf, sich Haar und Bart zu färben. Auf die ihn rührende Bitte Valeries hin erschien er eines schönen Tages schneeweiß. Frau Marneffe lachte. Das habe sie längst gewußt.

»Die weißen Haare passen wundervoll zu deinem Gesicht«, meinte sie ihn musternd. »Sie verleihen dir etwas Mildes. Du siehst sehr viel besser aus, scharmant!«

Einmal so weit gebracht, verzichtete er auch auf Gürtel und Korsett. Ein Hängebauch kam zum Vorschein; seine Dickleibigkeit ward sichtbar. Eine erschreckende Schwerfälligkeit begann sich nunmehr in all seinen Bewegungen auszusprechen. Er alterte erstaunlich. Nur seine schwarz gebliebenen Augenbrauen erinnerten noch an den schönen Hulot. Diese Unstimmigkeiten wurden verstärkt durch seinen jugendlich gebliebenen lebhaften Blick, der in einem fahlen Gesichte viel mehr wirkte als in seinem früheren, das im Fleischton eines Rubens geprangt hatte, während längst gewisse Falten, Furchen und Runzeln den Zwiespalt zwischen Natur und Leidenschaft verrieten.

Wie hatte es aber Valerie fertiggebracht, sich Hulot und Crevel brüderlich vereint zu halten, wo doch der rachsüchtige Bataillonskommandeur sich seines Triumphes über Hulot laut rühmen wollte? Tante Lisbeth und Valerie hatten hier ihre Hände gemeinsam im Spiele.

Als Marneffe, Valeries Gatte, seine Frau im Glanze des Kreises sah, in dessen Mitte sie strahlte wie eine Sonne in ihrem Planetensystem, loderten seine Gefühle für sie scheinbar wieder auf. Er spielte den Tollverliebten. Wenn seine Eifersucht auch störend war, so verlieh sie den Gunstbezeigungen Valeries doch einen ganz besonderen Wert. Marneffe bekundete seinem Chef nichtsdestoweniger ein Vertrauen, das in seiner Gutmütigkeit ins Lächerliche ging. Der einzige, der dem Baron nicht so recht behagte, war tatsächlich Crevel.

Marneffe hatten jene Ausschweifungen ausgemergelt, die sich nur der Großkapitalist leisten kann. Die römischen Dichter haben sie geschildert; die moderne Prüderie hat keine Ausdrücke für sie. Er war häßlich geworden wie eine Wachsfigur in einem anatomischen Kabinett. Die wandelnde Krankheit in eleganter Kleidung! Seine Beine schlotterten in der Hose wie zwei Stöcke. Hinter der blendenden Wäsche verbarg sich die welke Haut, und im Parfüm erstarb der üble Hauch des menschlichen Verfalls. Die Ekelhaftigkeit des verfaulenden, dabei noch auf Stöckelschuhen einherstolzierenden Lasters war für Crevel etwas Unausstehliches. Marneffe wirkte auf den Bürgermeister wie ein Gespenst. Den gemeinen Kerl belustigte die Wirkung. Die Karten waren das einzige, was auf diese geistige wie körperliche Ruine noch einen Reiz ausübte. Marneffe rupfte Crevel, der sich verpflichtet hielt, mit diesem Ehrenmanne, dem er Hörner aufsetzte, nachsichtig zu sein.

Hulot beobachtete den Verkehr zwischen Crevel und der verworfenen Kreatur, vor allem die starke Verachtung Valeries, die über Crevel lachte wie über einen Hampelmann. Und so wähnte er sich gegen jede Nebenbuhlerschaft gefeit. Er lud Crevel regelmäßig zu Tisch ein.

Behütet von diesen beiden Verehrern, die ihr wie Schildwachen zur Seite standen, und von ihrem anscheinend eifersüchtigen Ehemann, zog Valerie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. In ihrem Strahlenbereich erregte sie die Begierde aller Männer. So gelang es ihr in den drei Jahren unter vollkommener Wahrung des Scheines, die schwierigsten Bedingungen jenes Erfolgs zu erfüllen, nach dem die Dirnen trachten, den sie aber so selten erringen trotz allen Skandals, aller Frechheit und alles Prunkens am hellichten Tage. Sie richtete dadurch viel Unheil an. Auch Claude Vignon war insgeheim verliebt in sie.

Wenden wir uns zu Tante Lisbeth.

Sie nahm im Hause Marneffe die Stellung einer Verwandten ein; dabei war sie Gesellschafterin und Wirtschafterin in einer Person, ohne daß sie die Demütigungen empfand, die Frauen, die derartige fragwürdige Posten aus Not annehmen müssen, meistens bedrücken. Lisbeth und Valerie boten das rührende Bild der Frauenfreundschaft. Freundschaft unter Frauen ist etwas so Unmögliches, daß die immer überklugen Pariser die beiden Freundinnen verleumdeten.

Mit Lisbeth hatte sich eine große Umwälzung vollzogen. Die sonderbare alte Jungfer sah jetzt, wo sie ein Korsett trug, ganz schneidig aus. Sie pflegte ihr Haar, trug gut gemachte Kleider, Lackstiefelchen und grauseidene Strümpfe, übrigens alles auf Valeries Rechnung, die dann der bezahlte, dem das Bezahlen gerade zukam. So aufgefrischt, immer in ihrem gelben Kaschmirschal, erkannte man die alte Tante Lisbeth gar nicht wieder. Wer sie zum ersten Male sah, empfand freilich unwillkürlich einen Schauer vor ihrer wilden Romantik, die von der geschickten Valerie ins rechte Licht gesetzt wurde, indem sie die Kleidung dieser »Nonne« verfeinerte. Auf ihr Geheiß ward Lisbeths hageres olivenfarbenes Gesicht, aus dem nur das Schwarz der Augen im Einklange mit ihrem schwarzen Haar herausleuchtete, mit einer flachen Scheitelfrisur umrahmt, was ihrer steifen Erscheinung einen malerischen Reiz verlieh. Wie eine der Madonnen des van Eyck oder Cranach, wie eine aus ihrem Rahmen herausgetretene byzantinische Madonna erinnerte sie in ihrer Ungelenkigkeit an das Stilisierte jener mystischen Gestalten, Schwestern der Isis und der Götterbilder der altägyptischen Skulptur. Sie war wandelnder Granit, Basalt oder Porphyr. Seit sie bis ans Ende ihres Lebens vor Not geschützt war, hatte sie die liebenswürdigste Laune. Wo sie zu Tisch erschien, brachte sie Fröhlichkeit mit. Übrigens bezahlte ihr der Baron die Miete der kleinen Wohnung, in die, wie wir wissen, das alte Mobiliar aus dem Boudoir und dem Schlafzimmer ihrer Freundin Valerie gekommen war.

»Ich habe das Leben so richtig als verhungerte Katze begonnen«, pflegte sie zu sagen, »und ich beschließe es als Löwin.«

Übrigens verfertigte sie nach wie vor die schwierigsten Stickereien für die Firma Rivet, einzig und allein, wie sie sagte, um die Zeit nicht zu vergeuden. Dabei war ihr Leben, wie man noch sehen wird, außerordentlich beschäftigungsreich. Es steckt nun einmal in den vom Lande stammenden Menschen tief drinnen, daß sie keine Gelegenheit, sich etwas zu verdienen, unausgenutzt lassen. Darin gleichen sie den Juden.

Jeden Morgen ging Lisbeth ganz zeitig mit der Köchin in die Markthalle. Das Ausgabenbuch, das den Baron zugrunde richtete, sollte ihre geliebte Valerie bereichern. Und in der Tat geschah es. Es gibt keine Hausfrau, die seit 1838 nicht die unheilvollen Wirkungen der antisozialen Theorien erfahren hätte, die durch mordbrennerische Schriftsteller in den unteren Volksschichten verbreitet worden sind. In allen Haushaltungen ist heutzutage die Dienstbotenfrage auch der finanziell wunde Punkt. Mit ganz seltenen Ausnahmen sind Koch und Köchin Hausdiebe, in Lohn genommene Räuber, denen die Gesetze obendrein noch freundlich beistehen. Wo diese Dienstboten ehedem einen Taler bekamen, den sie in der Lotterie verspielten, nehmen sie heutzutage fünfzig Francs, die auf die Sparkasse wandern. Dabei bilden sich die langweiligen Tugendbolde, die zu ihrem Vergnügen philanthropische Experimente in Frankreich anstellen, noch ein, sie hätten das Volk moralisch gehoben. Zwischen dem Tisch der Herrschaft und dem Markt haben die Dienstboten einen geheimen Zoll eingerichtet. Außer dem Aufschlage, den sie auf die Lebensmittel legen, fordern sie auch noch von den Händlern einen hohen Rabatt. Die Kaufleute zittern vor dieser geheimen Macht. Ohne Einspruch besolden sie das ganze Gesindel. Wer den Versuch der Nachrechnung macht, dem antworten die Dienstboten mit Unverschämtheiten oder sie fügen ihm unter dem Mantel der Ungeschicklichkeit großen Schaden zu. Heutzutage ziehen die Dienstboten Erkundigungen über die Herrschaft ein, genauso wie es ehedem die Herrschaft über die Dienstboten tat. Die Statistik schweigt über die erschreckliche Zahl von Eheschließungen zwischen zwanzigjährigen Arbeitern und vierzig- bis fünfzigjährigen ehemaligen Köchinnen, die durch Diebstahl zu Vermögen gekommen sind. Die Folgen derartiger Ehen sind in dreifacher Hinsicht beklagenswert: der Haushalt verteuert, das Verbrechertum gefördert und die Rasse verschlechtert. Vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus ist die durch die Dienstbotendiebstähle verursachte Schädigung riesig. Das dadurch um das Doppelte verteuerte Leben macht in vielen Familien jeden Luxus unmöglich. Der halbe Handel im Lande beruht aber auf dem Luxus. Und dann ist er der Schmuck des Lebens. Blumen und Bücher sind vielen Menschen ebenso unentbehrlich wie das Brot.

Mit dieser Pariser Dienstbotennot wohlbekannt, hatte Lisbeth aus den tiefsten Vogesen eine Verwandte mütterlicherseits ins Marneffesche Haus gezogen, die ehemalige Köchin des Bischofs von Nancy, eine fromme und grundehrliche alte Jungfer. Trotzdem fürchtete sie die Unerfahrenheit ihrer Verwandten in den Pariser Verhältnissen und vor allem die schlechten Ratschläge, die so oft die immerhin gebrechliche Ehrlichkeit zum Straucheln bringen, und so begleitete sie Mathurine – so hieß die Köchin –, um ihr die Kunst des Einkaufens beizubringen. Den richtigen Preis der Waren kennen, damit die Verkäufer Achtung vor einem bekommen, alles zur rechten Jahreszeit kaufen, zum Beispiel Fische, wenn sie nicht teuer sind, unterrichtet sein über die Preisschwankungen, die Steigerungen voraus wissen und bei niedrigen Preisen einkaufen, dieser wirtschaftliche Sinn ist in Paris die Hauptbedingung eines sparsamen Haushaltes. Da Mathurine hohen Lohn bezog, den Trinkgelder vermehrten, war sie anhänglich genug, um sich selber an billigen Einkäufen zu freuen. So wetteiferte sie seit einiger Zeit mit Lisbeth. Bald hielt diese sie für genügend ausgebildet und genügend zuverlässig, so daß sie selbst nur noch an den Tagen in die Markthalle ging, an denen Valerie Tischgäste erwartete. Das geschah übrigens ziemlich häufig, und zwar kam das so. Anfangs hatte der Baron strengstens den Schein gewahrt; aber seine Leidenschaft für Frau Marneffe ward in kurzer Zeit so heftig und begehrlich, daß er so wenig wie nur möglich von ihr getrennt sein wollte. Erst kam er viermal in der Woche zu Tisch, bald aber fand er es reizend, sich täglich einzustellen. Ein halbes Jahr nach der Heirat seiner Tochter gab er Frau Marneffe monatlich zweitausend Francs. Valerie lud jeden ein, den ihr geliebter Baron zu bewirten wünschte. Das Essen war immer für sechs Personen berechnet. Der Baron konnte drei Gäste ohne Ansage mitbringen. Lisbeth löste durch ihre Sparsamkeit die ungewöhnliche Aufgabe, einen reichlichen Mittagstisch für monatlich tausend Francs zu liefern und tausend Francs für Frau Marneffe zu erübrigen. Da Valeries Toiletten von Crevel und dem Baron mehr denn bezahlt wurden, so erübrigten die beiden Freundinnen, wie gesagt, monatlich tausend Francs. So hatte sich die »anständige, aufrichtige, feinfühlige Frau« bereits einhundertfünfzigtausend Francs gespart. Die Zinsen schlug sie zum Kapital, das sich auch durch namhafte Gewinne vermehrte. Crevel ließ ihr Geld nämlich bei seinen glücklichen Börsenspekulationen mitarbeiten. Er hatte sie in das Spekulationswesen eingeweiht, und wie alle Pariserinnen war sie ihrem Lehrmeister sehr bald überlegen. Lisbeth, die von ihren zwölfhundert Francs keinen roten Heller ausgab, da ihr Miete und Kleidung bezahlt wurden, besaß gleichfalls ein kleines Kapital von fünf- bis sechstausend Francs, das ihr Crevel in väterlicher Weise verzinste.

Bei alledem war die Liebschaft mit dem Baron und mit Crevel ein schweres Joch für Valerie. An dem Tage, wo unsere Erzählung ihren Fortlauf nimmt, war sie zu Lisbeth hinaufgegangen, um ihr einmal ihr Herz auszuschütten.

»Meine liebe Lisbeth«, klagte sie, »sich zwei Stunden mit dem Crevel abgeben zu müssen, das ist recht lästig. Ich wünschte, du könntest mich vertreten!«

»Das geht leider nicht«, meinte Lisbeth lachend. »Ich will als Jungfrau sterben!«

»Diesen beiden alten Kerlen anzugehören – ach, es gibt Augenblicke, wo ich mich vor mir selber schäme! Wenn meine arme Mutter mich sähe!«

»Du denkst wohl, du hättest Crevel vor dir!« spottete Lisbeth.

»Sag einmal, beste Lisbeth, verachtest du mich denn nicht?«

»Wenn ich hübsch gewesen wäre, dann hätte ich . . . tausend Abenteuer erlebt. Somit habe ich dir nichts vorzuwerfen.«

»Aber du hättest dabei auf dein Herz gehört!« seufzte Valerie.

»Unsinn! Dein Mann ist ein Toter, den man bloß vergessen hat zu begraben. Der Baron ist dein eigentlicher Gatte, Crevel dein Hausfreund. Ich wüßte also nicht, was da nicht ebenso in schönster Ordnung wäre wie bei allen andern verheirateten Frauen.«

»Nein, nein! Darum handelt es sich ja gar nicht, verehrteste Freundin. Daher rührt mein Kummer nicht. Du willst mich nicht verstehen.«

»Aber doch!« rief die Lothringerin aus. »Der heimliche Vorbehalt ist ja ein Teil meiner Rache. Was willst du? Ich bin an der Arbeit.«

»Ich liebe Stanislaus; verzehre mich dabei und komme nicht an ihn heran!« sagte Valerie und breitete ihre Arme aus. »Hulot ladet ihn zu Tisch zu mir ein. Er nimmt nicht an. Er weiß nicht, wie vergöttert er wird, dieses Scheusal von einem Manne. Was ist seine Frau? Ein schöner Körper. Gewiß, sie ist schön, aber ich, das fühle ich, ich bin gefährlicher!«

»Beruhige dich, Kleinchen!« sagte Lisbeth wie eine Kinderfrau zu einem unruhigen Kinde. »Ich werde ihn . . .«

»Aber wann?«

»Vielleicht noch in dieser Woche.«

»Komm, laß dich umarmen!«

Die beiden Frauen waren also ein Herz und eine Seele. Alles, was Valerie tat, selbst das Törichtste, ihre Vergnügungen, ihre Launen, alles ward vorher von den beiden reiflich überlegt. Lisbeth, die von diesem Dirnenleben seltsam angeregt wurde, beriet die Freundin in allem. Dabei baute sie mit mitleidloser Logik weiter an ihrer Rache. Übrigens war sie in Valerie vernarrt; sie sah in ihr die Freundin, die Tochter, den Geliebten. In ihrer hündischen Unterwürfigkeit empfand sie süßeste Wollust. Ihre Plaudereien jeden Morgen gewährten ihr mehr Vergnügen als einst die mit Stanislaus. Sie lachten zusammen über ihre gemeinsamen Bosheiten und über die Dummheit der Männer. Sie rechneten zusammen das Anwachsen ihrer immer ansehnlicheren Kapitalien aus. Übrigens hatte Lisbeth in ihrer neuen Freundschaft und ihrem neuen Leben ein viel ergiebigeres Arbeitsfeld für ihren Tatendrang gefunden als ehedem in ihrer sinnlosen Liebe zu Stanislaus. Die Genüsse des befriedigten Hasses sind die heißesten und stärksten Herzensfreuden. Die Liebe ist gewissermaßen das Gold und der Haß das Eisen im Schacht der Gefühle in uns. Die Menschen beten mit Vorliebe an, was sie selbst nicht besitzen. Bei ihren Erfolgen war Valerie in Lisbeths Augen die Verkörperung der Schönheit, und zwar einer Schönheit, die ihr viel liebenswerter dünkte als die des Bildhauers, der ihr gegenüber immer kalt und gefühllos gewesen war.

Nach drei Jahren nahm Lisbeth bereits die Fortschritte ihres heimlichen Zerstörungswerkes wahr, dem sie ihr ganzes Leben und all ihr Sinnen und Trachten weihte. Sie machte Frau Marneffe zur handelnden Person. Aber dabei war diese nur das Beil und Lisbeth die Hand, die es führte. Und diese Hand zertrümmerte mit raschen Schlägen jene Familie, die ihr von Tag zu Tag verhaßter wurde. Es ist mit dem Haß wie mit der Liebe. Wenn man liebt, liebt man alle Tage mehr. Liebe und Haß sind Gefühle, die sich durch sich selbst ernähren, nur daß der Haß langlebiger ist. Der Born der Liebe ist nicht unerschöpflich. Die Liebe lebt von den überschüssigen Kräften im Menschen. Der Haß aber gleicht dem Tode. Er lebt von nichts, ähnlich wie der Geiz. Er ist etwas negativ Lebendiges, etwas, das über dem Leben und den Dingen steht.

Lisbeth hatte einen Beruf gefunden, zu dem sie wie geschaffen war. Sie entfaltete dabei alle ihre Fähigkeiten. Sie ward wie das Jesuitentum zu einer geheimen Macht. Sie entwickelte sich zu einer vollen Persönlichkeit. Ihr Gesicht leuchtete. Sie träumte davon, die Marschallin Hulot zu werden.

Jene rückhaltlose Aussprache der geheimsten Gedanken der beiden Freundinnen hatte unmittelbar nach Lisbeths Rückkehr von der Markthalle stattgefunden. Sie hatte dort das Nötige zu einem erlesenen Abendessen besorgt. Marneffe, der nach dem Kanzleidirektorposten trachtete, den ein gewisser Coquet einnahm, hatte diesen samt seiner spießbürgerlichen Frau eingeladen. Valerie hoffte, die Pensionierung dieses Beamten bei Hulot noch am Abend durchzusetzen.

 


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