Honoré de Balzac
Junggesellenwirtschaft
Honoré de Balzac

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Philipp reiste mit seiner Tante und dem alten Rouget nach Paris. Den Onkel führte er drei Tage nach der Ankunft auf das Schatzamt und ließ ihn dort die Überschreibung der Papiere zeichnen, die nunmehr Philipps Eigentum wurden. Dann ward der alte Todeskandidat und mit ihm die Käscherin von dem Neffen in den Freudentaumel der gefährlichen Gesellschaft von unermüdlichen Schauspielerinnen, Journalisten, Künstlern und zweifelhaften Frauen getaucht, unter denen Philipp seine Jugend vergeudet hatte, und dort fand der alte Rouget die nötigen Käscherinnen, um zugrunde zu gehen. Giroudeau übernahm es, dem Alten die angenehme Todesart zu verschaffen, die später durch einen Marschall von Frankreich berühmt werden sollte. Lolotte, eine der schönsten Statistinnen der Oper, war die liebenswürdige Mörderin des Greises. Rouget starb nach einem prächtigen Souper, das Florentine gab, es war also schwer festzustellen, ob das Souper oder Mademoiselle Lolotte dem alten Berrichonen den Rest gegeben hatte. Lolotte schrieb seinen Tod einer Schnitte Leberpastete zu, und da das Straßburger Produkt sich nicht rechtfertigen konnte, gilt es für festgestellt, daß der Biedermann an verdorbenem Magen gestorben ist. Frau Rouget fühlte sich in dieser äußerst dekolletierten Gesellschaft ganz in ihrem Element; aber Philipp gab ihr Mariette zur Tugendwächterin, welche die Witwe, deren Trauerzeit einige galante Abenteuer schmückten, vor Torheiten behütete.

Im Oktober 1823 kehrte Philipp, versehen mit der Vollmacht seiner Tante, nach Issoudun zurück, um die Erbschaft seines Onkels flüssig zu machen. Das war schnell getan. Schon im März 1824 erschien er wieder in Paris mit einer Million sechshunderttausend Franken und obendrein den wertvollen Gemälden, die das Haus des alten Hochon nie verlassen hatten. Philipp legte seine Gelder im Hause Mogenod und Sohn an, in dem der junge Baruch Borniche arbeitete. Über die Güte dieser Bank hatte ihm der alte Hochon befriedigende Auskünfte gegeben. Mogenod und Sohn übernahmen das Geld zu sechs Prozent Jahreszinsen und unter der Bedingung dreimonatlicher Kündigung im Fall der Abhebung.

Eines schönen Tages erschien Philipp bei seiner Mutter und lud sie zu seiner Hochzeit ein. Trauzeugen waren Giroudeau, Finot, Nathan und Bixiou. Im Vertrag vermachte die verwitwete Frau Bridau, die eine Million Franken in die Ehe brachte, ihrem künftigen Gatten für den Fall, daß sie kinderlos stürbe, ihr ganzes Vermögen. Anzeigen wurden nicht verschickt, es gab keine Hochzeitsfeier und keinerlei Aufsehen, denn Philipp hatte seine besonderen Absichten. Er logierte seine Frau in der Rue Saint-Georges in einer Wohnung ein, die ihm Lolotte fertig möbliert abtrat. Frau Bridau junior fand das Appartement entzückend. Ihr Gatte setzte nur selten den Fuß hinein. Niemand erfuhr, daß Philipp unterdessen für zweihunderttausend Franken in der Rue de Clichy, zu einer Zeit, als noch niemand den späteren Wert des Stadtviertels ahnte, ein prächtiges Haus erwarb, für das er fünfzigtausend Taler aus seinen Einkünften anzahlte. Für die Einrichtung und Möblierung gab er ungeheure Summen aus. In diesem Hause erstrahlten die restaurierten herrlichen Gemälde, die auf dreihunderttausend Franken geschätzt wurden, in vollem Glanz.

Als Charles X. den Thron bestieg, kam die Familie des Herzogs von Chaulieu, dessen ältesten Sohn, den Herzog von Rhétoré, Philipp oft bei der Tullia traf, in noch höhere Gunst als früher. Die ältere Linie des Hauses Bourbon, die sich nunmehr des Thrones endgültig sicher glaubte, befolgte den Rat, den der Marschall Gouvion-Saint-Cyr dem Königshause gegeben hatte, nämlich, die Offiziere des Kaiserreiches an sich zu fesseln. Wahrscheinlich machte Philipp wertvolle Enthüllungen über die Verschwörungen von 1820 und 1822; er wurde zum Oberstleutnant im Regiment des Herzogs von Maufrigneuse ernannt. Dieser liebenswürdige Edelmann fühlte sich verpflichtet, den Mann zu begünstigen, dem er Mariette entrissen hatte. Der Ernennung stand überhaupt das Ballettkorps nicht fern. Zudem hatte der geheime Kronrat beschlossen, Seine königliche Hoheit den Dauphin eine leichte Nuance von Liberalismus annehmen zu lassen. Meister Philipp, der eine Art Mitjunker des Herzogs von Maufrigneuse geworden war, wurde nicht nur dem Dauphin, sondern auch der Dauphine vorgestellt, welche den derben getreuen Kriegernaturen nicht ungnädig war. Philipp verstand es, aus der Inszenierung des kronprinzlichen Theaterliberalismus Nutzen zu ziehen und sich zum Adjutanten eines bei Hofe gern gesehenen Marschalls ernennen zu lassen. Im Januar 1827 wurde Philipp als Oberstleutnant in die königliche Garde eingereiht, und zwar in das Regiment des Herzogs von Maufrigneuse, und bewarb sich um die Gunst, geadelt zu werden. Unter der Restauration wurde die Verleihung des Adels zu einer Art Recht, auf das die Bürgerlichen, die in der Garde dienten, Anspruch erheben konnten. Oberst Bridau, der gerade das Landgut Brambourg gekauft hatte, wurde vorstellig um die Gnade, es zu einem gräflichen Majorat erheben zu dürfen. Er setzte es auch durch dank seinen Verbindungen in der höchsten Gesellschaft, in der er sich mit großem Aufwand an Karossen und Livreen als Grandseigneur bewegte. Sobald er sich nun als Oberstleutnant des schönsten Gardekavallerieregiments im Almanach unter dem Namen Graf von Brambourg eingetragen sah, verkehrte er eifrig im Hause des Artilleriegenerals Grafen von Soulanges und machte der jüngsten Tochter, Fräulein Amélie von Soulanges, den Hof. Der Unersättliche, den noch dazu die Mätressen aller einflußreichen Männer unterstützten, bewarb sich um die Ehre, beim Dauphin selber Adjutant zu werden. Er besaß die Keckheit, zur Dauphine zu äußern: ein alter Offizier des großen Krieges, der auf mehreren Schlachtfeldern verwundet worden, könnte bei Gelegenheit Seiner königlichen Hoheit vielleicht von Nutzen sein. Er verstand sich auf den Ton des Hofes, wie er sich auf den der Gesellschaft von Issoudun verstanden hatte. Im übrigen führte er ein großes Leben mit Festen und Diners und empfing in seinem Hause keinen seiner früheren Freunde, der etwa seine Stellung gefährden konnte. Gegen die alten Saufkumpane war er unerbittlich. Er schlug es Bixiou glatt ab, ein Wort für Giroudeau einzulegen, als dieser, von Florentine verlassen, wieder in den Heeresdienst treten wollte.

»Das ist ein sittenloser Mensch!« sagte Philipp.

»Das sagt er von mir, der ihm seinen Onkel vom Hals geschafft hat!« rief Giroudeau.

»Er wird noch was von uns erleben«, versprach Bixiou.

Philipp wollte Fräulein Amélie von Soulanges heiraten, General werden und ein königliches Garderegiment führen. Er hatte so viel Wünsche, daß man, um Ruhe vor ihm zu haben, ihn zum Kommandanten der Ehrenlegion und des Sankt-Ludwigs-Ordens ernannte.

Als Agathe und Joseph eines Abends bei Regenwetter heimgingen, sahen sie Philipp in seiner mit Schnüren und Orden besäten Uniform, hingegossen in die Ecke seines schönen, mit gelber Seide ausgeschlagenen Coupés, auf dem Weg zu einem Fest im Elysée-Bourbon vorüberfahren. Während er gönnerhaft grüßte, bespritzten die Räder des Wagens seine Mutter und seinen Bruder.

»Der versteht's, der Junge!« meinte Joseph, »Immerhin könnte er uns etwas andres zukommen lassen als Schmutz ins Gesicht.«

»Er ist in so schöner hoher Stellung, man kann's ihm nicht verübeln, daß er uns vergißt«, sagte die Mutter. »Auf seinem steilen Wege nach oben hat er so viel Verpflichtungen zu erfüllen, so viel Opfer zu bringen, wie sollte er da an uns denken, zu uns kommen.«

»Mein Lieber«, sagte einmal der Herzog von Maufrigneuse zum neugebacknen Grafen von Brambourg, »sicherlich wird Ihr Antrag günstig aufgenommen werden; aber um Amélie von Soulanges zu heiraten, müßten Sie doch erst frei sein. Was haben Sie eigentlich mit Ihrer Frau angefangen?«

»Meine Frau? . . .« Philipps Bewegung, Blick und Ton bei diesen Worten hat später der große Frédéric Lemaître in einer seiner grausigsten Rollen erraten. »Ja, ich habe die traurige Gewißheit, daß mir meine Frau nicht erhalten bleiben wird. Sie hat keine acht Tage mehr zu leben. Ach, mein lieber Herzog, Sie wissen nicht, was das heißt, eine Mesalliance! Eine Frau zu haben, die einmal Köchin war, Köchinnengeschmack hat und mir Schande macht! Ich bin recht zu beklagen. Aber ich hatte die Ehre, Ihrer königlichen Hoheit der Dauphine meine Lage auseinanderzusetzen. Es hat sich seinerzeit darum gehandelt, eine Million zu retten, die mein Onkel dieser Kreatur testamentarisch vermacht hatte. Zum Glück hat meine Frau eine gewisse Neigung zu Likören; ihr Tod wird mich in den Besitz einer Million, die im Hause Mogenod angelegt ist, setzen; außerdem habe ich dreißigtausend Franken fünfprozentige Staatsrente und mein Majorat im Werte von vierzigtausend Franken Rente. Wenn, wie zu vermuten steht, Herr von Soulanges den Marschallstab hat, bin ich in der Lage, als Graf von Brambourg General und Pair von Frankreich zu werden. Das wäre dann die Pension eines Adjutanten des Dauphins.«

Nach der Ausstellung im Jahre 1823 hatte der erste Hofmaler des Königs, einer der vortrefflichsten Charaktere jener Tage, Josephs Mutter ein Lotteriebüro in der Gegend der Hallen verschafft. Dies konnte Agathe später, ohne zuzahlen zu müssen, gegen ein Büro vertauschen, das in einem Hause der Rue de Seine lag, in dem Joseph ein Atelier bekam. Sie konnte einen Geschäftsführer anstellen und kostete ihren Sohn nichts mehr. Aber obwohl sie das ausgezeichnete Büro, dessen Leiterin sie war, einzig dem Ruhme ihres Sohnes verdankte, glaubte Frau Bridau auch im Jahre 1828 noch immer nicht recht an diesen Ruhm, der ja allerdings wie jeder wahre Ruhm sehr heftig bestritten wurde. Der große Maler hatte die großen Bedürfnisse leidenschaftlicher Naturen; er verdiente nicht genug für die breite Lebensführung, zu der ihn seine gesellschaftlichen Beziehungen und seine Stellung in der jungen Schule zwangen. Wohl wurde er von den Männern des ›Kreises‹ und von Fräulein Des Touches gefördert, aber dem Bourgeois gefiel er nicht. Dieser Geldgeber unserer Zeit macht seinen Geldbeutel für umstrittene Talente nicht gern auf, und Joseph hatte die Klassizisten und das Institut sowie die Kritiker, die von diesen beiden Mächten abhängen, zu Gegnern. Sein Bruder, der Graf von Brambourg, spielte den Erstaunten, wenn man ihm von Joseph sprach. Trotz der Unterstützung durch Gros und Gérard, die ihm in der Ausstellung von 1827 die Medaille verschafften, bekam der mutige Künstler wenig Aufträge. Nahmen schon das Ministerium des Innern und das des Kronhaushalts nur widerstrebend seine großen Gemälde, so waren sie den Händlern und den reichen Fremden noch lästiger. Auch ist ja Bridaus häufige Launenhaftigkeit bekannt, von der Ungleichheiten seiner Arbeit herrühren, welche seinen Feinden Gelegenheit geben, sein Talent zu leugnen. »Die große Malerei liegt im argen«, sagte sein Freund Pierre Grassou, der süße Bildchen im Geschmack der Bourgeois machte, deren Wohnräume keinen Platz für große Gemälde hatten.

»Du brauchtest eine ganze Kathedrale zum Malen, dann würde sich schon die Kritik vor deinem Werke ducken«, sagte Schinner.

Solche Äußerungen erschreckten die gute Agathe und bestärkten sie in dem Urteil, das sie sich von Anfang an über ihre beiden Söhne gebildet hatte. Und die Tatsachen gaben der ewigen Kleinstädterin recht: Philipp, ihr Liebling, war jetzt der große Mann der Familie. Seine früheren Fehltritte waren Unregelmäßigkeiten des Genies. Für Josephs Werke fehlte ihr das Verständnis, sie sah sie zuviel ›in den Windeln‹, um die vollendeten zu bewundern, und so schien er ihr im Jahre 1828 nicht weiter gekommen als 1816. Der arme Joseph hatte Schulden, die ihn drückten, er hatte einen undankbaren Beruf ergriffen, der nichts eintrug. Weshalb man ihm die Medaille verliehen hatte, begriff sie nicht. Philipp, der seine Spielleidenschaft überwunden hatte, der zu Hoffesten eingeladen wurde, dieser glänzende Oberst, der bei Paraden und Feierlichkeiten in herrlicher Uniform mit den beiden roten Großkordons erschien, verwirklichte die Träume der Mutter. Bei einer feierlichen Gelegenheit sah sie ihn an derselben Stelle des Quai de l'École, an der sie ihn einst in grauenhaftestem Elend erblickt hatte, vorüberziehn, vor der Dauphine her, im goldfunkelnden pelzverbrämten Dolman, mit Reiherfedern auf der Tschapka, und sie vergaß für immer das Bild seiner Misere. Für den Künstler war sie eine Art barmherzige Schwester geworden; Mutter fühlte sie sich nur des stolzen Adjutanten Seiner königlichen Hoheit des Dauphins! Am Ende glaubte sie Philipp ihren Wohlstand zu verdanken, und vergaß, daß sie das Büro, welches sie ernährte, durch Joseph bekommen hatte. Eines Tages sah sie ihren armen Sohn in großer Sorge wegen der hochangewachsenen Rechnung seines Farbenhändlers und beschloß, unter Flüchen auf die unselige Kunst, ihn von seinen Schulden zu befreien. Sie hatte zwar selbst kein Geld, denn ihren Verdienst zehrte der Haushalt auf; aber sie rechnete auf Philipps gutes Herz und seine Börse. Seit Jahren erwartete sie täglich seinen Besuch, sah ihn schon mit einer ungeheuren Summe ankommen und genoß im voraus das Vergnügen, mit dem sie diese Joseph geben würde. Ihre Meinung über Philipp war ebenso unveränderlich wie die von Desroches.

Hinter Josephs Rücken schrieb sie an Philipp:

»An den Herrn Grafen von Brambourg.

Mein lieber Philipp, seit fünf Jahren hast Du Deiner Mutter nicht das geringste Lebenszeichen zukommen lassen. Das ist nicht recht. Du solltest Dich ein wenig der Vergangenheit erinnern, und wäre es auch nur um Deines vortrefflichen Bruders willen. Joseph leidet jetzt Mangel, während Du im Überfluß lebst; er muß arbeiten, indes Du von Fest zu Fest fliegst. Du besitzt für Dich allein das Vermögen meines Bruders. Nach dem, was der kleine Borniche sagt, müßtest Du über eine Rente von zweihunderttausend Franken verfügen. Komm doch einmal zu Joseph. Und tu bei der Gelegenheit zwanzig Tausendfrankenscheine in den Totenkopf: Du bist sie uns schuldig, Philipp; und doch wird sich Dein Bruder Dir zu Dank verpflichtet fühlen; ganz abgesehen von der Freude, die Du bereiten würdest Deiner Mutter

Agathe Bridau, geb. Rouget.«

Zwei Tage darauf brachte die Magd in das Atelier, in dem Agathe mit Joseph am Frühstückstisch saß, einen furchtbaren Brief:

»Liebe Mutter, man heiratet nicht Fräulein Amélie von Soulanges und bringt ihr Nußschalen in die Ehe, wenn sich unter dem Namen des Grafen von Brambourg der Name verbirgt Ihres Sohnes

Philipp Bridau.

Einer Ohnmacht nahe, sank Agathe auf den Diwan, und der Brief fiel ihr aus der Hand. Das leise Geräusch des gleitenden Papiers und Agathes dumpfes und schreckliches Stöhnen schreckten Joseph auf, der in diesem Augenblick nicht an die Mutter dachte, denn er malte in weltvergessner Wut an einer Skizze. Jetzt hob er den Kopf über die Leinwand, um zu sehen, was geschah. Beim Anblick der hingesunkenen Mutter ließ der Maler Palette und Pinsel fallen, um aufzuheben, was da wie tot lag. Er nahm Agathe in die Arme, trug sie in ihr Zimmer hinüber aufs Bett und schickte die Magd zu seinem Freunde Bianchon. Sobald er dann die Mutter befragen konnte, gestand sie ihren Brief an Philipp und Philipps Antwort. Er nahm und las den Brief, der in seiner gedrängten Roheit das zarte Herz der armen Mutter gebrochen und das stolze Gebäude ihrer mütterlichen Vorliebe eingestürzt hatte. Er kam wieder an das Bett der Mutter und sprach kein Wort von dem Brief. Drei Wochen lang – so lange dauerte die Krankheit oder vielmehr die Agonie der Armen – sprach er von dem Bruder kein Wort. Bianchon, der täglich kam und die Kranke mit der Hingabe echter Freundschaft pflegte, hatte Joseph vom ersten Tage an aufgeklärt.

»In diesem Alter«, sagte er, »und unter solchen Umständen kann man nur daran denken, deiner Mutter das Sterben so sanft wie möglich zu machen.«

Agathe fühlte auch schon deutlich, daß Gott sie zu sich rief, schon am zweiten Tag bat sie um die Seelsorge des alten Abbé Loraux, der seit zweiundzwanzig Jahren ihr Beichtvater war. Als sie dann mit ihm allein war und ihren ganzen Kummer vor ihm ausgeschüttet hatte, sagte sie, wie einst zu ihrer Patin, die Worte, die sie so oft ausgesprochen hatte:

»Worin hab ich Gott mißfallen? Lieb ich ihn nicht von ganzer Seele? Bin ich nicht immer den Weg des Heils gegangen? Was ist meine Schuld? Ist es eine, von der ich nicht weiß, hab ich dann noch Zeit, sie wieder gutzumachen?«

»Nein«, sagte sanft der Alte. »Ihr Leben scheint rein und Ihre Seele ohne Flecken, aber Gottes Auge dringt tiefer als das seiner Diener, Sie liebes, betrübtes Geschöpf! Auch ich sehe jetzt, da es zu spät ist, klarer. Auch mich haben Sie getäuscht.«

»Sprechen Sie!« rief Agathe.

»Seien Sie getrost. An der Art der Strafe ist schon die Vergebung zu ahnen. Nur gegen seine Auserwählten ist Gott hienieden streng. Weh denen, deren Schandtaten vom Zufall begünstigt werden; sie werden immer wieder zu Menschengestalten geformt werden, bis auch sie einst für leichte Fehler hart büßen müssen und reif werden für die Himmelsfrüchte. Ihr Leben, liebes Kind, ist ein großer Fehler gewesen. Sie fallen in die Grube, die Sie selbst gegraben haben. Da, wo wir uns selbst schwach gemacht haben, liegen unsre Fehler. Sie haben Ihr Herz an einen Unmenschen verschenkt, in dem Sie Ihren Ruhm sahen, und haben das Kind verkannt, das Ihr wahrer Ruhm ist. Sie waren so im Tiefsten ungerecht, daß Sie den deutlichen Gegensatz nicht bemerkt haben. Der arme Sohn, der Sie liebt, ohne durch Gegenliebe belohnt zu werden, bringt Ihnen das tägliche Brot; der reiche, der nie an Sie gedacht, der Sie verachtet hat, wünscht Ihnen den Tod.«

»Oh, wie gern . . .«, flüsterte sie.

»Ja«, fuhr der Priester fort, »Ihre dürftige Lage steht seinem Ehrgeiz im Wege . . . Mutter, da ist deine Schuld, Weib, deine Qualen und Ängste sind Boten deines künftigen Friedens im Herrn! Ihr Sohn Joseph ist groß: seine Kindesliebe ist sich gleich geblieben. trotz der ungerechten Vorliebe der Mutter. Er verdient Ihre Liebe. Geben Sie ihm, solange er Sie noch hat, Ihr ganzes Herz. Beten Sie für ihn, wie ich für Sie bete.«

So wurden der Mutter von mächtiger Hand die Augen geöffnet und überblickten nun ihren ganzen Lebenslauf. In plötzlicher Helle erkannte sie ihr ungewolltes Unrecht und zerfloß in Tränen. Der alte Priester war erschüttert von solcher Reue bei einem Wesen, das nur aus Unwissenheit gesündigt hatte. Er ging, um seine Rührung nicht sehen zu lassen. Zwei Stunden später trat Joseph in das Zimmer seiner Mutter. Er war bei einem Freunde gewesen, um Geld für die Bezahlung seiner dringendsten Schulden zu leihen. Auf Zehenspitzen kam er herein, er glaubte Agathe schlafend. Er konnte sich also in seinen Sessel setzen, ohne von der Kranken bemerkt zu werden. Ein Schluchzen, unterbrochen von den Worten: »Wird er mir vergeben?« schreckte ihn auf. Schweiß rieselte ihm über den Rücken: Lag die Mutter schon in dem Delirium, das dem Tode vorangeht?

»Was hast du, Mutter?« fragte er und sah erschrocken in ihre tränenroten Augen, ihr gequältes Gesicht.

»Joseph, wirst du mir vergeben, mein Kind?«

»Was denn vergeben?«

»Ich habe dich nicht geliebt, wie du es verdientest . . .«

»Was machst du für Späße!« rief er. »Du mich nicht geliebt? . . . Leben wir nicht seit sieben Jahren zusammen? Bist du nicht seit sieben Jahren meine Haushälterin? Seh ich dich nicht Tag um Tag? Hör ich nicht deine Stimme? Bist du nicht die sanfte, duldsame Gefährtin meines Elends? Du verstehst nichts von Malerei . . . Ja, das muß einem gegeben sein, dazu kann man nichts tun. Gestern erst hab ich zu Grassou gesagt: ›Mein Trost mitten in all meinen Kämpfen ist, daß ich eine gute Mutter habe; sie ist, wie die Frau des Künstlers sein soll, sie sorgt für alles, sie wacht über meine materiellen Bedürfnisse, ohne sich wichtig zu machen, ohne . . .‹«

»Ach nein, Joseph, nein, du hast mich liebgehabt, ich habe dir nicht Liebe mit Liebe vergolten. Ach, jetzt möcht ich noch leben bleiben! . . . Gib mir die Hand . . .«

Sie nahm seine Hand, küßte sie und hielt sie fest auf ihrem Herzen. Lange sah sie ihn an und ließ ihn in den zärtlichen Azur ihrer Augen sehen, den sie bisher ihrem Philipp vorbehalten hatte . . . Auf diesen Ausdruck verstand sich der Maler, er war betroffen von etwas Neuem, er sah, wie das Herz der Mutter sich ihm auftat. Er preßte sie in seine Arme und rief in sinnlosem Glück: »Mutter! Mutter! Mutter!«

»Ach, ich fühle es,« sagte sie, »jetzt wird mir vergeben. Gott muß vergeben, was das Kind der Mutter vergibt.«

»Du brauchst Ruhe, reg dich nicht auf. In diesem Augenblick bin ich ja genug geliebt für die ganze Vergangenheit.« Und er rückte ihr die Kissen zurecht.

*


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