Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Vierter Band
Berthold Auerbach

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Ich muß lernen, es in Geduld tragen, und der Jochem wird auch immer besser. Wenn ich ihm sage: Jetzt kann ich nicht sprechen, so ist er auch zufrieden; es ist ihm schon genug, wenn er nur still dasitzen darf.

*

Von der Arbeit müde –wie gut schläft sich's da! Hunger und Müdigkeit, wie gut sind sie, wenn man sie befriedigen kann. –Da draußen in der großen Welt essen und ruhen sie, und sind nicht hungrig und nicht müde.

Ich habe gar nicht gewußt, daß ich ehedem so viel gesprochen habe und mir Sprechen Bedürfnis war. Jetzt weiß ich beides, da ich still und allein in mir sein gelernt habe. Ich sehe jetzt, jedes Zusammensein mit andern übte einen elektrisierenden Einfluß auf mich und überspannte mein Wesen. Ich war nie unwahr, aber ich war mehr als ich bin. Ich machte andre heiter und war es in mir selbst ach so selten.

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Die Einsamkeit hat eine heilende Trösterin, Freundin, Gespielin: es ist die Arbeit. Wer nicht einsam gelebt hat, weiß nicht was Arbeit ist.

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Ich denke oft an das Wort Dantes: Kein größeres Unglück gibt's, als sich im Elend des Glückes erinnern. Warum sagte er nicht, welchen Glückes? Sich schuldlosen Glückes erinnern, muß immer Wonne sein und sei das nachfolgende Unglück auch noch so groß. Francesca aber spricht vom andern, vom schuldvollen Glück, und sie hat recht. Ich weiß es, daß sie recht hat.

Ich meine, auch mein Vater hat mir damals beim Abschied gesagt: Laß nur solche Freuden über dich kommen, deren Erinnerung dir eine Freude sein kann.

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Wunderbare unterirdische Quellengänge der Seele! Weil ich mich heute eines so tief schmerzlichen Wortes von Dante erinnerte, übersetzte ich mir den ganzen Tag alles, was ich dachte und was ich sah, ins Italienische. Eben jetzt, da ich schreiben will, bemerke ich das.

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Oft ist mir's, als wär's eine Sünde, da ich doch leben soll, mich so zu vergraben. Ich mache meine Gesangsstimme stumm und noch so vieles in mir.

Ist das recht?

Um mit mir selbst ins reine zu kommen, ist dies Leben gut für mich, aber ich möchte etwas für andre thun, wirken. Wo? Was?

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Ich habe einmal gehört, daß die schön geschnitzten Möbel der Vornehmen von den Sträflingen im Zuchthaus gearbeitet werden. Wie schauderte mich's damals! Und jetzt –bin ich selbst dabei, wenn auch in freier Gefangenschaft, und es quillt mir noch ein Trost der Gerechtigkeit aus diesem Thun: die, welche das Leben verunstaltet und verpestet haben, sollen in der Buße arbeiten an der Schönheit des Daseins für andre.

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Meine Arbeit gedeiht. Ich kann aber das Holz vom letzten Winter noch nicht gebrauchen. Mein Pechmännlein hat mir vortreffliches Holz gebracht, langjährig geräuchertes, von einem alten eingerissenen Hause. Wir arbeiten fröhlich miteinander und unser Verdienst ist gut.

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Das Laster ist sich überall gleich, hier wie dort; hier nur offener. Die Laster des Volkes sind roh, die Laster der Gebildeten sind gemein.

Die Vornehmen schütteln die Folgen ihres Lasters ab, die Leute aus dem Volke tragen sie.

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Die rauhen Sitten dieser Menschen sind nötig und sind besser, als die verlogenen Höflichkeitsformeln. Diese Menschen müssen rauh und derb sein; diese Formen sind die starre grobgepanzerte Eichenrinde; nur weil diese Rinde sie deckt, können sie draußen in Wind und Wetter gedeihen.

Ich habe gefunden, daß viel mehr Zartheit und innige Empfindung hinter dieser rauhen Rinde ist, als unter allen glatten Formen.

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Jochem sagte mir heute, daß er wohl noch gut zu Fuß sei, aber das Gehen eines Blinden sei gar beschwerlich. Zuerst mit lockerem Fuß tasten und versuchen, ob der Boden, auf den man treten will, fest und eben ist, und dann erst stark mit dem Fuß auftreten –das sei entsetzlich anstrengend.

Ist das nicht in meinem Leben auch so? Ich muß immer erst ängstlich untersuchen, ob das ein fester Boden ist, auf den ich meinen Fuß setzen kann, sicher, ohne zu straucheln und ohne verraten zu werden.

Das ist der Gang des Gefallenen. Ach, warum wird mir denn alles, was ich höre und sehe, zum Sinnbild meines Lebens?

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Wir leben hier wie die Pflanzen. Die Hauptsorge, Freud' und Leid, ist das Wetter. Regen und Sonnenschein, wie es gerade gut und nötig ist für das Wachstum draußen, das trifft auch uns. Hansei klagt noch oft, daß er sich hier herum nicht aufs Wetter verstehe –daheim am See, da habe er ganz genau gewußt, wie es werde. Diese Unkenntnis läßt ihn hier noch nicht recht daheim sein. Dafür ist unser Pechmännlein ein glaubwürdiger Wetterprophet und dadurch eine wichtige Person im Hause. Ich bin seine gelehrige Schülerin und er ist stolz auf mich. Er ist zutraulich gegen mich, macht auch seinen Spaß, bleibt aber immer in eigentümlicher Weise respektvoll.

Es ist viel Takt unter den Menschen, die nichts von Etikette wissen. Als ich vorige Woche meinem Pechmännlein zu seinem Geburtstage gratulierte und ihm die Hand gab, wurde er feuerrot im ganzen Gesicht; er dankte mir sehr und sagte immer: Wenn er hinaufkomme in den Himmel, wolle er mir gutes Quartier bestellen, und seine Alte dürfe nicht bös sein, wenn er mich in der Ewigkeit noch dazu nehme zu ihr. Er thut sehr gern etwas für mich. Wenn er in meinem Ofen einheizen darf, ist er immer ganz glücklich, und wenn er mein Holz spaltet, liebäugelt er mit jedem Stück, wie wenn dem Holz eine besondere Ehre geschehe, daß es mir Wärme geben darf.

*

Die Volkszählung hat mir einen schweren Tag gemacht. Nach dem Essen zeigte Hansei die Liste, die er ausfüllen müsse, und sagte zu Walpurga: Schreib' du oder sie –er meinte mich –soll schreiben, ihren Namen und Alter und woher.

Wir waren in großer Verlegenheit, bis endlich Walpurga bestimmte: das sei gar nicht nötig, die Herren auf dem Amt brauchten nicht alles zu wissen.

Und das war eine bequeme Handhabe, weil ein Zettel dabei war, worin alles ausgefragt wurde: Wieviel Milch man des Jahres gewinne? Wieviel Butter man verkaufe? Wieviel Hühner man halte? u. s. w. Hansei war ganz grimmig über die Beamten, die gewiß jetzt wieder eine neue Steuer auf alles legen wollen. Dieser Grimm machte mich frei und der Staat ist um eine Seele betrogen.

Die Leute hier halten den Staat und seine Beamten noch für ihre natürlichen Feinde und machen sich gar kein Gewissen daraus, sie zu hintergehen.

*

Ich habe zum erstenmal einen Baum fällen sehen.

Das letzte Zittern hat etwas Schauerliches und dann das Krachen und Aufschlagen. Es ist wie ein Menschenschicksal, das von der Sonnenhöhe durch einen Schlag in die Tiefe und Nacht des Elends stürzt.

Hansei läßt einen Weg durch den Wald schlagen, gerade vor meinem Fenster; ich werde einen schönen freien Ausblick haben. Als ich ihm das sagte, freute er sich sehr.

*

Hansei war in der Hauptstadt. Mit großem Stolz hat er ein großes Paket auseinander gewickelt und uns gezeigt, welch ein gescheites Geschenk er bringe. Es sind die Bildnisse des Königs und der Königin.

Er war so gut und wollte, daß ich die Bilder in meiner Stube aufhänge, und war ganz ärgerlich, daß seine Frau sie für sich behalten wollte. Endlich war er's zufrieden, da ich sagte: »Die Wohnstube gehört ja uns allen.«

Es war mir nun peinlich in der Wohnstube. Die Bilder schauen immer auf mich nieder. Walpurga merkte das und die Bilder mußten in die Schlafstube auswandern. Jetzt bin ich wieder freier.

Hansei sieht auf solche Dinge gar nicht.

Der König hat sich in bürgerlicher Kleidung abbilden lassen. Ist das ein Zeichen? ...

*

Hansei rückt mit seinem Waldplan heraus. Er macht einen klugen Streich, er schlägt zuerst Wege durch den Wald, dann kann er die Stämme von weit oben als Langholz herunterbringen, und so haben sie einen dreifach größeren Wert, als wenn er sie verscheitern muß.

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(3. April.) Anfangs hat man soviel zu beobachten, die ganze Welt ist wie ein junges Kind, wie das erste Grün im Frühling. Später ist man das alles gewohnt, das spricht, das lacht, das steht und geht, das weint und scherzt, das grünt und blüht, und alles ist wie immer und überall. Ich glaube, wir konnten nicht leben, wenn uns die Welt täglich neu wäre und uns keine Ruhe ließe.

Die zweite Mutter, Gewohnheit, ist auch eine gute Mutter.

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Meinem Schimmelfüllen hat man die Füße mit einem Strick gebunden. Es kann nun nicht davonrennen, es kann nur im Schritt gehen. Die schönen freien Bewegungen sind dahin, bevor du eingespannt wirst.

Ach wie viele Menschenbrüder gleichen Schicksals hast du, mein Schimmelfüllen!

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Ich liebe den Regen, dies gelassene Niederrieseln vom Himmel. Ich könnte stundenlang am Fenster stehen und träumerisch hinausschauen und hören, wenn ich nicht arbeiten müßte. Mir ist, als hätte ich Millionen Augen und sähe, wie die Tropfen auf halboffene Knospen fallen. Jetzt geht's auf, alles!

Aber ich schäme mich, hier, wo alles stetig arbeitet, mit offenen Augen müßig in die Welt hineinzuschauen. Schön und lind ist der Regen im Frühling; die Luft und jede kleinste Rinne vor dem Haus und am Berg gewinnt Stimme, Gestalt und Inhalt.

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Sonst bedurfte ich immer eines Fernglases, jetzt erweitert sich mein Blick.

Weil wir nicht im Freien leben, sind wir kurzsichtig.

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Wenn man die Rose veredelt, wachsen ihr auch andre Dornen, aber immer Dornen.

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(15. April.) Heut hab' ich zum erstenmal in diesem Jahr die Goldammer gehört. Sie hat im Frühling noch mehr und fast lauter Sechzehnteltöne; im Sommer hat sie weniger Töne, aber lauter halbe Noten.

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(23. April.) Die erste Schwalbe ist da. Jetzt darf man sich wohlig wiegen im Gefühl des Frühlings. Es ist kein Hangen und Bangen mehr, kein ängstliches Flattern von einem sicheren guten Tag zum andern. Mein Pechmännlein sagt: Die Schwalben und die Stare kommen und gehen in der Nacht. Das gibt zu denken.

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(Ende April.) Ein Regen! O, welche Düfte weckt er aus Blume, Gras und Baum! Und das steigt ins Unendliche, und wir kurzlebigen Menschenkinder meinen, das sei alles für uns. Es ist alles nur für sich.

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Die Immortelle gehört zu dem, was am frühesten zu grünen anfangt; sie gedeiht am Waldrain und kommt auch noch im schlechten Boden fort.

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(1. Mai.) Heute –der Tag war regnerisch und kalt, und es schloßte noch einmal, alles glitzerte und triefte im goldnen Widerschein –da hörte ich am Abend den Kuckuck zum erstenmal. Er flog von Wald zu Wald, von Berg zu Berg, und rief überall.

Warum sagt man nur: Geh zum Kuckuck? Ich hab's gefunden: der Kuckuck hat kein eigen Nest, keine Heimat, er muß, nach der Volkssage, jede Nacht auf einem andern Baum schlafen. Geh zum Kuckuck! heißt also: Geh unstät und flüchtig, sei nirgends daheim.

Als ich der Großmutter meinen Fund mitteilte, sagte sie: »Du hast's gewonnen, du holst dir aus allem was heraus, du hast's gewonnen.«

Sie meint: das Spiel des Lebens habe ich gewonnen.

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Mein gutes Pechmännlein hat mir eine Freude gemacht. Droben bei dem Ahornbaum auf dem Felsenvorsprung, da hat mir's gar so wohl gefallen, und nun hat er mir dort eine Bank hergerichtet: er hat mir aber auch alles Gestrüpp ringsum weggehauen und mir mein Plätzchen eigentlich verdorben. Ich sitze aber doch dort und finde wieder mein ganzes Wohlbehagen. Es kann kein Mensch dem andern etwas vollkommen recht machen, aber dankbar kann man doch sein. Und Dank ist ein Boden, auf dem die Freude gedeiht.

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(Am ersten Maisonntag.) Am Sonntag nachmittag, wenn ich nicht arbeiten darf, habe ich eine unbezwingliche Sehnsucht, in einer leicht wiegenden, offenen Kalesche durch den Park zu fahren; nicht immer gehen, nicht immer etwas thun zu müssen; im Frühling auf einem weichen Sitz, daran Räder befestigt sind, von schnellen Pferden sich durch die Welt rollen zu lassen, oder –noch besser –auf weichem Weg durch den Wald zu reiten, eine fremde Kraft regieren und sie unterthan halten. –Ich kann's nicht vergessen.

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Und in der Nacht, wenn ich zum weiten Himmelsbogen mit den zahllos flimmernden Sternen aufschaue, ist mir's so schwer, zu sitzen und zu gehen. Ich denke der Nächte, da ich im Wagen liegend in die weite Welt hineinfuhr und aufschaute zu den Sternen –wie frei, wie reich war da alles.

So vieles in mir hängt doch am Kleinen.

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Es gibt Tage, wo ich den Wald nicht ertrage. Ich will keinen Schatten. Ich muß Sonne haben, nichts als Sonne, Licht. Ich gehe dann die heißen, schattenlosen Feldwege.

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Ich habe nun auch ein Fensterbrett mit Blumentöpfen. Das ist ganz anders, wenn man warten muß auf die aufblühenden Blumen, als wenn man sie aufgeblüht vom Gärtner bekommt. Und gar die Sträuße damals –dort ...

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Die Abende sind mein Feind –immer so schwer. Der Morgen ist mein Freund –wie leicht wird da alles! War's sonst nicht anders? . ..

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Draußen in der Welt ist es im Gemüte, wie es Baronin Konstanze körperlich ist: sie hat beständig Ohrensausen, kennt nicht die heilige Ruhe, die Stille, die Lautlosigkeit. Erst wenn man nichts mehr von der Welt weiß und will, hört das geistige Ohrensausen auf und man hat die heilige Ruhe, die Stille, die Lautlosigkeit –jeder Klang, der dann eintritt, tönt Wunder.

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Ruhig und rasch ist die Großmutter, beides, wie es gerade erforderlich. Sie ist keine von den ewig Geschäftigen und Heftigen und ist doch nie müßig. Sie kennt die Menschen und ist doch stets gut. Sie hat viel gedacht und ist dabei so naiv. Sie ist so aufrichtig zärtlich zu mir, ja sie sagte, sie habe sich ihr lebelang eine gescheite Person gewünscht, die etwas gelernt habe und mit der man alles ausreden könne. Und das thut sie denn redlich. Ich muß ihr tausenderlei erklären und sie ist für jeden neuen Einblick aufrichtig dankbar.

»Ich hacke mir gern Kleinholz im Vorrat,« sagte sie heute. Das heißt in unsrer Sprache: sie denkt sich gern viel vorher aus.

Es gibt aber doch so manche schwarze Thür, an der wir vorbeigehen und die Augen zudrücken.

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Das Füllen vor meinem Fenster kann mich oft so lang betrachten und sein ganzes Sein schickt mir Gedanken zu. Der erste Mensch, der ein Tier zähmte, das heißt unterjochte, daß es ihn trug, führte, nährte, hat die Herrschaft des Menschen begonnen. Ein andres Tier töten kann das Tier auch, ein andres zu seinem Nutzen leben lassen –nicht. Es gibt keine neuen Tiere mehr, die sich zähmen lassen. Nun wird die Menschheit in Wahrheit zum Dichter, sie verdichtet unfaßbare Kräfte, spricht zum Dampf, zum Licht, zum elektrischen Funken: komm, diene mir!

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Ich habe mir Zucker gekauft und füttere mein Schimmelfüllen; das ist eine große Freude. Und heut dachte ich: wer uns so sähe, das Füllen und mich –es muß ein schönes Bild sein!

O, wie klein und eitel bin ich noch.

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Jedes große Anwesen, jeder ausgebreitete Besitz hat seine Vasallenschaft, am Bauernhof hier und am Hof in der Residenz dort. Da gibt es so viel Dienende, Schmarotzer und freiwillige Unterthanen. Die Welt ist überall gleich.

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Das Bauerntum ist nicht die schöne Welt. Es muß Ackerpferde geben und elegante Wagenpferde.

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Fortleben aus sich, aus der Stimmung, wie sie die eigene Natur gibt, durch nichts von außen erregt, da lernt man sich selbst und das Höchste kennen. In der Wüste offenbart sich die Gottheit dem eigenen Herzen. Der Dornbusch brennt und verbrennt nicht.

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Immer neu haucht mich die Erhabenheit aus den Bergen an.

Die ganze Welt unter mir ist vom Nebelmeer überflutet, nur die Bergspitzen ragen daraus hervor. Ich erlebe täglich den ersten Schöpfungstag.

Ich lerne das Erhabene verstehen. Es ist der Schauer des Großen, nicht der Schauer der Furcht. Mir ist, als wohnte ich in einem Tempel.

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Das Alleinsein macht oft dumpf, halbschlafend. Ich erfahre das auch bisweilen an mir.

Hansei sieht an einem Regensonntag oft stundenlang zum Fenster hinaus. Ich bin überzeugt, anfangs denkt er an ein Pferd, eine Kuh, einen Holzverkauf oder an einen Bekannten, dann aber duselt er so drein und denkt gar nichts mehr. Dieses kinderhafte Daliegen, und In-die-Welt-hineinschauen –wenn man daraus erwacht, ist es so gut und stärkend, als ob man geschlafen hatte. Es ist ja auch nur elementarisches Sein.

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Ich sehe an meinen Aufzeichnungen: früher lag mir's doch im Sinn, als wäre ich hier nur auf einer Reifestation, wo man das Interessante, das Abenteuer festhält; jetzt sehe ich, ich bin auf keiner Station, ich bin am Ziele.

Ich packe mein schweres Fuhrwerk ab, wie mich die Großmutter ermahnte, und zerschlage die Kisten. Hier bleibe ich für meine Lebenszeit. Und jetzt, da ich fest entschlossen bin, zu bleiben –und wenn ich morgen entdeckt würde und der ganze Spott der Welt mich verfolgte –jetzt habe ich ein wohliges Gefühl des Daheimseins. Ich bin und bleibe da.

Ich wurde erst aufmerksam, wie mir das alles durch den Sinn ging, als heute mein Pechmännlein sagte: »Du siehst so vergnügt aus, so –ich weiß gar nicht wie –so hast du noch gar nicht ausgesehen.«

Ja, liebes Pechmännlein, du hast recht. Ich bin heute auch erst recht daheim geworden. Ich habe Wurzel geschlagen wie der Kirschbaumsetzling vor meinem Fenster.

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Der alte Auszügler hat mir heut gesagt: »Schau, Kind, das Alter nimmt viel, aber ich kann noch so schön träumen, so schön, wie in meiner Jugend.«

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Von allen Blumen finde ich auf der Rose den reichsten Morgentau. Macht das der reichste Duft? Ist der Duft taubildend? Kein grünes Blatt hat soviel Tau auf sich, als ein Blumenblatt.

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Ich habe oft die Versuchung, dem ganzen Hause und dem Jochem dabei den Lear zu erzählen.

Es kränkt mich, daß ich ihnen nicht alles gebe, was ich habe, und wie würde es mich kränken, wenn sie mich nicht verstehen!

Wie weit sind doch noch Kunst und Religion auseinander!

Diese kann allen gegeben werden, jene nicht.

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Dem Volke feinere Freuden zu geben –das geht nicht. Es muß die Woche über hart arbeiten, und am Sonntag schieben sie zur Erholung Kegel und tanzen in schweren Stiefeln. Sie müssen derbe Freuden haben und derbe Religion.

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(Am Sonntag unter dem Glockenläuten.) Das Volk lebt ganz ohne Kunst. Die bildende Kunst, das Theater, die höhere Musik, die Litteratur, sie sind für das Volk gar nicht da.

Alles, was sich ihm noch als das andre Leben neben und über dem Trivialen darstellt, ist die Kirche. Und das beste in der Kirche, in allen Religionen, ist das, was sie von Poesie in sich haben.

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Was wird aus einem Menschen, der jahrelang kein ernstes Buch oder überhaupt nicht liest, der keine großen, durchgearbeiteten Gedanken in sich aufnimmt? Ist er vornehm und reich, so wird ihm das Leben eitel Spiel; ist er niedrig und arm, wird ihm das Leben eitel Arbeit. Darum hat die Natur dem Volke das Lied gegeben, und die Geschichte hat die Religion aufgestellt, die den ausgegohrenen Wein alles Wissens und aller Kunst in ihrem Kelche allem Volke darbieten soll; aber sie muß immer neuen Wein nachschütten, sonst –

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(30. Juli.) Die ganze weite Welt war heute ein einziger Nebel, die Sonne war verhüllt. So brütet ein künstlerisch schöpferisches Auge über dem werdenden Gebilde. Nun aber das Zerreißen der Flocken. Einen Augenblick ist die Bergwelt frei. Die Nebel jagen, es scheinen aber neue aus der Erde zu steigen.

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Draußen in der Welt schämt man sich der Mondscheinschwärmerei. Ich bade mich in der Wonne der Mondscheinnacht, wenn die ganze Welt so still verklärt im sanften Scheine ruht und nur der Bach rauscht und glänzt.

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Die Versuchung kommt wieder zu mir und spricht: Es ist eine Sünde an der Natur, eine Verschwendung, die reiche in dir liegende Kraft zu etwas zu verwenden, was auch andre vermöchten. Geh in die Welt, nimm dein jetziges Sein nur als einen Durchgang!

Nein, ich bleibe.

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Wenn ich auf dem Berg stehe und hinausschaue ins Weite, da muß ich mich oft fragen: Bist du noch dieselbe Irma? Wo ist noch eine Spur deines vergangenen schimmernden Lebens?

Nichts als eine lastende Schwere im Herzen.

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Man findet es langweilig, vom Wetter zu reden, und doch gibt es nichts Bedeutsameres; die Pflanzen, die Tiere, sie fühlen, was für Wetter ist, das Wetter ist ihr Tagesschicksal; der Mensch kann das sagen. Und wer so sieht, wie sich Nebel, Wind und Regen bildet, für wen Sonne oder bedeckter Himmel alles ist, dem ist ein ganzes Leben in dem Wetter.

Da steht eine Wolke, wie ein Gürtel, am Gebirgsgiebel drüben, den ganzen Tag regungslos. So sind oft ganze Zeiträume, wie dort Ortsräume, in Nebel gehüllt, verstimmt, in uns ist oft tagelang eine ganze Gegend unsres inneren Wesens so vernebelt.

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Der Mensch hat ein Mienenspiel, das Tier nicht; das Menschengesicht verändert sich je nach seiner Gemütsbewegung, das des Tieres nicht, und das Tier hat dabei immer nur dieselben Töne, der Hund bellt in Freude und Zorn gleich, nur das Tempo verändert sich. Oder sind es nur für unser Ohr dieselben Töne?

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Solche unharmonische, durchaus folgenlose Töne, wie sie die Zippdrossel über mir hervorbringt –wenn ein Mensch sie hervorbrächte, sie würden mir das Ohr zerreißen. Warum aber so nicht? Warum mutet es mich fast an? Der Vogel soll so, das ist seine Natur; der Mensch aber, weil er die Töne frei bilden kann, muß sie auch harmonisieren.

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Was ist all unser Wissen? Wir wissen nicht einmal, was morgen für ein Wetter sein wird; es gibt gar kein festes Zeichen für diese erste Lebensbedingung. Die Bauern wissen auch nichts und reden doch so gern davon.

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Das Jahr hat seinen dramatischen Wendepunkt, das ist die Erntezeit. Da ist eine Hast und Spannung, der nichts gleicht; die Menschen sind da sehr ungemütlich.

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Wenn man lernen will, wie grundverdorben die ganze Welt ist, muß man meinen Blinden hören; da hat er Kraftworte wie Keulenschläge. Er will mich immer aushorchen über Hansei und Walpurga, er möchte gern wissen, was schlecht an ihnen ist; daß sie gar so brav sein sollen, das läßt ihm keine Ruhe.

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Mir fiel heut ein Wort des Leibarztes ein:

Leidenschaftlich sind wir alle, es kommt nur auf den Rhythmus an. Wer die Treppe auf einmal hinabspringt, bricht das Genick; wer sie in gemäßigter Ordnung stufenweise hinabgeht, bleibt gesund.

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Ich sehe hier nie auf die Uhr. Das Leben teilt sich mir nicht mehr in Stunden. Morgen-, Mittag- und Abendläuten vom Thal herauf, danach bestimmt sich alles. Am Kirchturm ist die Uhr –die Kirche bestimmt die Zeit.

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Der alte Jochem ist krank, der Arzt, der ihn besucht, ist eine heitere Natur; er behauptet, daß Jochem noch viele Jahre leben würde, wenn er seinen Aerger und seine Prozesse behalten hätte, das gab ihm Leben und Bewegung und Unterhaltung zugleich, er hatte noch etwas auszufechten in der Welt, noch jemand zu kujonieren, das hielt ihn aufrecht; jetzt in der Friedfertigkeit wird er aus Langweile sterben.

»Du lächelst?« sagte der Arzt zu mir. »Glaub, es ist mein voller Ernst. Ein Kind in der Wiege, das nicht schreit, und ein Hund an der Kette, der nicht bellt, die haben keine Bewegung, kein Leben, und verkommen.«

Er mag doch in manchem recht haben.

Ich fühle mich dem Arzt gegenüber sehr beengt, und er sieht mich immer so seltsam, so forschend an.

»Du lieber Gott, jetzt kommen alle Gräschen heraus, und mich thut man hinunter und ich komm' nicht wieder heraus,« klagte Jochem.

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Der Alte ist gestorben, heut nacht in den Tod hinübergeschlafen. Es war niemand bei ihm.

Er ist gestorben wie ein Baum im Wald, alle Kraft war aufgesogen.

Die kleine Burgei schläft jetzt in meiner Kammer, die Meinigen thun es nicht anders, ich darf nicht mehr allein sein in der Nacht.

*

Mir ist so bang. Ueber mir liegt eine Leiche auf dem Boden und brennt ein einsames Licht dabei –das Licht brennt, bis man die Leiche begraben. Und doch meine ich, ich muß darüber hinaus, ich muß! Ja, ich will.

Noch erschüttert mich's, wie der Alte mein gedacht hat. Er ließ mich gestern hinaufrufen und sagte: »Irmgard, du bist eine Fremde und bist gut gegen mich gewesen –ich möchte dir nun etwas schenken und vermachen, und da hab' ich überlegt, ich kann dir was geben, es ist das beste, was ich habe, und mir nützt's nichts, wenn man mir's mit ins Grab gibt, aber dir kann's gut sein und soll dir gut sein, es liegt ein Heiltum darin. Schau, da ist's, nimm's, es ist die Kugel, die meine dritte Rippe getroffen; bewahr sie gut auf. Wer eine Kugel bei sich hat, die einmal einen Menschen getroffen, der steht nicht mehr in Gefahr, daß ihm ein jäher Tod ankommt, unversehens –kannst dich darauf verlassen! Und jetzt will ich dir noch was sagen: sag mir, wie heißt dein Vater? Du hast ja gesagt, daß er schon gestorben ist. Wenn ich in den Himmel komme, will ich ihn aufsuchen und ihm sagen, daß du ein ganz braves Mädchen bist, ein bißchen eine besondere –ich weiß nicht recht –aber brav. Das will ich deinem Vater sagen und es wird ihm eine gute Botschaft sein.«

Ich konnte dem Alten den Namen nicht nennen –Kann ich das? Ich konnte ihm nur danken, daß er mir etwas gab, was ihm so viel wert war, und wunderbar –wenn ich jetzt die Kugel in der Hand halte und anschaue, wie mir das die Seele bewegt!

Ich will mich rüsten, um den Alten zu Grabe zu geleiten.

*

Ich war auf dem Kirchhof, als der Alte begraben wurde. Da werde ich auch einmal liegen.

*

Ich meine, durch den Willen müßte sich der Tod besiegen lassen. Wenn ich nicht sterben will, sterbe ich nicht. Ist der Wille das in mir Verschlossene, was ich suche? Und doch, ich habe keinen Willen, niemand hat einen Willen, unser ganzes Leben und Denken ist nichts als eine Folge, notwendige Folge von Ereignissen und Erlebnissen, von wachen Erkenntnissen und nächtlichen Träumen; wir können den Ort verändern wie die Tiere, aber den großen Ort, das große Gefängnis nicht: wir können die Erde nicht verlassen. Das Gesetz der Schwere, der Anziehungskraft hält auch unsre Seele fest. Da droben wandeln die Sterne, und ich bin nichts als eine Blume, ein Grashalm, der an der Erde haftet. Die Sterne sehen mich und ich sehe sie, und wir können nicht zu einander.

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Ein regierender Fürst hat unsern Hof besucht. Seine Hoheit, der Grubersepp, von dem mir Walpurga schon viel erzählt, ist angekommen mit seinem kleinen Sohn oder –um es korrekter zu sagen –mit seinen beiden Rappen und seinem Sohn. Es ist ein Leben im Hause und ein Stolz und ein Glück, wie wenn in der That ein regierender Fürst gekommen wäre.

Mich sah der Grubersepp gar seltsam an.

»Ist das zimpfere Mädchen« –sagte er, mit dem Daumen rückwärts deutend, zu Hansei –»ist die da von deiner Frau Seite?«

»Ja, meine Frau« –murmelte Hansei etwas –ich merkte wohl, daß es ihm schwer wird, zu lügen, und nun gar vor dem großen Bauer, dem er sein ganzes Anwesen zeigt.

Es ist auch unter den Bauern so, nur die Großen kennen einander. Aber schön und stattlich ist dieser Verkehr. Die beiden Männer geben einander kein freundliches Wort, aber sie thun einander Freundschaft.

Alles ist glückselig im Hause. Der Grubersepp hat gesagt: Der ganze Hof ist ordentlich im Stand. Und wenn der Grubersepp »ordentlich« sagt, so ist das ebensoviel, als wenn der Intendant göttlich sagt.

Die zwei Tage, die der Grubersepp hier war, herrschte unsägliche Unruhe im Haus, das heißt, alles dachte nur an ihn. Jetzt ist wieder jegliches im alten Geleise, aber eine strahlende Freude liegt auf den Gesichtern. Man hat's von einem Manne gehört, und von was für einem, daß das Anwesen gut im Stand, und so glückselig auch ein Mensch in sich, es ist doch was ganz andres, wenn er von fremdem Munde hört, was an ihm ist.

*

Mir zittert noch die Hand vor Schreck. Heut war ich im Wald; ich saß auf meiner Bank, da sehe ich eine Gestalt durch den Wald gehen, sich manchmal bücken, eine Blume abbrechen, einen Stein aufnehmen; die Gestalt kommt näher und –wer ist's?

Der Freund, den ich mir so oft herwünschte, der Leibarzt. Er fragte mich mit seiner tiefklaren Stimme: »Kind, geht hier der Weg hinab ins Dorf?«

Mir schnürte es die Kehle zu, ich konnte nicht sprechen. Ich deutete hinüber nach dem Fußpfad und stand zitternd auf. Er fragte mich: »Bist du stumm, armes Kind?« Das half mir. Ich bin stumm, stumm, ich kann kein Wort sprechen. Ohne einen Laut von mir zu geben, floh ich vor ihm davon, und lange, lange hab' ich dann geweint, wie seit Jahren nicht. Ich wollte ihm nacheilen, aber er ist fort, ich kann mich nicht aufrichten, es brechen mir fast die Kniee. Jetzt bin ich ruhig –es ist alles vorbei –es muß alles vorbei sein.

*

Ich habe lange, schwere Tage gehabt. Die Arbeit ging nicht von der Hand und vieles mißlang mir. Die Welt draußen hat mich wieder aufgescheucht.

*

Ich danke dem Schicksal das am meisten, daß ich gelernt habe, zu sehen. Ich sehe überall etwas, das mich erfreut, mich denken macht. Die schönsten Freuden, die allverbreitetsten, sind die durch das Auge.

*

Das Pechmännlein kennt alle Vögel am Gesang: das thut mir wohl. Man sagt im Sprichwort: Man erkennt den Vogel an seinen Federn –weil natürlich die wenigsten ihn am Gesang erkennen; sein Federnschmuck ist ständig, sein Gesang nur flüchtig und zeitweilig; jenen kann man fixieren, diesen nicht.

*

Das Krächzen der Bäume im Wald, das mich in jener Todesnacht so erschreckte, höre ich jetzt oft und bin ruhig dabei. Und wunderbar! Sobald ein Vogel singt, hört man es nicht mehr. Woher mag das kommen?

*

Ich habe frische Arbeit bekommen. Jetzt ist mir's wieder wohl. Nur mein Pechmännlein will kränkeln. Anfangs hat mich das fast geärgert. Dann aber habe ich meine eigensüchtigen tyrannischen Gewohnheiten überwunden. Ich habe für treue Dienste wiederum treu gedient. Ich glaube, ich habe den Ohm gut gepflegt; jetzt ist er wieder wohlauf.

Ich bin doch nicht so egoistisch, als ich mich schalt; ich habe gute Menschen mir treu zu eigen gemacht. Aber ich kann nicht Menschen Gutes thun, die mich nichts angehen! Ich gehöre mir und einem kleinen, unendlich kleinen Kreise –weiter kann ich nicht.

*

Wenn ich so still dasitze und den einzigen Raum betrachte, in dem ich lebe und hoffentlich auch sterben werde, da befällt mich oft eine Angst zum Entsetzen; da ist mein Stuhl, mein Tisch, meine Werkbank, mein Bett, das hast du, bis man dich ins Grab legt, und keine Menschenseele ist dein?

Es beklemmt mich, daß ich aufschreien möchte; erst schwer kommt dann die Ruhe wieder. Die Arbeit hilft.

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Ich habe mir eine Stunde Allwissenheit ausgedacht.

Die Stunde von elf bis zwölf gestern am Mittag –es zog ein leichter Sonnenregen vorüber, dann ward's wieder hell und sah ich im Geiste, wie Tausende von Menschen diese Stunde leben: Ich sah den Handwerksburschen am Waldesrand, den König in seinem Kabinett, die Näherin in ihrer Dachkammer, den Bergmann im Schacht, den Vogel auf dem Baum und die Eidechse am Felsen, ich sah das Kind, das in der Schule sitzt, und den sterbenden Greis mit seinem letzten Atem, ich sah das Schiff auf dem Meer, ich sah die Kokette, die sich schminkt, und die arme Taglöhnerin, die Unkraut ausjätet auf dem Acker. Ich sah alles, alles! Ich lebte eine Stunde Unendlichkeit.

Und jetzt bin ich wieder gebunden, ein einzelnes, kleines, armseliges, lallendes Kind. Der große Gedanke der Unendlichkeit zieht nur wie ein Flüchtling durch die Seele, hat keinen Haltpunkt darin. Wir müssen wieder am Kleinen haften.

Ich schnitzle wieder an meiner Werkbank.

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Ich habe einmal gelesen, daß die Araber vor dem Gebet ihre Hände waschen, haben sie aber in der Wüste kein Wasser, so waschen sie die Hände in Sand und Staub. So ist's. Der Staub der Arbeit reinigt.

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Das Volk soll keine Bücher zum Lesen haben, da soll jeder mit dem andern reden, zuhören.

Bücher machen den Menschen einsam für sich. Erzählen, mündlich berichten, das ist alles.

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Die Lehren –nein, die Erfahrungen eines verlorenen Weltkindes haben das doppelte Gute: Nicht nur, wer in der Irre war, ist auf alles aufmerksam geworden und wird der beste Wegweiser –ich meine auch: wer von einem vollkommen reinen Menschen eine Lehre vernimmt, hat keine Wahl, er muß sie annehmen, die Reinheit ist die höchste Autorität; aber aus dem Munde eines Verworfenen muß man jedes Wort prüfen, darf es nicht gleich verwerfen. Und das ist gut, das macht dich frei.

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Die Schwalben ziehen fort! Wie sie sich jetzt in Haufen sammeln und dann blitzschnell im Zickzack mit scharfem Schrillen wolkenartig dahinjagen! So zusammen in unregelmäßigen Bahnen fliegen –wir können uns das gar nicht denken. Wann, wie, zeigen sie einander an, daß jetzt eine scharfe Wendung genommen wird?

Fliegen –wir sehen eine ganz andre Lebenssphäre vor uns und können sie nicht fassen. Und wir glauben, wir verstehen die Welt? Was fest ist, fassen wir, und nur was fest davon ist –weiter hinein beginnt der große Gedankenstrich.

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Ich hörte, wie Franz, der Geliebte der Gundel, zu dieser sagte: Eine Frau, ganz so wie die Irmgard, ist einmal mit der Königin beim Manöver in der Uniform unsres Regiments vor unsrer Front auf und ab geritten.

Wenn der Soldat mich erkannte und verriete?

Welch ein Wirrsaal von Versteckensspiel ist das Menschenherz! Da geht mir's jetzt in meinem Elend wie ein Triumph durch den Sinn, daß in so viel tausend Augen sich mein Bild eingeprägt hat.

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Allein gehen zu dürfen, das bin ich noch immer nicht gewöhnt, ich meine noch oft, der Bediente müsse hinter mir gehen. Ach, wie verschnörkelt und verpuppt leben wir!

Ich war einen ganzen Tag allein im Walde. O, welch eine Seligkeit! Ich lag im Waldesgrund und über mir rauschte es in den Bäumen und drunten der Bach. Wenn du nur hier verenden könntest, wie ein angeschossenes Reh –ich bin's, meinen Weg bezeichnen Blutspuren –nein, ich bin wieder gesund und heil geworden, war schon einmal auf der Welt, auf einer andern, und jetzt lebe ich neu.

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Das Pechmännlein hat meinen Vater gekannt. Er hat einmal einen Sommer lang in unserm Forst Pech gekratzt, da hat sich mein Vater zu ihm gesellt und ihn gelehrt –er verstand alles –wie das Pech besser und reiner auszusieben sei.

»O, das war ein Mann. Ich möchte dir nur wünschen, daß du ihn gekannt hättest,« sagte mir das Pechmännlein, »so ein guter Mann! Ich hab's nachher von allen Leuten gehört, jedem hat er geholfen, er hat alles verstanden; mir hat er gezeigt, wie man aus Lärchen den besten Terpentin gewinnt, geschenkt hat er den Leuten nie gern, er ist aber nicht geizig gewesen, arbeiten hat er allen geholfen und hat sie unterwiesen, wie man's mit geringerer Müh und mit mehr Vorteil macht –das ist mehr, als wenn man Geld schenkt –und hat ihnen jedes Jahr Geld geliehen, daß sie sich ein Schwein haben einthun können, und wenn sie's dann verkauft haben, haben sie's ihm zurückzahlen müssen. Man hat oft über ihn gelacht und hat ihm einen Spottnamen darüber gegeben, aber das war ein Ehrenname. Ja, und sollt' man's glauben? Der Mann hat schweres Unglück gehabt, seine Kinder sind ihm davongelaufen.«

Wie mir das das Herz zerwühlte!

Den ganzen Abend brannte mir die Stirn an der entsetzlichen Stelle.


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