Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Vierter Band
Berthold Auerbach

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Achtes Kapitel.

Der Tag hellte sich nicht auf. Am Mittag verwandelte sich der Nebel in ausgiebigen Regen.

Ob's wohl droben auch so regnet? Sie wird arg naß, dachte Walpurga immer vor sich hin, und in der That regnete es im Bergwalde ebenso gleichmäßig; es rieselte und säuselte in den Bäumen, und schnelle Wässerlein liefen überall behende über den Weg und gurgelten und plätscherten die Berghänge hinab.

Irma schritt an ihrem Bergstock –Hansei hatte ihr seinen eigenen gegeben –ruhig weiter. Das Pechmännlein hatte ihr seinen grauwollenen Teppich, in den nur zum Durchschlüpfen des Kopfes ein Einschnitt gemacht war, als Schutz gegen das Wetter übergeben; er selber bedeckte sich sehr geschickt mit leeren Kornsäcken. So schritt er neben ihr und erklärte oft:

»Ich könnte dich tragen.«

Irma ging weiter. Zum Aufsteigen bedurfte man des Bergstockes kaum, aber manchmal ging es auch eine scharfe Berglehne hinab, eine Sunke, wie das Pechmännlein es nannte; da mußte man scharf einsetzen und sich schwingen. Das Pechmännlein war immer bei Irma, jeden Augenblick bereit, sie aufzufangen, wenn sie ausgleite, aber Irma hatte einen festen Schritt.

Es war keine geringe Mühe, die Herde zusammenzuhalten, die noch nicht aneinander gewöhnt war; aber das Pechmännlein verstand zu locken, zu schelten, zu schmeicheln und zu züchtigen, und bald gingen die abgestimmten Glocken miteinander, wie eine immer höher hinaufsteigende Melodie.

»Die Tiere haben's gut, die finden überall am Weg ihr Futter,« sagte das Pechmännlein, »aber unsre Bäuerin hat mir für uns was mitgegeben; wir kommen bald an den Hexentisch, da drunter können wir trocken sitzen und uns auch füttern.«

Es zeigte sich bald ein weit vorspringender Felsen wie ein halbrunder Tisch; hier war trockener Sandboden, wo nur der Ameisenlöwe in seiner trichterartigen Höhle hauste. Gundel, Franz, das Pechmännlein und Irma setzten sich ins Trockene unter dem Hexentisch und speisten mit Hunger, während draußen die Kühe weideten, die der Handbub beaufsichtigte.

»Der Regen dauert lang,« sagte Franz.

Das Pechmännlein wies ihn zurecht und sagte, kein Mensch wisse, wie lang ein Regen dauere. Er wollte Irma Mut machen.

Er haschte einen Ameisenlöwen aus seiner Höhle heraus und zeigte, wie gescheit das Tierchen sei: das macht eine Fallgrube in seinen Sand, versteckt sich in die Spitze des Trichters, eine Ameise kommt arglos des Weges, sie fällt herunter, kann nicht mehr herauf, der feine Sand rollt ihr unter den Füßen ab und der Spitzbub in seinem Versteck spritzt der Ameise Sand in die Augen, holt sie herab und verspeist sie. »Und was das wunderlichste ist,« schloß er, »die graue Made da ist im nächsten Jahre eine bräunliche Wasserjungfer (Libelle) am See.«

Das Pechmännlein kannte Irma, er wußte, daß solch ein Einblick in das Naturwalten sie mehr erquickte, als alles Zureden und alle Speise.

Weiter ging's mit frischer Kraft, immer höher hinan. Die Tiere wurden lebendiger, die Kräuter der höheren Region belebten sie neu. Endlich war man nicht weit vor dem Ausschlag, wo die neue Alm stand; das Pechmännlein hieß Franz voraussichtlich und droben die Stallthür öffnen, Franz folgte hurtig der Anweisung, da hörte man seinen Lockruf, und die Kühe, jetzt auf den freien Wiesenplan heraustretend, brüllten und sprangen empor. Regen und Nebel waren so dicht, daß man erst wenige Schritte vor der Hütte dieselbe sah.

»Gut ist's!« rief das Pechmännlein. »Das ist das beste, es nisten schon Schwalben an unsrer Hütte; jetzt ist's gewonnen!«

Er schritt voran, klopfte dreimal an die Hüttenthür, öffnete, reichte Irma die Hand mit den Worten: »Glück herein, Unglück hinaus!« und endlich war man daheim.

O, ein schützendes Dach über dem Haupte! Irma schaute oft empor und ihr Dankesblick sagte, daß sie es froh empfand, nun im geborgenen Schutz vor dem Unwetter zu sein; aus der Hütte sah und hörte sich der Regen draußen noch viel unheimlicher an, als da man unter demselben bergan gewandelt war. Bald brannte das helle Feuer auf dem großen Herde, und das Pechmännlein nahm etwas aus der Tasche und warf es stillmurmelnd in die Flammen.

»Seit die Welt steht,« sagte er, »hat hier oben noch kein Feuer gebrannt und ist noch kein Rauch zum Himmel aufgestiegen, jetzt sind wir zum erstenmal da. Aber die Schwalben, ja die Schwalben, das ist gut.«

Er hatte wahrscheinlich noch viel zu sagen, aber er wurde von Franz abgerufen, denn im Stall kalbte eine Kuh.

Irma war mit Gundel allein. Sie entkleidete sich schnell und trocknete und wärmte sich am Feuer; aber auch Gundel wurde gerufen, sie sollte mit im Stall sein, damit sie sich bei solchen Vorkommnissen künftig zu helfen wisse, und Irma saß allein, entkleidet bei dem Feuer auf dem Herd; nur kurz war mit dem Frösteln eine Bangigkeit über sie gekommen; jetzt sah sie still in das offene Herdfeuer, ein einsames Menschenkind allein auf der Höhe. Sie wußte nicht mehr, wo sie war, bis sie Stimmen hörte, die sich wieder der Hütte näherten. Sie warf schnell wieder die getrockneten Kleider um, das Pechmännlein brachte seine Glückwünsche an, da man gleich am ersten Tage mit einem mächtigen Stierkalb gesegnet wurde.

Die Nacht brach herein, Franz nahm Abschied. Gundel gab ihm ein Stück Weges das Geleite, und bald hörte man durch den fortrieselnden Regen ein Jodeln von unten und ein Antworten von oben, bis Gundel zurückkam. Man ging bald zur Ruhe.

Das Pechmännlein und der Handbub schliefen auf dem Heu über dem Stall, Irma und Gundel in der Kammer.

Als man am Morgen erwachte, war der Tag kein Tag; dichter Nebel hüllte auch heute alles ein.

»Wir stecken in einer Wolke,« sagte das Pechmännlein.

Die Kühe weideten draußen, die Schellen zerstreuten sich, und es tönte wie träumerisches Bienensummen von da und dort.

Noch mehr Einsamkeit hatte Irma gehofft, und nun war sie in die enge Hütte gebannt mit den wenigen Menschen. Das Pechmännlein hatte gesagt, daß sie die ersten Bewohner dieses Stückes Erde seien, und es schien, als ob die Natur sich dem widersetzte, daß die Menschen es wagten, immer weiter vorzudringen; der Wind heulte, er jagte die Wolken, brachte aber immer wieder neue, und manchmal hörte man Kollern und Knallen; drüben an den Schneebergen rollten die Lawinen herab.

Irma versuchte zu arbeiten, aber es wollte ihr nicht recht gelingen.

Es ward wiederum Nacht und wiederum Tag, und immer noch undurchdringliche Wolke. Selbst die Tiere schienen darüber zu klagen, ihr Brüllen tönte so tiefwehmütig nach dem Thale zu.

Es war am dritten Morgen in der Frühe, Irma erwachte, als ob etwas an ihr gerissen hätte. Sie richtete sich auf. Durch den Spalt am Kammerladen drang ein leiser Schimmer.

»Die Sonne hat mich geweckt,« sprach sie vor sich hin und kleidete sich rasch und leise an. Sie trat hinaus vor die Hütte.

In vollen Zügen sog sie die feuchte, würzige Morgenluft ein. Die Heerkuh, die nicht weit von ihr graste, hob den Kopf empor und schaute Irma an, dann fraß sie wieder weiter.

Mäßig begann ein silbergraues Licht aus dem Osten zu fließen, und durch die Seele Irmas zog jene wunderbare Weise aus Haydns Schöpfung; sie glaubte die Töne fassen zu können wie leibhaftige Erscheinungen, die dort aus dem ersten Morgengrauen brachen: das Grau verwandelte sich in einen gelblichen Ton, und jetzt schoß leise Rot hindurch und färbte sich immer höher und höher, und drunten, weit hinaus, wie eine unermeßliche dunkle Flut, stand noch die schwarze Nacht. Nun aber tauchten aus ihr Schrofen, Spitzen, breite Höhenrücken empor, andre Häupter waren frei und ihr Grund floß noch in der Nacht, die sich jetzt zu dunklem Grau verwandelte. Immer glühender, immer brennender breitete sich das Rot am Himmelsraume aus und immer freier streckten sich die Riesenleiber der Berge hervor, und jetzt kam –das Auge erträgt es nicht –der große Sonnenball herauf, alle Höhen glänzten in Purpur und Gold, und drunten in der Tiefe schwammen nur noch sich ballende und überstürzende Wolken wie hohe Stromeswellen. Der Tag war erwacht, der helle, die Erde erwärmende und durchschimmernde, und Millionen Düfte stiegen auf von Baum und Gras und Blume, und die Stimmen der Vögel tönten drein, und Irma stand und breitete die Arme weit aus, als müsse sie die Unendlichkeit umfassen; sie kniete nicht nieder, sie stand aufrecht, und ihr Fuß hob sich, als müsse sie hineinschweben in die Unendlichkeit des Daseins, und mit beiden Händen faßte sie das Haupt, faßte sie die Binde, die Binde löste sich und fiel zur Erde.

Der Sonnenstrahl leuchtet auf ihrer Stirne, die Stirne war rein, sie fühlt es. –Lange stand sie offenen Auges, und ihr Auge war nicht geblendet von der Sonne und eine erlösende Harmonie zog durch ihre Seele: ein Menschenkind hat den Moment der Schöpfung miterlebt und war neu geschaffen.

»Nun kommt noch, ihr Tage, die ich zu atmen habe, wie lang, wie kurz, wo und mit wem –ich bin frei, ich bin erlöst. Was ich noch thue, es ist mir eine Arbeit vor der Reise. Die Stunde kommt. Sie komme –früh oder spät –ich bin bereit. Ich habe gelebt.«

»Ei, Irmgard, du siehst ja so wunderbar aus!« rief Gundel, die mit dem Melkkübel aus der Hütte kam. »O Gott, was hast du für eine Stirne? So weiß –ach, wie schön! O wie schön bist du! So glatt und so schön hab' ich noch keine Stirne gesehen.«

Irma ließ sich von Gundel ein Glas Milch geben, dann schürzte sie ihr Kleid auf und ging hinein in den Wald. Erst als es hoher Mittag war, kam sie in die Almhütte zurück; ihr Mund hatte heute kaum noch ein Wort gesprochen.

In der Hütte fand sie das Pechmännlein am Tische stehend und einen großen Haufen stark duftender Kräuter und Wurzeln ordnend.

»Schau,« rief er, »ich hab' auch schon was! Ja, ich hab' auch viel Kenntnis, ich hab' Schabziegerklee und Bergpetersilie für die Apotheker gesammelt, ich weiß alles, was sie brauchen von da oben, und hundertmal hat's meine Schwester gesagt: jetzt im Frühling ist alles noch zahm und gut; was Gift sein muß, das kocht erst der Sommer aus. O, sie war gescheit, und hundertmal hat sie's gesagt: das Beste wächst droben, wo die Wolken stehen.«

Nach einer Weile begann er wieder:

»Die Gundel hat recht, ich muß sagen, ich hab's nicht gewußt, daß du so schön bist; aber du siehst doch nicht recht gesund aus –du mußt mehr essen, du issest ja fast gar nichts.«

Irma sah ihn dankbar lächelnd an, aber sie entgegnete kein Wort.

»Weißt du, was ich hätte sein mögen auf der Welt?« fragte er.

»Was?«

»Dein Vater hätt' ich sein mögen.«

Irma nickte still. Ihr Vater war angerufen, und es war ihr, als spräche sein Mund und seine Stimme hier aus dem armen einfältigen Manne, der nun fortfuhr:

»Ich meine oft, du wärst –verzeih mir's Gott, aus dem Himmel herabgekommen und hättest nicht Vater und nicht Mutter, und heut' siehst du gar so aus, daß mir die Augen übergehen, wenn ich dich ansehe. So, jetzt iß aber etwas!«

Er plauderte noch viel, ganz wie berauscht, durcheinander, der Endreim hieß aber immer: jetzt iß aber auch.

Irma zwang sich dem guten Alten zulieb zum Essen.


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