Honoré de Balzac
Junggesellenwirtschaft
Honoré de Balzac

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Was mit Joseph war, was ihm die Nachtruhe raubte, die Künstler werden es erraten: Er sah sich zum Geschwätz der Bourgeois geworden, man hielt ihn für einen Gauner, ihn, einen ehrlichen Burschen, einen harmlosen Künstler! Gern hätte er sein bestes Werk dafür gegeben, jetzt wie eine Schwalbe nach Paris fliegen und dem Maxence die Bilder des Onkels an den Kopf werfen zu können. Der reine Hohn: selbst der Bestohlene zu sein und für den Dieb zu gelten! So war er denn vor Tau und Tag in die Pappelallee, die nach Tivoli führt, gelaufen, um seinem Herzen Luft zu machen. Und während er sich in seiner Unschuld mit dem Entschluß, nie wieder in diese Stadt zu kommen, tröstete, bereitete ihm Max die gräßlichste Schmach. Als Herr Goddet senior die Wunden untersucht und festgestellt hatte, daß das Messer durch eine kleine Brieftasche abgelenkt und glücklich vom Herzen abgerutscht war und nur einen schrecklichen Riß durch das Fleisch hinterlassen hatte, tat er, was alle Ärzte und insbesondere die Chirurgen der Kleinstadt zu tun pflegen: er machte sich wichtig, indem er sich noch nicht für Maxences Aufkommen verbürgte; dann verband er den schlimmen Kriegsmann und ging. Die Käscherin, Jean-Jacques, Kouski und die Védie hatten den Spruch der Wissenschaft vernommen. In Tränen aufgelöst blieb die Käscherin bei dem Geliebten, während Kouski und die Védie dem Volk, das sich draußen ansammelte, mitteilten, daß der Major so gut wie aufgegeben sei. Auf diese Nachricht hin kamen etwa zweihundert Menschen auf der Place Saint-Jean und in den benachbarten beiden ›Narettes‹ zusammen.

»Ich werde kaum einen Monat zu Bett zu liegen brauchen,« sagte Max zur Käscherin, »und ich weiß, wer mir den Stich versetzt hat. Aber wir müssen die Geschichte ausnutzen, um uns die Pariser vom Halse zu schaffen. Ich habe schon gesagt, ich glaubte den Maler erkannt zu haben; laß die Leute meinen, ich müßte sterben, seht zu, daß Joseph Bridau festgenommen wird; wir wollen ihm zwei Tage Gefängnis zu schmecken geben. Die Mutter kenne ich, glaube ich, gut genug: die wird hott hü! mit ihrem Malerjungen nach Paris abziehen. Dann brauchen wir die Priester, die man auf unsern alten Narren loslassen wollte, nicht mehr zu fürchten.«

Als Flora Brazier auf die Straße kam, fand sie die Menge sehr empfänglich für den Eindruck, den sie erwecken wollte; sie ließ sich mit Tränen in den Augen sehen und sagte unter Schluchzen, der Maler, der ja auch danach aussähe, habe sich gestern abend heftig mit Max wegen der Bilder, die er dem alten Rouget ›geklaut‹ habe, gestritten. – »Der Strauchdieb, dem sieht man's ja an, der glaubt, wenn der Max nicht mehr im Wege ist, läßt ihm der Onkel sein ganzes Geld; als ob ein Bruder einem nicht näher stände als ein Neffe! Max ist doch der Sohn vom Doktor Rouget. Das hat mir der Alte selbst auf dem Sterbebett gesagt!«

»Aha! Den Streich hat er noch zu guter Letzt tun wollen, das hat er sich ausgeklügelt, heut reist er ja ab«, sagte einer der Ritter vom Müßiggang.

»Max hat in ganz Issoudun keinen einzigen Feind«, rief ein anderer.

»Er hat übrigens den Maler erkannt«, sagte die Käscherin.

»Wo steckt er, der verfluchte Pariser? . . . Wir wollen ihn schon finden! . . .« rief es.

»Ihn finden? . . .« wurde geantwortet, »er ist in aller Frühe aus Herrn Hochons Hause fortgegangen.«

Sogleich eilte ein Ritter vom Müßiggang zu Herrn Mouilleron. Inzwischen wuchs die Menge immer mehr an, das Stimmengewirr wurde drohend. Erregte Gruppen bedeckten die ganze Grande Narette. Andre blieben vor der Kirche Saint-Jean stehen. Ein Menschenauflauf hielt die Porte Vilatte, den Endpunkt der Petite Narette, besetzt. Ober- und unterhalb der Place Saint-Jean war nicht mehr hindurchzukommen, es war wie bei einer Prozession. So hatten denn auch die Herren Lousteau-Prangin und Mouilleron, der Polizeikommissar, der Gendarmerieleutnant und sein Unteroffizier nebst zwei Gendarmen alle Mühe, auf die Place Saint-Jean zu gelangen, schließlich kamen sie vorwärts durch eine Hecke von Schreienden, deren Ausrufe sie gegen den unschuldig beschuldigten Pariser, gegen den zudem die Umstände sprachen, einnehmen mußten.

Nachdem die Beamten Max vernommen hatten, sandte Herr Mouilleron den Polizeikommissar mit dem Unteroffizier und einem Gendarmen aus, um, wie es in der Beamtensprache heißt, den Schauplatz des Verbrechens in Augenschein zu nehmen. Dann begaben sich die Herren Mouilleron und Lousteau-Prangin in Begleitung des Gendarmerieleutnants vom Hause Rouget zum Hause Hochon hinüber, vor dessen Haustür und Gartenausgang je zwei Gendarmen sich aufstellten. Immer noch wuchs die Menge. Die ganze Stadt lärmte auf der Grand'Rue.

Gritte war schon aufgeregt zu ihrem Herrn gestürzt: »Herr Hochon, sie werden uns ausplündern . . . Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Herr Maxence Gilet ist ermordet, liegt im Sterben! . . . und sie sagen, Herr Joseph hat es getan!«

Eilig zog sich Herr Hochon an und ging hinunter; aber vor der wütenden Menge wich er gleich wieder zurück und verriegelte seine Tür . . . Er fragte Gritte aus und erfuhr, daß sein Gast die ganze Nacht erregt umhergelaufen, vor Tagesanbruch ausgegangen und noch nicht zurückgekommen war. Erschreckt ging er zu seiner Frau, die von dem Lärm schon aufgewacht war, und teilte ihr die schaurige Neuigkeit mit, die, ob wahr oder falsch, ganz Issoudun auf der Place Saint-Jean zusammenrottete.

»Er ist ganz gewiß unschuldig!« rief Frau Hochon.

»Aber bis seine Unschuld festgestellt ist, kann man hier hereinkommen und uns ausplündern«, sagte der Alte. Er war totenblaß. Er hatte Gold im Keller.

»Und Agathe?«

»Sie schläft wie ein Murmeltier!«

»Oh, um so besser, ich wollte, sie bliebe schlafen, bis das alles aufgeklärt ist. Solch ein Schlag könnte sie töten, die arme Kleine!«

Aber Agathe war schon wach und kam, notdürftig bekleidet, herunter. Grittes hartnäckiges Schweigen auf ihre Fragen hatte ihr Herz und Hirn verwirrt. Sie fand Frau Hochon bleich und in Tränen vor einem Fenster des Saals neben ihrem Mann stehen.

»Mut, Mut, mein Kleines. Gott schickt uns Kümmernis«, sagte die alte Frau. »Man klagt Joseph an . . .«

»Wofür?«

»Einer bösen Tat, die er nie und nimmer begangen haben kann«, antwortete Frau Hochon.

Im selben Augenblick sah Agathe den Gendarmerieleutnant und die Herren Mouilleron und Lousteau-Prangin eintreten; sie sank in Ohnmacht.

»Also bringt jetzt Frau Bridau hinaus,« sagte Herr Hochon zu seiner Frau und Gritte, »in solchen Situationen sind Frauen nur störend. Geht beide mit ihr auf dein Zimmer.« Dann wandte er sich zu den Beamten: »Nehmen Sie Platz, meine Herren. Das Mißverständnis, das uns Ihren Besuch verschafft, wird sich hoffentlich unverzüglich aufklären.«

»Falls auch ein Mißverständnis vorliegen sollte,« erwiderte Herr Mouilleron, »so ist doch die Erbitterung im Volke so stark, und die Köpfe sind so heiß geworden, daß ich für den Beschuldigten fürchten muß . . . Ich möchte ihn zur Beruhigung der Gemüter im Gerichtshof festsetzen.«

»Wer konnte voraussehen, daß Herr Maxence Gilet sich solcher Zuneigung seiner Mitbürger erfreut? . . .« sagte Lousteau-Prangin.

»Eben wird mir von einem meiner Leute gemeldet, daß sich aus dem Römischen Viertel in die Innenstadt ein Strom von zwölfhundert Menschen ergießt, die nach dem Mörder schreien«, bemerkte der Gendarmerieleutnant.

»Wo ist denn Ihr Gast?« fragte Herr Mouilleron Herrn Hochon.

»Ich glaube, er ist über Land spazieren gegangen . . .«

»Rufen Sie die Magd zurück,« sagte ernst der Untersuchungsrichter, »ich hoffte, Herr Bridau hätte das Haus nicht verlassen . . . Es ist Ihnen ohne Zweifel nicht unbekannt, daß das Verbrechen bei Tagesanbruch einige Schritte von hier begangen worden ist?«

Während Herr Hochon Gritte holen ging, tauschten die drei Beamten bedeutsame Blicke miteinander.

»Das Gesicht dieses Malers war mir immer unheimlich«, sagte der Leutnant zu Herrn Mouilleron.

»Liebes Kind,« wandte sich der Richter an die eintretende Gritte, »Sie haben, wird behauptet, Herrn Joseph Bridau heute morgen ausgehen sehn?«

»Ja, Herr Richter«, antwortete die Magd und zitterte wie Espenlaub.

»Zu welcher Zeit?«

»Als ich gerade aufgestanden war. Die ganze Nacht ist er in seinem Zimmer herumgegangen, und als ich herunterkam, war er angezogen.«

»War es schon hell?«

»Es war Dämmerung.«

»Sah er aufgeregt aus?«

»Ach ja, er kam mir kurios vor.«

»Schicken Sie einen Ihrer Leute nach meinem Gerichtsschreiber,« sagte Lousteau-Prangin zu dem Leutnant, »er soll Verhaftungsbefehle mit . . .«

»Um Gottes willen, seien Sie nicht zu schnell«, sagte Herr Hochon. »Die Aufregung des jungen Mannes läßt sich auf ganz andre Dinge zurückführen als auf den Vorsatz eines Verbrechens; er will heute nach Paris reisen wegen einer Angelegenheit, in der Gilet und Fräulein Flora Brazier seine Redlichkeit verdächtigt haben.«

»Jawohl, die Angelegenheit mit den Bildern«, sagte Herr Mouilleron. »Die gab gestern Anlaß zu einer heftigen Auseinandersetzung, und die Herren Künstler, sagt man, sind etwas kurz angebunden.«

»Wer in ganz Issoudun hatte denn ein Interesse daran, Maxence zutäten?« fragte Lousteau. »Niemand, weder ein eifersüchtiger Ehemann noch sonst irgend jemand. Dieser junge Mann hat niemandem unrecht getan.

»Aber was hatte denn Herr Gilet um vier Uhr morgens auf den Straßen von Issoudun zu tun?« fragte Herr Hochon.

»Verehrter Herr Hochon, lassen Sie uns unseres Amtes walten,« antwortete Mouilleron, »noch wissen Sie nicht alles: Max hat Ihren Maler erkannt . . .«

In diesem Augenblick erhob sich vom Ende der Stadt her ein Lärm und wuchs die Grande Narette entlang wie Donnerrollen.

»Da ist er! . . . Da ist er! . . . Sie haben ihn! . . .« Diese Rufe hoben sich vernehmlich von dem Grundbaß eines fürchterlichen Massenlärmes ab. In der Tat war der arme Joseph Bridau, der gerade gemächlich von der Mühle von Landrôle herkam, im Begriff, zum Frühstück heimzukehren, als er die Place Misère erreichte, von allen Gruppen auf einmal bemerkt worden. Zu seinem Glück eilten zwei Gendarmen herzu, um ihn den Leuten vom Römischen Viertel zu entreißen, die sich schon mit Wutgeschrei auf ihn stürzten und Hand an ihn legten.

»Platz! Platz!« befahlen die Gendarmen und riefen zwei von ihren Kameraden herzu, von denen der eine vor, der andre hinter Bridau hergehen sollte.

»Sehen Sie, Herr Bridau,« sagte einer der Gendarmen, die ihn festnahmen, »jetzt kann es uns ebensogut wie Ihnen den Kopf kosten. Ob Sie schuldig oder unschuldig sind, wir müssen Sie gegen den Aufruhr schützen, den die Ermordung des Majors Gilet veranlaßt hat, das Volk da hat Sie nicht nur im Verdacht, es hält Sie steif und fest für den Mörder. Den Herrn Gilet beten diese Menschen an, und sehn sie nicht ganz danach aus, als wollten sie Volksjustiz üben? Wir haben es mitangesehen, wie sie im Jahre 1830 den Steuerbeamten die Jacke vollgehauen haben. Oh, die waren nicht zum Vergnügen hier!«

Joseph Bridau wurde totenbleich; er raffte sich zusammen, um nur gehen zu können.

»Immerhin«, sagte er, »ich bin unschuldig. Gehn wir.«

Und dann erlebte der Maler seine Kreuztragung! Geschrei, Schmähworte und Todesdrohungen begleiteten ihn auf dem furchtbaren Weg von der Place Misère zur Place Saint-Jean. Die Gendarmen waren genötigt, gegen die wütende Menge die Säbel zu ziehen. Man warf Steine nach ihnen. Fast wären sie verwundet worden, und einige Geschosse trafen Josephs Beine, seine Schultern, seinen Hut. »Da sind wir!« sagte der eine der Gendarmen, als sie endlich in Herrn Hochons Saal eintraten, »es war nicht leicht, Herr Leutnant.«

»Jetzt handelt es sich darum, die Ansammlung draußen zu zerstreuen, und dazu sehe ich nur ein Mittel, meine Herren«, sagte der Offizier zu den Beamten. »Wir müssen Herrn Bridau mitten unter Ihnen zum Gerichtshof führen, ich werde Sie mit allen meinen Gendarmen umgeben. Sechstausend Wildgewordenen gegenüber kann man für nichts einstehen.«

»Sie haben recht«, sagte Herr Hochon, der die ganze Zeit für sein Gold zitterte.

»Wenn dies das beste Mittel ist, um in Issoudun die Unschuld zu beschützen, so mache ich Ihnen mein Kompliment«, erklärte Joseph. »Ich war schon nahe daran, gesteinigt zu werden.«

»Wollen Sie mitansehen, wie das Haus Ihres Gastgebers im Sturm genommen und geplündert wird?« sagte der Leutnant. »Glauben Sie, daß wir mit unsern Säbeln einen Menschenstrom aufhalten können, den von hinten wütendes Volk drängt, das sich nicht an die Formen der Justiz kehrt? . . .«

»Also vorwärts, meine Herren, wir werden uns nachher auseinandersetzen«, sagte Joseph, er hatte all seine Kaltblütigkeit wieder.

»Platz, liebe Freunde«, rief der Leutnant, »er ist festgenommen, wir führen ihn zum Gerichtshof!«

»Respekt vor der Gerechtigkeit! liebe Freunde«, sagte Herr Mouilleron.

»Wollt ihr nicht lieber sehen, wie er guillotiniert wird?« wandte sich ein Gendarm an eine drohende Gruppe.

»Ja, ja,« rief ein Rasender, »man soll ihn guillotinieren.«

»Man wird ihn guillotinieren«, wiederholten die Weiber.

Am Ende der Grande Narette rief man schon: »Man führt ihn auf die Guillotine, man hat das Messer bei ihm gefunden! Oh der Schurke! Da seht ihr die Pariser! Dem steht ja das Verbrechen auf dem Gesicht geschrieben!«

Wohl war Joseph alles Blut zu Kopf gestiegen, aber er legte die Strecke von der Place Saint-Jean zum Gerichtshof in würdigster Ruhe und Haltung zurück. Immerhin war er froh, als er glücklich im Amtszimmer des Herrn Lousteau-Prangin angelangt war.

»Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu versichern, meine Herren«, wandte er sich an Herrn Mouilleron, Herrn Lousteau-Prangin und den Gerichtsschreiber, »daß ich unschuldig bin; ich kann Sie nur um Ihre Hilfe bei dem Beweis meiner Unschuld bitten. Ich weiß nichts von dem Vorfall . . .«

Als ihm dann der Richter alle Mutmaßungen anführte, die ihn belasteten und als letzte Maxences Erklärung, war Joseph doch niedergeschlagen. »Aber ich habe doch erst nach fünf Uhr das Haus verlassen,« erklärte er, »bin die Grand'Rue hinuntergegangen, und um halb sechs hab ich mir die Fassade Ihrer Pfarrkirche Saint-Cyr angesehen, ich habe mich mit dem Küster, der zum Angelusläuten kam, unterhalten und ihn über die Geschichte des Baues, der mir bizarr und unvollendet vorkommt, ausgefragt. Dann bin ich quer über den Gemüsemarkt gegangen, auf dem schon einige Frauen waren. Dann weiter über die Place Misère und den Pont aux Anes zur Mühle von Landrôle, und dort habe ich etwa fünf Minuten lang ruhig den Enten zugeschaut, die Müllerburschen müssen mich gesehen haben. Auch Frauen gab es dort, die zum Waschstein gingen, die müssen noch dort sein; sie haben über mich gelacht und gerufen, ich sei nicht schön; ich habe ihnen mit einem Scherz geantwortet. Dann bin ich noch die große Allee bis nach Tivoli spaziert und habe mich dort mit dem Gärtner unterhalten . . . Lassen Sie diese Tatsachen nachprüfen. Sie brauchen mich gar nicht einzusperren, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich hier im Zimmer bleiben werde, bis Sie sich von meiner Unschuld überzeugt haben.«

Diese Erklärung, die Joseph ohne Stocken und in sicherem Tone abgab, machte den Beamten Eindruck. »Gut, so wird man all diese Leute aufsuchen und vorladen,« sagte Herr Mouilleron, »das wird aber kaum im Lauf eines Tages möglich sein. Entschließen Sie sich also im eigenen Interesse, im Gerichtshof verborgen zu bleiben.«

»Unter der Vorraussetzung, daß ich meiner Mutter schreiben darf, um die arme Frau zu beruhigen . . . Oh! Sie sollen den Brief lesen.«

Diese durchaus billige Bitte wurde ihm nicht abgeschlagen, und Joseph schrieb:

»Sorge Dich nicht, meine geliebte Mutter; der Irrtum, dem ich zum Opfer gefallen bin, wird sich leicht aufklären, ich habe schon die nötigen Mittel und Wege dazu angegeben. Morgen, vielleicht schon heute abend, werde ich frei sein. Ich küsse Dich. Sage bitte Herrn und Frau Hochon, wie sehr ich all die Mißhelligkeiten bedaure, die ich unschuldigerweise in ihrem Hause veranlaßt habe, sie sind das Werk eines Zufalls, den ich noch nicht verstehe.«

Als dieser Brief ankam, lag Frau Bridau sterbenskrank an einer Nervenkrise darnieder, und alle Arzeneien, die Herr Hochon ihr löffelweise einzuflößen versuchte, blieben unwirksam. Der Brief wurde für sie ein Wunderbalsam: noch ein paar Zuckungen, und dann lag Agathe ruhig und erschöpft da, die Krise war überwunden. Als Herr Goddet wieder seine Kranke aufsuchte, bedauerte sie, Paris verlassen zu haben.

»Gott hat mich bestraft,« sagte sie unter Tränen, »mußte ich nicht die Erbschaft meines Bruders vertrauensvoll allein von seiner himmlischen Güte erwarten?«

»Madame, wenn Ihr Sohn unschuldig ist, so ist Maxence ein abgründiger Schurke,« flüsterte ihr Herr Hochon ins Ohr, »und wir werden in dieser Sache den Kürzeren ziehen; so ist es besser, Sie kehren nach Paris zurück.

Frau Hochon fragte Herrn Goddet nach Gilets Befinden.

»Die Verwundung ist schwer, aber nicht tödlich. Ein Monat der Pflege wird ihn wiederherstellen. Als ich bei ihm war, schrieb er gerade an Herrn Mouilleron, um die Freilassung Ihres Sohnes zu erbitten, Frau Bridau. Max ist ein braver Bursche. Ich erzählte ihm von Ihrem Zustand, und da fiel ihm etwas ein, was beweist, daß der Mörder nicht Ihr Sohn sein konnte: jener nämlich hatte Filzsohlen, und Ihr Herr Sohn ist doch sicherlich in Stiefeln ausgegangen.«

»Gott möge ihm vergeben, was er mir angetan hat! . . .«

Nachts wurde dem Hauptmann Gilet von einem Fremden ein Brief in verstellter, den Druck nachahmender Schrift gebracht:

»Der Hauptmann Gilet sollte nicht einen Unschuldigen in den Händen der Justiz lassen! Der Mann, der ihn verwundet hat, verspricht, ihn fernerhin zu schonen, wenn Herr Gilet Herrn Joseph Bridau befreit, ohne den Schuldigen zu bezeichnen.«

Als Max diesen Brief gelesen und verbrannt hatte, schrieb er an Herrn Mouilleron einen Brief, der die Beobachtung enthielt, welche Herr Goddet im Hause Hochon mitteilte, und bat, Joseph freizulassen und ihn, Gilet, aufzusuchen, damit er weitere Erklärungen abgäbe. Als dieses Schreiben bei Herrn Mouilleron eintraf, hatte Lousteau-Prangin durch die Zeugenaussagen des Glöckners, einer Gemüseverkäuferin, der Wäscherinnen, der Müllerburschen von Landrôle und des Gärtners von Frapesle die Wahrhaftigkeit der Angaben, die Joseph gemacht hatte, bereits festgestellt. Nun bewies Maxences Brief vollends die Unschuld des Verklagten, und Herr Mouilleron führte ihn persönlich in Herrn Hochons Haus. Joseph wurde von seiner Mutter mit überschwenglich lebhafter Zärtlichkeit empfangen. Das arme verkannte Kind konnte dem Zufall dankbar sein, wie jener Ehemann der Lafontaineschen Fabel es dem Diebe ist, dessen Überfall ihm unerhoffte Liebesbeweise verschafft. »Oh,« sagte Herr Mouilleron mit sachverständiger Miene, »an der Art, wie Sie die aufgeregte Bevölkerung ansahen, habe ich gleich Ihre Unschuld erkannt, aber so überzeugt ich war . . . sehen Sie . . . man muß Issoudun kennen . . . das beste Mittel zu Ihrem Schutze, war, Sie zu verhaften, wie wir es denn auch getan haben. Ah! Sie hatten eine sehr würdige Haltung.«

»Meine Gedanken waren weit fort«, erklärte einfach der Künstler. »Mir hat einmal ein Offizier erzählt, wie er in Dalmatien unter ziemlich ähnlichen Umständen auf einem Morgenspaziergang von einer erregten Volksmenge festgenommen wurde . . . Diese Ähnlichkeit beschäftigte mich, und da mußte ich mir all diese Köpfe mit dem Gedanken ansehen, einen Aufruhr aus dem Jahre 1793 zu malen . . . Dann sagte ich mir auch: Das hast du verdient, du Laffe! Wozu gehst du Erbschaften suchen, statt hübsch vor deiner Staffelei zu bleiben?«

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf,« sagte der Staatsanwalt, »so nehmen Sie heut abend um elf Uhr einen Wagen, den Ihnen der Postmeister leihen wird, nach Bourges und fahren von dort mit der Diligence nach Paris zurück.«

»Das ist auch meine Meinung«, erklärte Herr Hochon, der nichts sehnlicher wünschte als die Abreise des Gastes.

»Auch ich habe das lebhafteste Verlangen, Issoudun zu verlassen, obwohl ich damit auch meine einzige Freundin verlasse«, sagte Agathe und küßte Frau Hochons Hand. »Wann werde ich Sie wiedersehen?«

»Kindchen, wir sehen uns erst dort oben wieder . . . Wir haben hienieden genug gelitten,« das flüsterte sie ihr ins Ohr, »um von Gott mitleidig aufgenommen zu werden.«

Inzwischen hatte sich Herr Mouilleron zu Maxence begeben, und gleich darauf erschien Gritte und meldete ihrem Herrn zu allgemeiner Verwunderung den Besuch des Herrn Rouget. Jean-Jacques kam, um seiner Schwester Lebewohl zu sagen und ihr eine Kalesche zur Fahrt nach Bourges anzubieten.

»Ach, deine Bilder haben viel Unglück bei uns angerichtet!« sagte Agathe zu ihm.

»Behalte sie, liebe Schwester«, antwortete der Biedermann. Er glaubte immer noch nicht recht an den hohen Wert der Gemälde.

»Herr Nachbar,« wandte sich nun Hochon an ihn, »unsere besten Freunde und zuverlässigsten Beschützer sind unsere Verwandten, insbesondere, wenn sie Ihrer Schwester Agathe und Ihrem Neffen Joseph gleichen!«

»Schon möglich«, meinte stumpfsinnig der Alte.

»Man muß an ein christliches Ende denken«, mahnte Frau Hochon.

»Was für ein Tag, Jean-Jacques!« rief Agathe.

»Nimmst du meinen Wagen an?« fragte Rouget.

»Nein, lieber Bruder, ich danke dir und wünsche dir gute Gesundheit.

Rouget ließ sich von Schwester und Neffen umarmen und ging nach einem matten Lebewohl fort. Herr Hochon schickte seinen Enkel Baruch auf die Post; um elf Uhr saßen die beiden Pariser in einem einspännigen Korbwagen und verließen Issoudun. Adolphine und Frau Hochon hatten Tränen in den Augen, sie waren die einzigen, die den Gästen nachtrauerten. »Fort sind sie«, sagte François Hochon, als er mit der Käscherin in Maxences Zimmer trat.

»Gut! Das wäre geglückt«, sagte Max, der noch fieberschwach war.

»Was hast du dem alten Mouilleron gesagt?« fragte Frangois.

»Ich habe ihm gesagt, daß ich meinem Mörder fast das Recht gegeben habe, mir aufzulauern, und daß der Manns genug wäre, wenn man die Sache verfolgte, mich, ehe man ihn verhaftete, wie einen Hund niederzustrecken. Demgemäß habe ich Mouilleron und Prangin gebeten, ihre sorgsamen Nachforschungen nur scheinbar anzustellen und meinen Mörder in Ruhe zu lassen, wenn sie es nicht mitansehen wollten, daß er mich wirklich umbringe.«

»Nun werdet ihr euch hoffentlich einige Zeit des Nachts still verhalten«, meinte Flora.

»Na, kurzum, wir sind die Pariser los«, rief Max. »Einen besseren Dienst hätte der uns nicht leisten können, der mir den Stich versetzt hat.«

Am nächsten Tag feierte ganz Issoudun mit Ausnahme einiger besonders stiller und zurückhaltender Bürger, welche die Anschauungen von Herrn und Frau Hochon teilten, die Abreise der Pariser, die man doch nur einem beklagenswerten Mißverständnis verdankte, als großen Sieg der Provinz über Paris. Dabei ließen Maxences Freunde ziemlich derbe Äußerungen über die Bridaus fallen.

»Diese Pariser halten uns für rechte Tröpfe, sie glauben, sie brauchen bloß den Hut hinzuhalten, dann regnet's Erbschaften hinein!«

»Sie kamen uns zu scheren und sind selbst geschoren abgezogen.«

»Und dabei hatten sie einen Pariser Anwalt als Berater.«

»Einen fertigen Plan hatten sie also?«

»Allerdings, sie wollten den alten Rouget klein kriegen, aber dazu hat's nicht gereicht, ihr Anwalt wird über die Berrichonen nicht zu lachen haben . . .«

»Die Käscherin läßt sich nichts bieten, die versteht's, sich zur Wehr zu setzen.«

»Recht hat sie.«

Für die ganze Stadt waren die Bridaus schlechthin Pariser und Fremde; und Max und Flora waren sehr beliebt.

*


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