Honoré de Balzac
Tante Lisbeth
Honoré de Balzac

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Lisbeth kleidete sich an, um zur Baronin zu gehen, wo sie zu Mittag essen wollte.

»Du kommst doch zurück, um den Tee zu reichen, liebe Lisbeth?« fragte Valerie.

»Ich hoffe.«

»Was, du hoffst bloß? Willst du mit Adeline zusammen schlafen, um ihre nächtlichen Träume zu trinken?«

»Wenn ich das könnte!« antwortete Lisbeth lachend. »Das möchte ich! Sie büßt für ihr Glück. Ich bin selig. Ich erinnere mich meiner Kindertage. Es kommt jeder einmal dran im Leben! Sie soll im Rinnstein sterben, und ich, ich will Gräfin von Pforzheim werden!«

Tante Lisbeth begab sich nach der Rue Plumet. Seit einiger Zeit ging sie dahin wie zu einem Schauspiel, um sich an Gefühlserregungen zu weiden.

Die von Hulot für seine Frau ausgesuchte Wohnung bestand aus einem weitläufigen Vorzimmer, einem Salon, einem Schlafzimmer nebst Ankleideraum. Das Eßzimmer stieß an den Salon. Zwei Dienstbotenstuben und die Küche, im dritten Stock gelegen, vervollständigten die Wohnung, die für einen Staatsrat und Abteilungschef im Kriegsministerium noch ganz standesgemäß war. Haus, Hof und Treppe waren hochherrschaftlich. Die Baronin hatte den Salon, ihr Zimmer und das Eßzimmer mit den Überbleibseln vergangenen Glanzes ausschmücken müssen; sie hatte die besten Stücke aus der alten Wohnung ausgewählt. Übrigens hing sie an diesen stummen Zeugen ihres einstigen Glücks. Sie sprachen ihr gleichsam Trost zu. Sie sah die Blumen in ihren Erinnerungen genauso, wie sie auf den alten Teppichen die für andere Augen kaum mehr sichtbaren Rosen noch erkannte.

Wenn man in das weite Vorzimmer mit seinem Dutzend Stühlen, einem großen Ofen, einem Barometer, langen weißen Kattunvorhängen mit roten Kanten trat, bekam man Herzbeklemmung. Das sah alles aus wie in den gräßlichen Wartezimmern der Ministerien. Man ahnte sofort, in welcher Einsamkeit diese Frau lebte. Lust wie Leid schaffen sich ihre Umwelt. Man weiß auf den ersten Blick, den man in ein Interieur wirft, ob da Liebe oder Verzweiflung haust.

Adelines geräumiges Schlafzimmer war mit guten Möbeln aus der Werkstatt von Jakob Desmalters eingerichtet: Mahagoni mit dem Zierat des Empirestils, jenem Bronzebeschlag, dem es gelungen ist, noch kälter zu wirken als der Stil Louis-Seize. Es stimmte einen wehmütig, diese Frau auf dem Empiresessel vor den Sphinxen ihres Nähtisches sitzen zu sehen. Sie sah sehr blaß aus, und ihre zur Schau getragene Heiterkeit war nicht echt. Sie wahrte ihre Empire-Würde ebenso wie ihr Empire-Hauskleid aus blauem Samt. Der Stolz hielt ihr Körper und Schönheit aufrecht.

Am Ende des ersten Jahres ihres Exils in dieser neuen Wohnung war sie sich ihres Unglücks völlig klar.

»Als mein Hektor mich hierher verbannte, hat er mir das Leben immer noch schöner gestaltet, als es einem schlichten Bauernkinde zusteht. Er will es so. Sein Wille geschehe! Ich bin die Baronin Hulot, die Schwägerin eines Marschalls von Frankreich. Ich habe nicht das geringste Schlechte begangen. Meine beiden Kinder sind versorgt. Ich kann dem Tod ins Auge sehen, gehüllt in den reinen Schleier der Frauentreue und in den Trauerflor des entschwundenen Glücks!«

Hulots Porträt, gemalt von Robert Lefebvre im Jahre 1810, in der Uniform eines Oberkriegskommissars der kaiserlichen Garde, hing über ihrem Nähtisch. Wenn Besuch angemeldet wurde, versteckte Adeline ihr alltägliches Lesebuch: »Die Nachfolge Christi des Thomas a Kempis.«

»Liebe Mariette«, begrüßte Lisbeth die Köchin, die ihr die Tür öffnete, »wie geht es meiner verehrten Kusine?«

»Ach, äußerlich ganz gut, gnädiges Fräulein. Aber, unter uns gesagt, wenn sie bei ihren Ideen verharrt, wird sie sich zugrunde richten.« Mariette sprach ganz leise. »Sie sollten ihr zureden, besser zu leben. Gestern hat mir die gnädige Frau befohlen, ihr von jetzt an zum Frühstück für einen Groschen Milch und ein Dreierbrötchen zu bringen. Als Mittagessen soll ich ihr einen Hering auftragen oder ein bißchen kalten Aufschnitt. Dabei soll ich die Woche nicht mehr als ein Pfund Fleisch kochen, selbstverständlich wenn sie allein zu Tisch ist. Sie will für ihr Essen nicht mehr als täglich fünf Groschen ausgeben. Das ist unvernünftig. Wenn ich den schönen Plan dem Herrn Marschall erzählte, würde er sich mit dem Herrn Baron überwerfen und ihn enterben. Sie sind so gut und so gescheit. Sie müssen die Sache wieder ins Lot bringen!«

»Warum wenden Sie sich nicht an meinen Vetter?« fragte Lisbeth.

»Ach, liebstes gnädigstes Fräulein, der ist ja seit etwa drei Wochen nicht hiergewesen. Man kriegt ihn gar nicht mehr zu sehen. Übrigens hat mir die gnädige Frau bei sofortiger Entlassung verboten, den gnädigen Herrn je um Geld zu bitten. Ja, ja, die arme gnädige Frau hat ihren Kummer. Aber es ist das erstemal, daß der Herr sie so lange Zeit vergißt. Jedesmal, wenn es läutet, stürzte sie ans Fenster; aber seit fünf Tagen kommt sie nicht aus ihrem Lehnstuhl. Sie liest. Wenn sie zur Frau Gräfin geht, trägt sie mir immer auf: ›Mariette, wenn der Herr kommen sollte, dann sagen Sie, ich sei da, und schicken Sie schnell den Pförtner zu mir. Er soll ein gutes Trinkgeld bekommen.‹«

»Ärmste Kusine!« heuchelte Lisbeth. »Das ist ja herzergreifend. Alle Tage spreche ich mit meinem Vetter davon. ›Du hast recht‹, sagt er, ›ich bin ein schlechter Mensch. Meine Frau ist ein Engel. Morgen gehe ich zu ihr!‹ Und doch bleibt er immer wieder bei Frau Marneffe. Dieses Weib richtet ihn zugrunde, und er betet sie an. Er vermag ohne sie nicht zu leben. Ich will aber tun, was ich kann.«

»Wenn Sie der gnädigen Frau eine Freude bereiten wollen, dann sprechen Sie vom Herrn Baron. Sie beneidet Sie um das Glück, ihn täglich zu sehen.«

»Ist sie allein?«

»Der Herr Marschall ist da. Er kommt täglich, und die gnädige Frau sagt ihm immer, der Herr Baron sei früh weggegangen und käme erst spät in der Nacht wieder.«

»Gibt es heute etwas Gutes zu essen?« forschte Lisbeth.

Mariette zögerte mit der Antwort. Lisbeths Blick machte sie unruhig. Da öffnete sich die Salontür, und der Marschall Hulot kam herausgestürzt. Er grüßte Lisbeth, ohne sie recht anzusehen. In diesem Augenblick verlor er ein Stück Papier. Lisbeth raffte es schnell auf und lief ihm auf der Treppe nach. Einem Schwerhörigen nachzurufen hat keinen Zweck; Lisbeth tat aber so, als ob sie es vergeblich versuchte. Beim Zurückkommen las sie das Bleistiftgekritzel verstohlen:

»Lieber Schwager. Mein Mann hat mir mein Ausgabegeld für ein Vierteljahr gegeben, aber Hortense brauchte sehr nötig Geld, und da habe ich ihr die ganze Summe geliehen. Sie genügte ihr kaum, um aus ihrer Verlegenheit zu kommen. Kannst Du mir ein paar hundert Francs vorstrecken? Ich möchte nämlich Hektor nicht nochmals um Geld bitten. Ein Vorwurf von ihm wäre mir allzu schmerzlich.

Adeline.«

Aha! dachte Lisbeth bei sich. In was für großer Not mag sie stecken, wenn sie sich so demütigt!

Als sie eintrat, überraschte sie Adeline in Tränen. Sie flog ihr an den Hals.

»Adeline, Liebste, Beste, ich weiß alles!« rief sie aus. »Sieh, der Marschall hat diesen Zettel verloren, so aufgeregt war er. Er rannte wie ein Windhund davon. Dieser schändliche Hektor hat dir kein Geld gegeben seit . . .«

»Er gibt es mir sehr pünktlich«, unterbrach die Baronin ihre Kusine, »aber wie gesagt, Hortense brauchte es . . .«

»Und du hast nicht einmal so viel, um das Mittagessen für uns zu bestreiten? Jetzt verstehe ich Mariettes verlegenes Gesicht, als ich sie nach der Suppe fragte. Darf ich dir meine Ersparnisse geben, Adeline?«

»Ich danke dir, meine gute Lisbeth«, gab die Baronin zur Antwort, indem sie sich die Augen trocknete. »Die kleine Verlegenheit ist nur momentan. Für die Zukunft ist gesorgt. Meine Ausgaben werden fortan nur zweitausendvierhundert Francs im Jahre betragen, einschließlich der Miete. Und das werde ich haben. Vor allem, Lisbeth, darf Hektor kein Wort davon erfahren. Geht es ihm gut?«

»Wie dem Fisch im Wasser! Der Schwerenöter! Er ist ganz im Banne seiner Valerie.«

Frau von Hulot verlor sich in der Betrachtung einer hohen Silbertanne, die sich im Sehbereich ihres Fensters erhob. So konnte Lisbeth nicht sehen, was in den Augen ihrer Kusine geschrieben stand.

»Hast du ihn daran erinnert, daß heute der Tag ist, an dem wir hier bei Tisch zusammenkommen?«

»Gewiß. Aber Frau Marneffe gibt ein großes Diner. Sie hofft, die Pensionierung Coquets durchzusetzen, und das geht allem andern vor! Hör mich mal an, Adeline! Du kennst doch meinen Dickkopf in puncto Unabhängigkeit. Dein Mann wird dich todsicher ruinieren. Ich habe geglaubt, euch allen gute Dienste bei dieser Marneffe zu leisten. Aber sie ist eine grenzenlos verdorbene Kreatur. Sie wird deinen Mann noch zu Dingen verleiten, die euch alle in Schande stürzen . . .«

Adeline zuckte zusammen wie jemand, der einen Dolchstoß ins Herz empfängt.

»Ja, liebe Adeline, des bin ich sicher! Ich muß versuchen, dich aufzuklären. Denken wir also einmal an die Zukunft! Der Marschall ist alt, aber er tut noch sein bißchen Dienst und bezieht ein schönes Gehalt. Wenn er einmal stirbt, bekommt seine Witwe sechstausend Francs Pension. Wenn ich sie bekäme, könnte ich euch alle miteinander erhalten. Mache deinen Einfluß auf den guten Mann geltend, daß wir uns heiraten. Nicht, damit ich Frau Marschall werde. Darauf pfeife ich. Nur damit ihr euer täglich Brot habt. Ich sehe, Hortense hat es nicht, da du ihr das deine gibst.«

Der Marschall kam zurück. Der alte Soldat war dermaßen gelaufen, daß er sich die Stirn mit dem seidenen Taschentuch abwischen mußte.

»Ich habe Mariette zweitausend Francs eingehändigt«, flüsterte er seiner Schwägerin ins Ohr. Adeline wurde über und über rot. Zwei Tränen hingen ihr an den noch immer langen Wimpern. Sie drückte dem alten Herrn stumm die Hand. Er sah aus wie ein glücklich Liebender.

»Ich wollte dir mit der Summe sowieso ein Geschenk machen«, fuhr er fort. »Gib sie mir also nicht zurück, sondern wähle dir dafür selber aus, was dir gefällt!«

Vor Freude ganz zerstreut, ergriff er die Hand, die ihm Lisbeth entgegenstreckte, und küßte sie.

»Das ist vielversprechend!« bemerkte Adeline zu Lisbeth, wobei sie lächelte, soweit sie das vermochte.

In dem Augenblick stellten sich die jungen Hulots ein.

»Mein Bruder kommt doch zu Tisch?« fragte der Marschall in seiner kurzen Art.

Adeline nahm einen Bleistift und schrieb folgende Worte auf ein Kärtchen:

»Ich erwarte ihn. Er hat mir heute früh versprochen, zu Tisch hier zu sein. Wenn er aber nicht kommen sollte, dann wird ihn wohl der Minister daran gehindert haben. Er ist nämlich mit Arbeiten überhäuft.«

Sie reichte ihm das Kärtchen hin. Adeline hatte diese Art Unterhaltung für den Schwerhörigen erfunden. Ein Vorrat von Kärtchen lag nebst einem Bleistift immer auf ihrem Nähtisch.

»Ja, ja«, gab der Marschall zurück, »er hat eine Menge zu tun mit den Angelegenheiten in Algier.«

In dem Augenblick traten Hortense und Stanislaus ein. Als die Baronin ihre Familie um sich sah, warf sie auf den Marschall einen Blick, dessen Sinn nur von Lisbeth verstanden wurde.

Das Glück hatte den Künstler beträchtlich verschönt. Er ward von seiner Frau angebetet und von der Gesellschaft verhätschelt. Sein Gesicht war fast voll geworden, und seine elegante Gestalt brachte alle Reize seiner edlen Rasse zur Geltung. Sein allzu früher Ruhm, seine Wichtigkeit, die Schmeicheleien, die die Welt den Künstlern zollt, ohne sich viel dabei zu denken, verliehen ihm jenes Selbstbewußtsein, das in Geckenhaftigkeit ausartet, je mehr sich das Talent verflüchtigt. Das Kreuz der Ehrenlegion vervollständigte in seinen eigenen Augen den großen Mann, der zu sein er sich einbildete.

Nach dreijähriger Ehe war Hortense die völlige Sklavin ihres Mannes. Sie antwortete auf die geringste Bewegung von ihm mit einem Blicke, der immer wie eine Frage aussah. Sie wandte kein Auge von ihm, wie ein Geiziger von seinem Gelde. Ihre selbstlose Bewunderung war geradezu rührend. Man erkannte an ihr den Geist und die Ratschläge ihrer Mutter. Die Schönheit war ihr geblieben, nur war sie ätherischer geworden durch einen zarten Schatten heimlicher Melancholie.

Als Lisbeth die Gräfin eintreten sah, meinte sie, die so lange verhaltene Klage werde die schwache Hülle der Verschwiegenheit durchbrechen. Die alte Jungfer war bereits am ersten Tage des Honigmonds der Ansicht, daß die junge Ehe viel zu wenig Einkünfte für eine so große Leidenschaft habe.

Als Hortense ihre Mutter umarmte, wechselte sie mit ihr von Mund zu Mund und von Herz zu Herz ein paar Worte, deren Geheimnis Lisbeth aus Adelines Kopfschütteln erriet.

Adeline wird noch wie ich einst arbeiten müssen, um ihr Leben zu fristen! sagte sie sich. Sie muß mich über ihre Absichten auf dem laufenden halten. Ihre zarten Finger sollen doch noch erfahren, was Zwangsarbeit ist.

Um sechs Uhr begab sich die Familie in das Eßzimmer. Für Hektor lag ein Gedeck bereit.

»Lassen Sie es, Mariette!« befahl die Baronin. »Der Herr verspätet sich zuweilen.«

»Gewiß, Vater wird kommen«, bestätigte der junge Hulot seiner Mutter. »Er hat es mir beim Gehen im Abgeordnetenhause versprochen.«

Lisbeth beobachtete – wie eine Spinne in der Mitte ihres Netzes – aller Mienen. Da sie Hortense und Viktor hatte heranwachsen sehen, war sie gewohnt, durch den Spiegel ihrer Gesichter in ihren Seelen zu lesen. Aus gewissen Blicken, die Viktor seiner Mutter verstohlen zuwarf, erkannte sie, daß irgendein Unheil über Adeline hereinzubrechen drohte, das aber Viktor ihr zu enthüllen zögerte. Der berühmte junge Advokat war traurig gestimmt. Aus den Blicken, mit denen er schmerzerfüllt seine Mutter betrachtete, sprach seine Verehrung für sie. Hortense war sichtlich mit ihren Sorgen beschäftigt. Lisbeth wußte, daß sie seit einiger Zeit jene Unruhe in sich trug, die anständige Menschen bei Geldverlegenheiten empfinden, zumal junge Frauen, die das Leben nur von der heiteren Seite kennen und ihre Not verbergen wollen. Tante Lisbeth zweifelte keinen Augenblick, daß die Mutter ihrer Tochter nichts gegeben hatte. Die rücksichtsvolle Adeline hatte sich also dem Marschall gegenüber zu einer Unwahrheit verleiten lassen, wie sie einem die Not in Geldverlegenheit abpreßt.

Hortenses Versonnenheit, die Schweigsamkeit ihres Bruders und die tiefe Schwermut der Baronin stimmten die Mahlzeit trübselig. Dazu wirkte die Schwerhörigkeit des alten Marschalls sowieso schon drückend. Nur drei Personen belebten die Szene: Tante Lisbeth, Cölestine und Stanislaus. Die Liebe zu Hortense hatte in dem Künstler die Lebhaftigkeit zur Entfaltung gebracht, jene gewisse Gascognerie und liebenswürdige Ausgelassenheit, die Slawen und Südgallier gemeinsam haben. Sein Wesen wie seine Mienen verrieten deutlich genug, daß er an sich selber glaubte. Und die arme Hortense verbarg ihm, dem Rate ihrer Mutter getreu, all ihre häuslichen Sorgen.

»Du mußt doch sehr glücklich sein!« sagte Lisbeth zu ihr, als sie vom Tische aufstanden. »Deine Mutter hat dich aus der Verlegenheit gezogen, indem sie dir ihr Geld gegeben hat.«

»Mutter? Mir?« gab Hortense betroffen zur Antwort. »Die arme Mutter, für die ich am liebsten Geld erarbeiten möchte? Weißt du, Lisbeth, mitunter habe ich den schrecklichen Argwohn, sie könne insgeheim um Geld arbeiten.«

Man durchschritt den großen dunklen unerleuchteten Salon. Mariette folgte mit der Lampe aus dem Eßzimmer hinüber in das Schlafzimmer der Baronin. In diesem Moment zupfte Viktor Lisbeth und Hortense am Arm. Die beiden begriffen das Zeichen. Indem sie Stanislaus, Cölestine, den Marschall und die Baronin weitergehen ließen, blieben sie in einer Fensternische zusammen stehen.

»Was ist los, Viktor?« fragte Lisbeth. »Ich wette, dein Vater hat irgendein Unheil angestiftet.«

»So ist es!« gab Viktor zur Antwort. »Ein Wucherer namens Vauvinet hat für sechzigtausend Francs Wechsel vom Vater und will sie einklagen. Ich habe mit Vater im Abgeordnetenhaus über die bedauerliche Angelegenheit sprechen wollen, aber er ließ sich auf nichts ein. Er ist mir geradezu aus dem Wege gegangen. Soll ich Mutter davon in Kenntnis setzen?«

»Auf keinen Fall!« erklärte Lisbeth. »Sie hat schon genug Sorgen. Das wäre ihr Tod. Man muß sie schonen. Ihr ahnt nicht, wie es um sie steht. Ohne euren Onkel hätten wir heute an einem leeren Tisch gesessen.«

»Mein Gott, Viktor, wir sind gefühllose Geschöpfe!« rief Hortense aus. »Was uns Lisbeth mitteilt, hätten wir von selber merken müssen! Das Mittagessen sitzt mir in der Kehle.«

Hortense vermochte nicht weiterzusprechen. Sie hielt sich das Taschentuch vor den Mund, um nicht in lautes Schluchzen auszubrechen. Sie weinte vor sich hin.

Viktor fuhr fort: »Ich habe diesem Vauvinet gesagt, er solle mich morgen aufsuchen. Wird er sich aber mit der hypothekarischen Sicherheit, die ich ihm bieten kann, begnügen? Ich bezweifle es. Solche Kerle wollen bar Geld sehen, um weiter wuchern zu können.«

»Verkaufen wir unsere Rente!« schlug Lisbeth Hortense vor.

»Was nützt das?« wehrte Viktor ab. »Fünfzehn- oder sechzehntausend Francs ergeben sie, wo sechzigtausend nötig sind!«

Hortense fiel Lisbeth mit der Begeisterung des reinen Herzens um den Hals: »Liebste Tante!«

»Nein, Lisbeth«, erklärte Viktor, indem er die Hand der Lothringerin drückte, »behalte du dein bißchen Vermögen. Ich will morgen hören, was der Mann vorhat. Wenn meine Frau einverstanden ist, werde ich das gerichtliche Verfahren verhindern oder Aufschub erlangen. Es handelt sich um das Ansehen meines Vaters! Das wäre ja schrecklich! Was würde der Kriegsminister dazu sagen! Vaters Gehalt ist auf drei Jahre verpfändet und wird erst im Dezember wieder frei. Somit kann es auch nicht als Sicherheit angeboten werden. Dieser Vauvinet hat die Wechsel bereits elfmal prolongiert. Ihr könnt daraus berechnen, was für Summen der Vater an Wucherzinsen bezahlt haben muß. Die unselige Sache muß aus der Welt geschafft werden!«

»Wenn Frau Marneffe ihn nur lassen wollte!« bemerkte Hortense in bitterem Tone.

»Gott bewahre uns davor!« rief Viktor aus. »Der Vater würde nur neue Dummheiten machen. Hier sind die größten Kosten bereits überstanden.«

Wie anders hatten die beiden Kinder dereinst von ihrem Vater gedacht.

»Ohne mich hätte sich euer Vater noch mehr ruiniert als so«, bemerkte Lisbeth.

»Gehen wir hinüber!« forderte Hortense auf. »Mutter ist klug. Sie wird irgend etwas argwöhnen. Dem Rate unsrer guten Lisbeth folgend, wollen wir ihr nichts sagen. Wir wollen uns stellen, als seien wir guter Dinge!«

»Viktor«, flüsterte Lisbeth, »du weißt nicht, was euch eures Vaters Schwäche für die Frauen noch bringen wird. Sichert euch eine Geldquelle, indem ihr mich mit dem Marschall verheiratet. Ihr solltet ihn alle heute abend dazu bereden. Ich werde mich zeitig empfehlen.«

Viktor ging in das Zimmer.

»So ist es nun, armes Kindchen«, sagte Lisbeth ganz leise zu Hortense, »und was wirst du machen?«

»Komm morgen zu uns zu Tisch«, gab sie zur Antwort. »Wir werden uns aussprechen. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Du, du kennst die Leiden des Lebens. Du wirst mich beraten.«

 

Während die versammelte Familie Hulot den Marschall zum Heiraten zu bewegen suchte und Lisbeth nach der Rue Vanneau heimging, ereignete sich daselbst einer jener Zufälle, die Frauennaturen wie Valerie Matneffe zu Meisterinnen des Lasters machen und sie zwingen, alle Kriegsmittel der Verdorbenheit ins Feld zu führen. In Paris ist das Leben viel zu kompliziert, als daß die Menschen Böses aus Hang zum Bösen begehen. Sie verteidigen sich gegen den Ansturm des Lebens mit Hilfe des Bösen. Mehr tun sie nicht.

In Frau Marneffes Salon waren ihre Getreuen vereint. Eben hatte sie die Whisttische in Gang gebracht, als der Diener, ein gedienter Soldat, den ihr der Baron besorgt hatte, meldete:

»Herr Marquis Montes von Montejanos!«

Valerie empfand einen heftigen Krampf um das Herz. Aber rasch eilte sie zur Tür und rief aus:

»Vetter, du!«

Dicht vor dem Brasilianer flüsterte sie ihm zu:

»Du bist ein Verwandter von mir, oder zwischen uns ist alles aus!« Laut sagte sie, indem sie den Eintretenden zum Kamin geleitete: »Famos! So ist dein Schiff also doch nicht untergegangen, lieber Heinrich! Man hat es mir berichtet, und ich habe dich seit drei Jahren betrauert . . .«

»Guten Tag, Verehrter!« begrüßte ihn Marneffe, indem er ihm die Hand bot. Der Brasilianer stand so recht wie ein südamerikanischer Millionär da.

Montes von Montejanos war vom Tropenklima braun gebrannt; robust, wie er war, sah er aus wie Othello auf dem Theater. Seine finsteren Mienen erregten Furcht; indessen war das eine rein äußerliche Wirkung. Innerlich sanft und zärtlich, war er vielmehr, wie so viele körperlich starke Männer, ein prädestiniertes Opfer der Herrschaft schlauer Frauen. Sein Hochmut, den man ihm auf den ersten Blick ansah, seine körperliche Überlegenheit, die sich durch seine gutgebaute Gestalt verriet, alle seine Kräfte entfalteten sich nur Männern gegenüber. Es liegt in solcher Art etwas Schmeichlerisches für die Frauen, und so berauschen sie sich gern daran.

In seinem blauen Rock mit Knöpfen aus purem Golde, den schwarzen Beinkleidern, tadellosen Lackstiefeln, modischen Handschuhen, der weißen Weste und seiner fabelhaft feinen Wäsche hatte der Marquis zu all seinem Luxus noch etwas ganz Exotisches an sich: einen Riesenbrillanten, etwa im Werte von hunderttausend Francs, der wie ein Stern auf seiner pompösen Krawatte aus blauer Seide funkelte. Seine Stirn, stark gewölbt wie die eines Satyrs – ein Zeichen von Starrsinn in der Leidenschaft –, verlief in einen Urwald von pechschwarzem Haar. Darunter blinkten zwei klare Augen mit einem merkwürdig fahlroten Schimmer; man hätte glauben mögen, die Mutter des Marquis wäre während ihrer Schwangerschaft von einem Jaguar erschreckt worden.

Dieses Prachtexemplar der portugiesisch-brasilianischen Rasse stand, den Rücken an den Kamin gelehnt, den Hut in der Hand, in einer Haltung, die Bekanntschaft mit den Pariser Sitten verriet. Gegen Frau Marneffe vorgeneigt, plauderte er leise mit ihr, indem er sich so gut wie gar nicht um die gräßlichen Spießbürger kümmerte, die seiner Meinung nach höchst überflüssigerweise den Salon füllten.

Das operettenhafte Auftauchen des Brasilianers, sein auffälliges Aussehen und Benehmen erregten in Crevel wie im Baron völlig gleiche Empfindungen von Neugier und Beklemmung. In beiden gelangten gleiche Ahnungen zu gleichem Ausdruck. Daher wirkte das Gebaren der beiden, hier wie da von wahrer Leidenschaft getrieben, durch seine Ähnlichkeit in den Bewegungen derartig komisch, daß jeder lächeln mußte, der Geist genug besaß, um hier eine Offenbarung zu erkennen. Crevel, Krämer und Spießbürger durch und durch bei all seiner Amtswürde, verblieb zu seinem Unglück länger betroffen als sein Leidensgefährte, und der Baron erfaßte den unfreiwilligen Selbstverrat Crevels. Das war ein weiterer Schlag für das Herz des verliebten alten Mannes. Er nahm sich vor, Valerie um eine Erklärung zu ersuchen.

Während Crevel seine Karten ordnete, dachte auch er bei sich: Heute abend muß es sich entscheiden!

»Sie haben also doch Coeur!« rief Marneffe. »Eben haben Sie es nicht zugegeben.«

»Ach, Verzeihung!« entschuldigte sich Crevel und bat um Rückgabe der falschen Karte.

Dieser Marquis da kommt mir überflüssig vor, fuhr er in seinem Selbstgespräch fort. Wenn ich mich mit dem lieben Baron in Valerie teile, so ist das nur meine Rache, und ich kann mich seiner entledigen, wenn ich will. Aber dieser neue Vetter da, der ist zuviel! Ich habe keine Lust, den Dummen zu spielen. Ich muß wissen, wie er mit ihr verwandt ist.

Gerade an dem Abend war Valerie dank einem jener glücklichen Zufälle, die hübschen Frauen immer begegnen, köstlich gekleidet. Ihre weiße Brust leuchtete aus Spitzen hervor, deren rötliche Farbe die mattschimmernden Schultern wundervoll zur Geltung brachte. Die Pariserinnen verstehen es – wer weiß wodurch? – voll zu sein und doch schlank zu erscheinen. Sie trug ein schwarzes Samtkleid, das jeden Augenblick herabzugleiten schien, und im Haar schimmerten Weinblüten.

»Valerie«, flüsterte der Brasilianer der jungen Frau zu, »ich bin dir treu geblieben. Mein Onkel ist gestorben, und ich bin nun doppelt so reich wie vor meiner Abreise. Ich will in Paris leben und sterben, bei dir und für dich!«

»Leiser, Heinrich, ich bitte dich!«

»Ach was! Am liebsten setzte ich die ganze Bande vor die Tür. Ich muß mit dir reden. Zwei Tage habe ich gebraucht, dich aufzustöbern. Ich werde als letzter zurückbleiben, ja?«

Valerie lächelte dem Pseudovetter zu und sagte:

»Du bist also der Sohn einer Schwester meiner Mutter!«

»Ich, Montes von Montejanos, Urenkel eines der Eroberer Brasiliens, ich soll lügen?«

»Leise, oder wir sind geschiedene Leute!«

»Warum nur?«

»Mein Mann ist neuerdings eifersüchtig . . .«

»Dieser Lakai?«

Der Brasilianer kannte seinen Mann.

»Ich werde ihm Geld geben!« warf er hin.

»Diese Heftigkeit!«

»Sag mal, woher stammt der Luxus?« fragte er mit einem Blick auf die Herrlichkeiten des Salons.

Valerie lachte. »Sei nicht so häßlich, Heinrich!«

Eben hatte sie zwei flammende Blicke der Eifersucht empfangen, die sie zwangen, nach den beiden tieferregten Personen zu sehen. Crevel spielte zusammen mit Marneffe gegen Hulot und Coquet. Da sowohl Crevel wie der Baron Fehler über Fehler machten, glichen sich die Spielkräfte aus. Valerie hatte es verstanden, daß die beiden alten Männer drei Jahre lang ihre Leidenschaft verborgen gehalten hatten. Jetzt verrieten sich beide zur selben Stunde. Aber auch sie hatte sich nicht genügend beherrscht. Ihre Augen hatten das Glück verkündet, das sie beim Wiedersehen dessen empfand, der ihr erster Herzliebster gewesen war. Die Rechte wirklicher Liebe reichen bis zum Tode der geliebten Frau.

Von diesen drei starken Leidenschaften fußte die eine auf der schamlosen Macht des Geldes, die andere auf dem Eigentumsrecht und die dritte auf Jugend, Kraft, Reichtum und Erstbesitz. Allen dreien gegenüber blieb Frau Marneffe ruhig und kaltblütig wie Bonaparte vor Mantua. Die Eifersucht entstellte Hulots Gesicht bis zur Grimasse. In seiner Rolle als »bel homme« hatte der Staatsrat die Eifersucht nie kennengelernt. Er war seiner Siege immer sicher gewesen. Seine Niederlage bei Josepha, die erste seines Lebens, schob er der Geldgier dieses Weibes zu; da hatten ihn die Millionen des Herzogs von Hérouville aus dem Sattel gehoben. Liebeszauber und die Verrücktheit der Eifersucht überschwemmten wie rasende Bergströme im Nu sein Herz. Er wandte sich vom Whisttische ab dem Kamin zu, legte seine Karten aus der Hand und warf einen herausfordernden Blick auf Valerie und den Brasilianer. Die Stammgäste des Salons verspürten jene Mischung von Neugier und Angst, die der Mensch empfindet, wenn eine wilde Macht jeden Augenblick loszubrechen droht. Der Pseudovetter betrachtete den Baron, als besichtige er einen alten chinesischen Porzellanpagoden. Die Situation konnte nicht lange währen, ohne zu einem schrecklichen Skandal zu führen. Marneffe zitterte für Hulot, denn er hatte keine Lust, lebenslang Kanzleisekretär zu bleiben. Todeskandidaten glauben an das Leben wie Zuchthäusler an die Freiheit. Er wollte um jeden Preis Kanzleidirektor werden. Erschrocken über das Benehmen des Barons und Crevels stand er auf und flüsterte seiner Frau ein paar Worte ins Ohr. Zum großen Erstaunen der Gesellschaft ging Valerie mit dem Brasilianer und ihrem Mann in ihr Schlafzimmer.

»Hat dir Frau Marneffe schon einmal was von dem Vetter da erzählt?« fragte Crevel den Baron.

»Niemals!« antwortete er und erhob sich. »Schluß für heute! Ich verliere vierzig Francs. Hier!«

Er warf zwei Goldstücke auf den Spieltisch und setzte sich auf den Diwan. Seine Miene gab das Zeichen zum allgemeinen Aufbruch. Herr und Frau Coquet verließen nach ein paar Redensarten den Salon; Claude Vignon folgte ihnen. Ihr Beispiel zog alle sich überflüssig Vorkommenden nach sich. Der Baron und Crevel saßen schließlich allein noch da, ohne miteinander zu sprechen. Hulot, der Crevels Anwesenheit vergaß, näherte sich auf den Fußspitzen der Schlafzimmertür, um zu horchen, prallte aber mit wunderlichem Sprunge zurück, weil Marneffe gerade die Tür öffnete. Vergnügten Angesichts erschien der und wunderte sich, daß nur noch die beiden da waren.

»Der Tee?« meinte er.

»Wo steckt denn Valerie?« fragte der Baron wütend.

»Meine Frau? Die ist zu Ihrer Fräulein Kusine hinaufgegangen. Sie kommt sofort wieder«, gab er zur Antwort.

»Wegen der alten Schachtel läßt sie uns hier sitzen?«

»Fräulein Lisbeth ist von der Frau Baronin, Ihrer Frau Gemahlin, mit einem verdorbenen Magen heimgekommen, und Mathurine hat von Valerie Tee erbeten. Da wollte nun meine Frau gleich selber nachsehen, was Ihrer Fräulein Kusine fehlt.«

»Und der Vetter?«

»Ist fort.«

»Glauben Sie das?« knirschte der Baron.

»Ich habe ihn selber an den Wagen begleitet.« Marneffe lachte häßlich.

Man hörte das Rollen eines Wagens. Der Baron ließ Marneffe stehen und ging zu Tante Lisbeth hinauf. Einer jener Einfälle überkam ihn, die einem durchs Hirn schießen, wenn das Herz vor Eifersucht brennt. Marneffes Gemeinheit kannte er zur Genüge. Natürlich steckt sie mit dem Kerl unter einer Decke! sagte er sich.

»Wohin sind denn unsere Herren und Damen alle?« fragte Marneffe, als er sich mit Crevel allein sah.

»Wenn die Sonne schlafen geht, verkriechen sich auch die Hühner«, brummte Crevel. »Frau Marneffe ist verschwunden, und weg sind die Verehrer. Ich schlage Ihnen eine Partie Pikett vor.«

Crevel hatte keine Lust zu gehen. Auch er glaubte, der Brasilianer sei noch im Hause.

Marneffe willigte ein. Crevel war genauso durchtrieben wie der Baron. Er konnte bei Marneffes bis ins Aschgraue bleiben, wenn er mit dem Ehemanne spielte, der sich seit der Unterdrückung der öffentlichen Spielhäuser mit diesem »lumpigen« Jeu begnügen mußte.

Hulot flog die Treppe hinauf; aber oben war die Tür verschlossen, und das übliche Hin- und Herfragen durch die Tür gewährte den beiden flinken und schlauen Frauen genügend Zeit, um eine kleine Krankenszene zu improvisieren.

Als der Baron eingelassen worden war, blickte er sich verstohlen im ganzen Stübchen um. Es gab wirklich nichts in diesem Schlafzimmer, das sich zum Verstecken eines Brasilianers geeignet hätte.

»Lisbeth, deine Magenverstimmung macht der Küche meiner Frau alle Ehre!« bemerkte er mit einem musternden Blick auf das alte Fräulein. Lisbeth, die munter wie ein Fisch im Wasser war, stöhnte vor Magenkrämpfen und nahm ihren Tee ein.

»Siehst du, wie gut es ist, daß unsere Lisbeth in unserm Hause wohnt? Ohne mich stürbe das arme Kind!« sagte Valerie.

»Du ziehst ein Gesicht, als glaubtest du nicht an mein Kranksein«, beschwerte sich Lisbeth. »Das wäre ruppig von dir!«

»Ach was!« sagte Hulot. »Du weißt also, warum ich heraufgekommen bin?«

Er schielte nach der Tür des Ankleidezimmers; der Schlüssel war abgezogen.

»Wir verstehen dich nicht!« erklärte Frau Marneffe im rührendsten Tone zärtlicher Liebe und verkannter Treue.

»Lieber Vetter«, behauptete Lisbeth, »du bist an allem schuld! Jawohl, deinetwegen habe ich mir den Magen verdorben!«

Diese nachdrückliche Bemerkung verschaffte ihr des Barons Augenmerk. Er sah sie voll Verwunderung an.

»Du weißt, daß ich immer auf deiner Seite stehe«, fuhr Lisbeth fort. »Schon daß ich hier bin, beweist das. Mit allen meinen Kräften sorge ich für dich und für Valerie. Wenn ich nicht wäre, brauchte sie den Monat statt zwei- unbedingt drei- oder viertausend Francs.«

»Weiß ich, weiß ich!« wehrte der Baron ungeduldig ab. »Du verstehst in den schwierigsten Fällen zu helfen!«

Er näherte sich Valerie und umschlang sie.

»Nicht wahr, mein Engel?«

»Bei Gott«, schrie Valerie auf, »ich glaube, du bist verrückt!«

»Gut!« fuhr Lisbeth fort. »Meine Anhänglichkeit an dich wird also von dir anerkannt. Aber ich liebe auch meine Kusine Adeline. Heute habe ich sie überrascht, wie sie weinte. Seit vier Wochen hast du dich nicht bei ihr sehen lassen! Ist das eine Sache? Dabei läßt du die Ärmste ohne Geld! Hortense wäre vor Schreck beinahe gestorben, als sie erfuhr, daß wir heute ohne die Hilfe deines Bruders unmöglich etwas zu essen bekommen hätten. Es war kein Bissen Brot in deinem Hause. Adeline hat den heldenmütigen Entschluß gefaßt, sich fortan allein zu helfen. Sie hat mir gesagt: »Ich will es wie du machen!« Diese Worte haben mir das Herz zerrissen. Ich muß seitdem immer wieder daran denken: Was war meine Kusine im Jahre 1811, und was ist sie heute, 1841, dreißig Jahre später! Das ist der Grund meines Unwohlseins! Ich dachte erst, es wäre weiter nichts; aber seitdem ich wieder zu Hause bin, fühle ich mich sterbenskrank.«

»Siehst du, Valerie«, sagte der Baron ernst, »wohin mich meine heiße Liebe zu dir geführt hat: zu Verbrechen gegen meine Familie!

Arme Frau!« fuhr er nach einer Weile fort. »Seit länger als neun Monaten habe ich ihr kein Geld gegeben. Nur für dich treibe ich welches auf, Valerie, aber um welchen Preis! Nie wirst du jemals wieder so geliebt werden! Und doch fügst du mir dafür soviel Leid zu.«

»Leid?« wiederholte sie. »So wagst du also dein Glück zu nennen!«

»Noch weiß ich nicht«, fuhr er fort, ohne auf Valeries Worte einzugehen, »in welchen Beziehungen du zu deinem angeblichen Vetter stehst, von dem du mir nie etwas erzählt hast. Gleich als er eintrat, ging es mir wie ein Dolchstich durchs Herz. So verblendet ich auch sein mag, blind bin ich nicht! Ich habe in deinen und seinen Augen gelesen. Der Affe hat dich angesehen und du ihn . . . Nie, niemals hast du mich so angeblickt, niemals! Genug, das Geheimnis wird sich ja enthüllen. Valerie! Du bist die einzige Frau, die mich mit dem Gefühl der Eifersucht bekannt gemacht hat . . . Aber noch ein anderes Geheimnis hat sich mir enthüllt. Und das dünkt mich eine Infamie . . .«

»Geh!« rief Valerie aus.

»Crevel, dieser dumme Fleischkloß, liebt dich! Und du nimmst seine Schwänzeleien so wohlgefällig auf, daß der alberne Kerl seine Verliebtheit vor aller Welt zur Schau trägt . . .«

»Das wären drei! Hast du nicht noch mehr bemerkt?« fragte Frau Marneffe.

»Vielleicht sind sie vorhanden . . .«

»Wenn mich Crevel liebt, so ist das sein Recht als Mann. Wenn ich aber seine Liebe wohlgefällig duldete, wäre ich eine Dirne. Ach was, liebe mich mit meinen Fehlern oder laß mich! Wenn du mir meine Freiheit zurückgibst, will ich weder dich noch Crevel je wiedersehen! Ich werde mir meinen Vetter nehmen, um das wahr zu machen, was du mir so reizend andichtest. Leben Sie wohl, Herr Baron von Hulot!«

Sie erhob sich; aber der Baron faßte sie am Arm und nötigte sie, wieder Platz zu nehmen. Dem alten Manne konnte Valerie durch keine andere mehr ersetzt werden; sie war ihm eine dringlichere Notwendigkeit geworden als alle andern Bedürfnisse des Lebens, und ewige Ungewißheit war ihm im Grunde lieber als auch nur der leiseste Beweis ihrer Untreue.

»Liebe Valerie«, sagte er demungeachtet, »siehst du nicht, wie ich leide? Ich verlange ja nichts weiter von dir, als daß du dich rechtfertigst! Bringe mir klare Beweise!«

»Gut. Erwarte mich unten! Du wirst doch gewissen Zeremonien nicht beiwohnen wollen, die Tante Lisbeths Zustand erfordert!«

Hulot zog sich zögernd zurück.

»Alter Liederjan!« rief Lisbeth ihm nach. »Nach deinen Kindern fragst du gar nicht. Was wirst du für Adeline tun? Na, zunächst werde ich ihr einmal morgen meine Ersparnisse bringen.«

Hulot ließ Lisbeths Vorwürfe über sich ergehen. Hatte ihn nicht Josepha in ganz ähnlichem Tone heruntergemacht? Er war einer von denen, die gewissen wichtigen Erörterungen am liebsten aus dem Wege gehen.

 


 << zurück weiter >>