Honoré de Balzac
Junggesellenwirtschaft
Honoré de Balzac

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Die Zerstreuungen der Reise entrissen Frau Bridau bald ihrem Gram, und sie mußte nun auch an das Ziel denken. So las sie denn den Brief der Frau Hochon, der den Advokaten Desroches so heftig erregt hatte, noch einmal durch. Sie war betroffen von den Worten »Konkubine« und »Ungeziefer«, geschrieben von der Hand einer ebenso frommen wie ehrbaren Siebzigerin, um eine Frau zu bezeichnen, die im Begriff stand, das Vermögen des Jean-Jacques Rouget, den die Schreiberin einen Einfaltspinsel nannte, zu verschlingen, und sie fragte sich, wie sie durch ihre Gegenwart in Issoudun die Erbschaft retten könnte. Joseph, der arme uneigennützige Künstler, der noch ganz in Gedanken war über den Ausruf der Mutter, meinte: »Bevor unser Freund Desroches uns aussandte, die Erbschaft zu retten, hätte er uns die Mittel und Wege dazu genauer auseinandersetzen sollen.«

»Soviel ich mich erinnern kann mit meinem armen Kopf, der mir noch ganz betäubt ist von den Gedanken: Philipp im Gefängnis, vielleicht ohne Tabak und bald vor dem Pairshof – soviel ich mich erinnern kann,« erwiderte Agathe, »hat Desroches junior uns empfohlen, die Elemente zu einem Prozeß wegen Erbschleicherei zu sammeln für den Fall, daß mein Bruder schon ein Testament gemacht hat zugunsten dieser . . . dieser . . . Frau.«

»Er hat gut reden, Desroches!« rief der Maler. »Tut nichts. Wenn wir nicht daraus klug werden, werde ich ihn bitten, selbst hinzureisen.«

»Wir wollen uns nicht unnötig den Kopf zerbrechen«, meinte Agathe. »Sind wir erst in Issoudun, so wird meine Patin uns weiter leiten.«

Aus dieser Unterhaltung, die während des Wagenwechsels in Orléans und der Einfahrt in die Sologne stattfand, ist ersichtlich, wie wenig der Maler und seine Mutter imstande waren, die Rolle zu spielen, die der fürchterliche Advokat Desroches ihnen zugedacht hatte. Nach dreißigjähriger Abwesenheit kam Agathe in ihre Vaterstadt zurück und fand dort alles ganz anders geworden. Hier muß mit einigen Worten ein Bild der Stadt Issoudun entworfen werden; sonst bliebe der Heroismus der Frau Hochon bei der Unterstützung ihres Patenkindes und die seltsame Lage Jean-Jacques Rougets unverständlich. Obgleich der Doktor Rouget dafür gesorgt hatte, daß sein Sohn Jean-Jacques in seiner Schwester Agathe eine Fremde sah, bleibt es doch seltsam von einem Bruder, daß er dreißig Jahre lang seiner Schwester nicht das kleinste Lebenszeichen gab. Andersgeartete Verwandte als Joseph und Agathe hätten sich um die ungewöhnlichen Umstände, aus denen dieses Schweigen beruhte, gewiß längst bekümmert. Zwischen den Zuständen in Issoudun und den Interessen der Bridaus bestanden gewisse Beziehungen, die im weiteren Verlauf der Erzählung deutlich werden sollen.

Man möge es uns in Paris nicht verübeln: Issoudun ist eine der ältesten Städte Frankreichs. Trotz der historischen Vorurteile, die aus dem Kaiser Probus den Noah Galliens machen, hat schon Cäsar den ausgezeichneten Wein von Champ-Fort (de campo forti) erwähnt, und das ist einer der besten Weinberge von Issoudun. Rigord äußert sich über diese Stadt in Wendungen, die keinen Zweifel an ihrer zahlreichen Bevölkerung und ihrem gewaltigen Handel zulassen. Aber nach diesen beiden Zeugnissen würde die Stadt immer noch verhältnismäßig jung erscheinen im Vergleich zu ihrem wirklichen hohen Alter. Neuerliche Ausgrabungen eines gelehrten Archäologen der Stadt, des Herrn Armand Pérémet, haben unter dem berühmten Turm von Issoudun eine Basilika des fünften Jahrhunderts entdeckt, vermutlich die einzige, die es in Frankreich gibt. Und diese Kirche bewahrt in ihrem Baumaterial die Spuren einer früheren Epoche, denn ihre Steine entstammen einem römischen Tempel, an dessen Stätte sie erbaut ist. Nach den Forschungen des erwähnten Gelehrten zeugt auch der Name der Stadt wie der aller französischen Städte mit der Endung »dun« (dunum) von autochthonem Dasein. Das Wort »dun«, das immer eine von dem Druidenkulte geweihte Anhöhe bezeichnete, würde demnach auf eine militärische oder religiöse Gründung der Kelten hinweisen. Die Römer hätten dann unter dem Dun der Gallier einen Isistempel gebaut. Daher, nach Chaumon, der Name der Stadt: Is-sous-dun! wobei Is eine Abkürzung von Isis wäre. Über der Basilika des fünften Jahrhunderts, dem dritten Denkmal der dritten Religion dieser alten Stadt, hat – das ist ziemlich sicher – Richard Löwenherz den berühmten Turm gebaut, in welchem er Münze schlug. Ihm hat diese Kirche als Stützpunkt gedient, als er seinen Wall aufwarf, und er hat sie erhalten, indem er sie mit seinen feudalen Befestigungen wie mit einem Mantel überdeckte. Sodann wurde Issoudun der Sitz der kurzlebigen Gewalt der Routiers und Cottereaux, jener Condottieri, die Heinrich II. seinem Sohne Richard, dem aufständischen Grafen von Poitou, entgegenstellte. Leider haben die Benediktiner die Geschichte Aquitaniens nicht geschrieben, und so wird sie wohl nie geschrieben werden, da es keine Benediktiner mehr gibt. Um so mehr muß man sich bemühen, das Dunkel, das über der Geschichte unserer Sitten lagert, bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, aufzuhellen. Ein anderes Zeugnis für die alte Macht Issouduns ist die Kanalisation der Tournemine, eines Flüßchens, dessen Bett auf weite Strecken hin mehrere Meter über das Niveau der Théols, welche die Stadt umfließt, erhöht worden ist. Diese Arbeit ist ohne Zweifel ein Werk des römischen Geistes. Und dann wird auch das Stadtviertel nördlich vom Schloß von einer Straße durchzogen, die seit mehr als zweitausend Jahren Rue de Rome heißt. Die Bewohner dieses Viertels haben in Rasse, Blut und Gesichtsform ein besonderes Gepräge und nennen sich Abkömmlinge der Römer. Sie sind fast alle Winzer und haben auffallend strenge Sitten; die verdanken sie sicherlich ihrer Herkunft, vielleicht auch ihrem Sieg über die Cottereaux und Routiers, die sie im zwölften Jahrhundert in der Ebene von Charost vernichtend geschlagen haben. Nach der Erhebung von 1830 war Frankreich zu aufgeregt, um den Aufstand der Winzer von Issoudun zu beachten. Dieser Aufstand war furchtbar, und man hatte gute Gründe, seine Einzelheiten der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Die Bürger von Issoudun gestatteten den Truppen nicht, in die Stadt einzurücken. Sie wollten selbst die Verantwortung für die Ordnung in ihrer Stadt tragen, wie Brauch und Gesetz des mittelalterlichen Bürgertums es gebietet. Die Staatsgewalt sah sich gezwungen, den Bevollmächtigten der sechs- oder siebentausend Winzer nachzugeben. Diese hatten alle Archive und die Büros der indirekten Steuern verbrannt, schleppten den Zollbeamten von Straße zu Straße und riefen bei jeder Laterne: »Hier soll er hängen!« Die Nationalgarde konnte den armen Menschen den Rasenden nur unter dem Vorwande, ihn ins Gefängnis bringen und ihm den Prozeß machen zu wollen, entreißen. Der General mußte eine Kapitulation mit den Winzern vereinbaren, um in die Stadt einziehen zu können, und es gehörte Mut dazu, in die Masse einzudringen; denn in dem Augenblick, als er vor dem Rathaus erschien, hielt ihm ein Mann aus dem römischen Viertel seine »Hippe« an den Hals (Hippe heißt das dicke Gartenmesser, das, an einer Stange befestigt, zum Baumausschneiden dient) und schrie: »Keinen Schreiber mehr oder wir fangen von vorn an!« Dieser Winzer hätte ein Haupt abgeschlagen, das sechzehn Kriegsjahre verschont hatten, wäre nicht einer der Führer des Aufstandes dazwischengetreten, der sich hatte versprechen lassen, man werde von den Kammern die Abschaffung der »Kellerratten« fordern.

Im vierzehnten Jahrhundert hatte Issoudun noch sechzehn- bis siebzehntausend Einwohner, die übriggeblieben waren von einer doppelt so starken Bevölkerung zu Rigords Zeiten. Charles VII. besaß daselbst ein Palais, das noch steht und bis ins achtzehnte Jahrhundert unter dem Namen »Haus des Königs« bekannt war. Damals war die Stadt der Mittelpunkt des Wollhandels, versah einen großen Teil Europas mit Wolle und fabrizierte in großen Mengen Tuche, Hüte und ausgezeichnete Glacéhandschuhe. Noch unter Ludwig XIV. wurde Issoudun, die Heimat Barons und Bourdaloues, als Stadt der Eleganz, der gewählten Sprache und der guten Gesellschaft viel genannt. In seiner Geschichte von Sancerre behauptet der Pfarrer Poupart von den Issoudunern, daß sie sich unter allen Berrichonen durch ihre Feinheit und ihren Mutterwitz auszeichneten. Heute ist nichts mehr von diesem Glanz und Geiste übrig. Die Ausdehnung der Stadt beweist wohl noch ihre ehemalige Bedeutung, aber die Bevölkerung zählt nur zwölftausend Seelen, und darin sind die Winzer von vier weitläufigen Vorstädten miteinbegriffen: von Saint-Paterne, Vilatte, Rome und Les Alouettes, vier richtigen kleinen Städten. Den Wollmarkt des Landes Berry hat Issoudun sich bewahrt, doch wird dieser Handel jetzt durch die überall eingeführten Verbesserungen der Schafrassen bedroht, an denen das Land Berry sich nicht beteiligen will. Die Weinberge von Issoudun erzeugen einen Wein, der in zwei Departements getrunken wird; würde er behandelt wie der in Burgund und in der Gascogne, er könnte einer der besten Weine Frankreichs werden. Aber »alles halten wie die Alten« und nichts Neues einführen, ist nun einmal Landesgesetz. So lassen denn die Winzer immer noch den Raspel während der Gärung im Weine und davon wird das Getränk, das die Quelle neuen Reichtums und ein Gegenstand des Erwerbsfleißes für das ganze Land sein könnte, scheußlich. Allerdings soll sich dieser Wein dank der Herbheit, die der Raspel ihm mitteilt, im Alter umwandeln und über ein Jahrhundert halten! Eine immerhin bemerkenswerte Tatsache, die der »Weinbauer« anführt. Wilhelm der Bretone hat übrigens dieser Eigenheit in seiner »Philippide« einige Verse gewidmet.

Der Verfall Issouduns ist demnach durch eine geistige Erstarrung, die bis zur Narrheit geht, zu erklären; eine Tatsache mag sie erläutern. Als man die Straße von Paris nach Toulouse in Angriff nahm, war es das Gegebene, sie von Vierzon nach Châteauroux über Issoudun zu führen. Die Straße wäre kürzer geworden als über Vatan. Aber die Honoratioren des Landes und der Gemeinderat von Issoudun, dessen Beratungsurkunde noch vorhanden sein soll, forderten die Leitung der Straße über Vatan: denn, so wandten sie ein, wenn die große Landstraße durch ihre Stadt ginge, würden die Lebensmittel im Preise steigen, und man könnte dann Gefahr laufen, für ein Huhn dreißig Sous zahlen zu müssen. Analogien zu einer derartigen Kundgebung finden sich nur in den wildesten Gegenden von Sardinien, dieser einst so bevölkerten und reichen Insel, die heute verödet ist. Als König Carlo Alberto die löbliche zivilisatorische Absicht hatte, Sassari, die zweite Landeshauptstadt mit Cagliari durch eine schöne und großangelegte Straße zu verbinden, hätte die gerade Linie über Bonorva führen müssen, einen Distrikt, welchen eine noch ununterworfene Völkerschaft bewohnt, die von den Mauren abstammt und unsern heutigen Araberstämmen ähnlich ist. Als die Wilden von Bonorva merkten, daß sie drauf und dran waren, von der Zivilisation erreicht zu werden, gaben sie sich gar nicht erst die Mühe zu beraten, sondern erklärten offen ihren Widerstand gegen die Vermessung der Straße. Die Regierung trug diesem Widerstand keine Rechnung. Da bekam der erste Ingenieur, der den ersten Meßpfahl abstecken wollte, eine Kugel vor den Kopf und starb an seinem Pfahl. Es wurde weiter keine Untersuchung eingeleitet, und die Straße beschreibt nunmehr eine Kurve, die sie um acht Meilen verlängert.

Das dauernde Sinken der Weinpreise befriedigt zwar das Bedürfnis der Bürgerschaft von Issoudun nach billigem Leben, aber zugleich ruiniert es die Winzer, die unter den Bestellungskosten und Steuern für einen Wein, der noch dazu nur im Lande selbst getrunken wird, zusammenbrechen; ebenso wird der Wollhandel ruiniert durch die Unmöglichkeit, die Schafrasse zu verbessern. Das Landvolk hat einen tiefen Abscheu vor jeder Art von Veränderung, selbst vor einer, die ihrem eigensten Interesse entgegenkommt. Ein Pariser trifft auf dem Felde einen Arbeiter, der eine ungeheure Menge Brot, Käse und Gemüse verzehrt. Er setzt ihm auseinander, er könne sich besser und billiger ernähren und mehr arbeiten, wenn er diese Nahrung durch eine Portion Fleisch ersetzen würde. Der Berrichone sieht die Richtigkeit der Rechnung ein. »Aber,« sagt er, »die Sprüch', die Sprüch', Herr!« – »Was denn für Sprüche?« »Ja, was würden denn die Leute sagen?« – Er würde zum Gerede der ganzen Gegend werden, erklärte der Landwirt, auf dessen Gut diese Szene stattfand, man würde ihn für so reich wie einen Bürger halten; vor der öffentlichen Meinung hat er Furcht, er hat Angst, daß man mit Fingern auf ihn zeigen, ihn für schwach oder krank halten wird . . . »So sind wir hierzuland.« Diesen letzten Satz sprechen viele Bürger sogar mit heimlichem Stolze aus. Wie aus dem Lande, wo die Bauern sich selbst überlassen bleiben, Unwissenheit und Rückständigkeit unausrottbar sind, so ist es auch in der Stadt Issoudun zu einer ausgesprochenen sozialen Stagnation gekommen. Schmutziger Geiz muß gegen das Hinschwinden der Vermögen ankämpfen, und so lebt jede Familie für sich. Es fehlt der Gesellschaft der Antagonismus der Stände, welcher den Sitten Charakter gibt. Die Stadt kennt nicht mehr den Gegensatz zweier Kräfte, auf dem das Leben der italienischen Stadtrepubliken im Mittelalter beruhte. Issoudun hat keinen Adel mehr. Den haben die Cottereaux, die Routiers, die Jacquerie, die Religionskriege und die Revolution ganz ausgetilgt. Und auf diesen Sieg ist die Stadt sehr stolz. Um die Lebensmittel wohlfeil zu erhalten, hat Issoudun sich immer geweigert, eine Garnison aufzunehmen. Dieses Verbindungsmittel mit dem lebendigen Jahrhundert hat sie sich ebenso entgehen lassen wie den Verdienst, der sich mit den Soldaten machen läßt. Bis zum Jahre 1756 war Issoudun allerdings eine der angenehmsten Garnisonstädte. Dann hat ein Justizdrama, das ganz Frankreich in Atem hielt, die Stadt ihrer Garnison beraubt, nämlich der bekannte Prozeß des Amtsverwesers gegen den Marquis de Chapt, dessen Sohn, ein Dragoneroffizier, wegen einer galanten Angelegenheit vielleicht auf gerechte, aber doch verräterische Art hingerichtet wurde. Die Einquartierung der 44. Halbbrigade während des Bürgerkriegs war nicht dazu angetan, die Einwohner mit dem Kriegsvolk auszusöhnen. Von derselben sozialen Krankheit wie Issoudun ist auch Bourges befallen, dessen Bevölkerung von Jahr zu Jahr abnimmt. Die Lebensfähigkeit verläßt diese großen Körper. Und an diesem Unglück ist sicherlich die Verwaltung schuld. Die Pflicht der Regierung ist es, solche Flecken auf dem Körper des Staates zu bemerken und zu ihrer Heilung tatkräftige Männer an die erkrankten Stätten zu schicken, die den Dingen ein neues Gesicht geben. Aber, nein, man freut sich noch über die unheilvolle Todesstille. Und dann, wie soll man neue Verwalter und fähige Beamte hinbekommen, da sich heutzutage niemand findet, der Lust hätte, sich in der Provinz zu vergraben, wo das Gute, das man tut, ohne Widerhall bleibt? Und gelingt es einmal, Ehrgeizige, die fremd in der Gegend sind, dort unterzubringen, so werden sie bald von der Macht der allgemeinen Trägheit ergriffen und bequemen sich dem entsetzlichen Provinzleben an. Issoudun hätte selbst einen Napoleon eingeschläfert. Diese Lage der Dinge brachte es mit sich, daß Issoudun im Jahre 1822 von Männern verwaltet wurde, die alle aus dem Lande Berry waren. Die Obrigkeit war nichtig oder kraftlos bis auf die natürlich sehr seltenen Fälle, deren offensichtliche Schwere die Justiz zum Eingreifen zwang. Der Oberstaatsanwalt, Herr Mouilleron, war mit aller Welt versippt und verschwägert, und sein Substitut gehörte einer Familie der Stadt an. Der Gerichtspräsident machte sich, schon bevor er seinen hohen Posten bekleidete, durch eines der Worte berühmt, die in der Provinz einem Menschen für sein ganzes Leben eine Narrenkappe aufsetzen. Als bei einem Strafverfahren, das zur Verhängung der Todesstrafe führte, die Untersuchung abgeschlossen war, sagte er zu dem Angeklagten: »Mein armer Peter, dein Fall ist klar, man wird dir den Kopf abschlagen müssen. Laß dir das zur Lehre dienen . . .« Der Polizeikommissar, der seit der Restauration im Amte war, hatte Verwandte im ganzen Arrondissement. Und schließlich war die Religion nicht nur ohne Einfluß, sondern auch ihr Vertreter, der Pfarrer, genoß keinerlei Ansehen. Spöttisch und ungebildet, wie diese liberale Bürgerschaft war, erzählte sie sich mehr oder weniger komische Geschichten über die Beziehungen dieses armen Menschen zu seiner Köchin. Das hinderte nicht, daß die Kinder zum Katechismus gingen und ihre erste Kommunion machten, daß es ein Gymnasium gab, daß man die Messe las, alle Feste feierte und – das einzige, was Paris von der Provinz verlangt – Steuern zahlte, aber alle diese Kundgebungen des öffentlichen Lebens geschahen nur aus Gewohnheit. Die Schlaffheit der Verwaltung stimmte wunderbar mit dem Geistes- und Seelenzustande der Menschen überein. Was unsere Geschichte über die Wirkungen eines solchen Standes der Dinge zu berichten hat, steht übrigens nicht so einzig da, wie man glauben möchte. Viele französische Städte, besonders im Süden, gleichen Issoudun. Der Zustand, in den der Sieg des Bürgertums diese Kreishauptstadt versetzt hat, steht ganz Frankreich und selbst Paris bevor, wenn das Bürgertum fortfährt, die äußere und innere Politik unseres Landes zu beherrschen.

Noch ein Wort über die Topographie. Issoudun erstreckt sich von Norden nach Süden auf einem Abhang, der nach der Straße von Châteauroux abfällt. Am Fuße dieser Anhöhe hat man vormals für die Bedürfnisse der Fabriken oder schon in der Blütezeit der Stadt zur Auffüllung der Wallgräben einen Kanal angelegt, der jetzt der »Durchbruch« genannt wird. Sein Wasser entnimmt er der Théols und bildet einen künstlichen Flußarm, der sich jenseits des römischen Viertels zusammen mit der Tournemine und einigen andern Bächen in den natürlichen Fluß ergießt. Die vielen kleinen und großen Gewässer bespülen die weiten Wiesen, die rings von gelben und weißen, mit schwarzen Punkten besäten Hügeln umgeben sind. So sehen über die Hälfte des Jahres die Weinberge von Issoudun aus. Alljährlich beschneiden die Winzer die Reben und lassen inmitten einer Art Trichter nur einen häßlichen Stumpf ohne Rebpfahl stehen. War also das Auge auf dem Wege von Vierzon, Vatan oder Châteauroux von einförmigen Ebenen gelangweilt worden, so wird es nun angenehm überrascht von den Wiesen bei Issoudun. Hier ist eine Oase, die das Land auf zehn Meilen im Umkreis mit Gemüse versorgt. Unterhalb des römischen Viertels erstreckt sich ein weites sumpfiges Gelände, in dem Gemüsegärten angelegt sind und das nach seinen beiden Richtungen der obere und untere Baltan genannt wird. Eine lange breite Allee führt zwischen zwei Reihen Pappeln aus der Stadt durch die Wiesen zu dem alten verlassenen Kloster Frapesle, dessen englische Gärten, dergleichen es im ganzen Arrondissement keine gibt, den anspruchsvollen Namen Tivoli führen. Sonntags haben dort die Liebespaare ihr heimliches Wesen. Dem aufmerksamen Beobachter zeigen sich überall Spuren der einstigen Größe Issouduns, diese offenbart sich am deutlichsten in der Gruppierung der Stadtteile. Das Schloß, das ehedem mit seinen Mauern und Wallgräben eine Stadt für sich war, bildet ein besonderes Stadtviertel, in das man auch heute nur durch die alten Tore Eingang findet und das man nur über die drei Brücken der beiden Flüsse verlassen kann; dieses Viertel bewahrt noch das Aussehen einer altertümlichen Stadt. Hier treten noch an verschiedenen Stellen die gewaltigen Steinlagen der Wälle zutage, die jetzt Fundamente von Häusern bilden. Oberhalb des Schlosses erhebt sich der Turm, der einst Festungsturm war. Wer die Stadt rings um diese beiden befestigten Punkte in seinen Besitz gebracht hatte, mußte noch Turm und Schloß erobern, um Herr von Issoudun zu werden. Und besaß er das Schloß, so hatte er noch nicht den Turm. Die Vorstadt Saint-Paterne, die in Form einer Palette jenseits des Turmes in die Wiesen langt, ist von so beträchtlicher Größe, daß man annehmen kann, sie war in grauer Vorzeit die eigentliche Stadt. Im Verlauf des Mittelalters wird Issoudun, wie Paris, seinen Hügel erklommen und sich rings um Turm und Schloß gelagert haben. Bis 1822 konnte sich diese Auffassung der Stadtgeschichte auf das Vorhandensein der reizenden alten Kirche von Saint-Paterne stützen, die neuerdings von dem Erben des Bürgers, der sie der Nation abgekauft hat, niedergerissen worden ist. Die Kirche war eins der feinsten Muster des romanischen Stiles in Frankreich. Leider ist sie nun verschwunden, ohne daß man von ihrem vollkommen erhaltenen Portal eine Zeichnung gemacht hat . . . Eine einzige Stimme erhob sich für die Rettung dieses Denkmals, aber sie fand in Stadt und Land nirgends Widerhall.

Wenn das Schloß von Issoudun mit seinen schmalen Straßen und alten Gebäuden den altertümlichen Stadtcharakter bewahrt hat, so sieht die eigentliche Stadt, die wiederholt erobert und verbrannt wurde, insbesondere während der Frondekämpfe, in denen sie ganz eingeäschert wurde, modern aus. Die Straßen sind verhältnismäßig breit, die gut gebauten Häuser stehen in malerischem Gegensatz zu dem alten Schloß, und dieser hat der Stadt Issoudon in einigen Reisebüchern den Beinamen »die Reizende« eingetragen.

In einer Stadt, die so geworden und geblieben war, die keine Tatkraft, nicht einmal die des Handels, keinen Sinn für die Künste, keinen Anteil an den Wissenschaften, kein öffentliches Leben hatte, mußte ein Zustand eintreten – und er trat unter der Restauration im Jahre 1816 nach Kriegsende tatsächlich ein –, in dem unter den jungen Leuten der Stadt manch einer keine rechte Laufbahn vor sich sah und nicht wußte, was er bis zu seiner Heirat oder bis zum Antritt der elterlichen Erbschaft mit sich anfangen sollte. Zu Hause war es langweilig, in der Stadt gab es keine Zerstreuungen; und da, wie das Sprichwort sagt, die Jugend sich die Hörner ablaufen muß, so trieben die jungen Leute ihre Scherze auf Kosten der Stadt selbst. Bei Tage ihr Wesen zu treiben, war schwer, man konnte sie erkennen; und lief die Schale ihrer Untaten einmal über, so konnten sie beim ersten allzu üblen Streich vor die Zuchtpolizei kommen; daher waren sie klug genug, die Nacht für ihre Spitzbübereien zu wählen. So flimmerte denn durch die Überreste so viel verschiedener verschwundener Zeitalter ein letztes Irrlicht des kurzweiligen Wesens der früheren Sitten. Die jungen Leute ergötzten sich, wie ehemals Karl IX. und seine Höflinge, Heinrich IV. und seine Gefährten, und wie man sich früher in vielen Provinzstädten ergötzte. Die Notwendigkeit, einander zu helfen, zu verteidigen, zusammen lustige Streiche auszuhecken, machte sie zu Verbündeten und entwickelte bei ihnen, wenn Einfall auf Einfall prallte, eine Fülle von Boshaftigkeit, wie sie nur der Jugend eigen ist und wie man sie sogar bei jungen Tieren beobachten kann. Ihr Bund gewährte ihnen obendrein die kleinen Genüsse, die das geheimnisvolle Wesen einer dauernden Verschwörung mit sich bringt. Sie nannten sich die Ritter vom Müßiggang. Bei Tage waren die jungen Laffen lauter kleine Heilige, alle spielten die Stillen und Friedfertigen, auch pflegten sie nach den Nächten, in denen sie wieder etwas ausgefressen hatten, ziemlich tief in den Tag hinein zu schlafen. Die Ritter vom Müßiggang begannen mit ganz gewöhnlichen Streichen: Schilder abnehmen und vertauschen, an den Türen schellen, ein Faß, das ein Bürger vor seiner Tür stehengelassen hatte, mit Gepolter in Nachbars Keller stürzen, daß der Nachbar aufwachte und meinte, es wäre eine Mine geplatzt. In Issoudun steigt man nämlich, wie in vielen Städten, in den Keller durch eine Falltür hinab, deren Zugang von der Straßenseite mit einer dicken Scharnierplanke gedeckt ist, die ein großes Vorlegeschloß verwahrt. Diese »Bösen Buben« waren gegen Ende des Jahres 1816 noch nicht über die Possen hinaus, die sonst überall Knaben und Jünglinge treiben. Da bekam im Jahre 1817 der Müßiggängerorden einen Großmeister, und zeichnete sich von nun an durch Stücklein aus, die bis 1823 einigen Schrecken in Issoudun verbreiteten und Handwerker und Bürgerschaft in einer Art dauerndem Alarmzustand erhielten.

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