Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Dritter Band
Berthold Auerbach

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Fünfzehntes Kapitel.

Am selben Morgen, an welchem der König auf dem Jagdschloß mit Bronnen saß, trat der Leibarzt, zur Königin gerufen, ein. Sie lag aufgerichtet auf dem Ruhebett, weiß gekleidet, und sah erschöpft und bleich aus; sie sprach es aus, wie sie voll Zorn sei über sich selbst, über die Eitelkeit und Einbildung, daß sie, eine junge Königin, sich für gut und klug, ja für eine höher bevorzugte Natur gehalten; sie spottete über ihre Albernheit und Eitelkeit.

»Wußten Sie von dem, was hier vorging,« fragte sie den Leibarzt.

»Nein. Ich konnte es nicht glauben, und jetzt erst verstehe ich den gräßlichen Tod meines guten Eberhard. Ein Vater in solchem Schmerze! – «

Die Königin ging nicht auf dieses ein; sie sprach fast zu sich:

»Wenn ich mir die Tage zurückrufe, die Stunden, in denen sie sang – ist es möglich, solche Lieder, solche Worte zu singen, von Liebe, Güte, Hoheit, Reinheit und dabei nichts in der Seele, ja schrecklicher als nichts, Falschheit, Heuchelei? Jedes Wort schielt! Dürfen wir Fürsten sein, uns über andre stellen, über andre herrschen, wenn wir uns nicht durch Reinheit und Seelengröße über sie emporheben? Ich bin eine andre geworden seit gestern. Meine Seele lag tief unten auf dem Seegrund und über mir die Wellen des Todes, der Verzweiflung. Nun aber will ich leben. Sagen Sie mir nur, wie man es aushält. Sie sind nun schon so lange hier am Hof und verachten alles; schütteln Sie nicht den Kopf, ich weiß, Sie verachten alles! – Sagen Sie mir, wie hält man das aus? Wie macht man es, daß man doch bleiben, doch leben kann? Sie müssen das Geheimmittel haben. Geben Sie mir's! Das allein wird mich retten.«

»Majestät!« versetzte der Arzt, »Sie sind noch in fieberischer, überreizter Stimmung.«

»Wirklich? Das also ist Ihre Wissenschaft? Die Fürsten haben recht, wenn sie die Menschen mißbrauchen, denn die Menschen, auch die besten, sind Höflichkeitsschatten! Auf Sie hatte ich alles gesetzt, Sie hatte ich hochgehalten. Und was geben Sie mir? Einen Handschuh, wo ich eine Hand fassen will. Sie lächeln? Ich bin nicht wahnwitzig, ich bin nur aufgewacht. Ich habe die Stunde gelebt, wo mir auf einmal die ganze schöne Welt – ach, sie war so schön! – lauter kriechendes Gewürm, fauler entsetzlicher Grabesmoder ward. O, es ist schrecklich! Ich glaubte, daß es einen freien Menschen gäbe, einen, dem man alles sagen, von dem man alles fordern könnte – Sie sind es nicht. Ach, es gibt nur titeltragende Geschöpfe auf dieser Erde, es gibt keine Menschen!«

»Du sollst nicht vergebens an mir gerissen haben,« murmelte Gunther halblaut und erhob sich.

»Ich wollte Sie nicht kränken!« rief die Königin. »Ach, so ist's ja, in Kummer und Schmerz verletzen wir gerade unsre Nächsten.«

»Beruhigen Sie sich, Majestät!« erwiderte Gunther, sich niederlassend. »Wenn etwas gut an mir ist, so darf ich sagen, ich verweichliche mich nicht. Ich bin hart gegen mich, und darum bin ich es auch gegen andre.«

Die Königin schloß die Augen, dann aber schaute sie wieder groß auf und sagte:

»Ich fürchte nichts mehr.«

Gunther fuhr fort:

»Nun denn, so wissen Sie. Keine Phantasie eines Menschen kann ausdenken, wie niederträchtig und jammervoll das Gewirre des Menschenlebens ist, aber auch keiner kann ergründen, wie schön, wie groß, heilig und erhaben trotz alledem. Majestät! Ich bin hier im Schlosse, das eine Welt im kleinen ist, eine Welt für sich. Da ist hingezogen alles, was gräßlich, und alles, was erhaben ist, und – die Blumen blühen und die Bäume grünen und die Sterne schimmern darüber. Auch im Verächtlichsten blüht noch eine Blume, glänzt noch ein Stern. Es fällt ein Tropfen aus der Himmelswolke, er fällt auf die staubige Straße und Staub und Tropfen werden zu Straßenschmutz. Aber für das Auge, das tiefer sieht, ist der Tropfen noch rein, wenn auch fast bis zur Unkenntlichkeit zersplittert und bis zur Untrennbarkeit vereint mit dem trübenden Staub. Doch auch dieses Bild genügt nicht ganz. Kein sinnliches Bild, das uns das Ewige, das uns Gott veranschaulichen soll, trifft ganz zu. Auch im Stäubchen ist Gott. Nur vor unserm Auge ist es Staub, vor dem Auge Gottes ist es so rein wie das Wasser und gleicherweise eine Stätte der Unendlichkeit. Die Menschen alle, die Ihnen so verlogen erscheinen – diese Menschen möchten gern gut sein, wenn es nur nicht so viel Mühe kostete und so manche Entbehrung auferlegte. Die meisten Menschen wollen Tugend gewinnen, aber nicht erwerben; sie möchten gern das große Los in der Morallotterie gewinnen. ›Ach, wenn ich nur ganz gut wäre,‹ klagte mir einmal eine verdorbene Unschuld. Majestät! Der reine Gedanke spricht: Haß und Verachtung sind nicht gut, denn sie schädigen die Seele. Die Kunst des Lebens ist: das Niedrige als niedrig zu erkennen, aber durch Leidenschaft gegen das Gemeine sich nicht selbst zu erniedern. Sie müssen den Haß aus dem Herzen ziehen und Frieden schließen mit dem Geiste. Der Haß zertrümmert die Seele. Sie müssen wissen: Laster und Missethaten sind bei Licht betrachtet gar nicht wirklich, sie sind nichts als Mängel! Sie können tausendfache traurige Folgen haben, aber sie bestehen nicht; die Tugend allein ist eine Wirklichkeit, Stellen Sie sich hier herauf, und es sind nur noch Schatten, die Sie quälen.«

»Ich sehe die Stufe,« sagte die Königin, »helfen Sie mir hinauf!«

»Es gibt nur Selbsthilfe. Jeder muß lernen, souverän zu werden; selbst die Königskrone verleiht das nicht. Das Gesetz lehrt: Du bist souverän, wenn du deine Seele nicht von Haß und Verachtung erfüllen und dir damit die Welt rauben lässest, die dir gegeben, sei diese Welt groß oder klein.«

»Ich glaubte zu sehr an Tugend und Güte –«

»Wohl. Solange man an die Menschen glaubt, kann man getäuscht werden und wird verzweifeln; man will und wird immer nur sehen, was die Menschen für uns sind, nicht, was sie für sich sind. Solange man an die Güte der Menschen glaubt, kann uns das Verkehrte, wo man Gutes erwartete, irre machen. Sobald man aber weiß und erkennt das Göttliche in jedem, das der Träger selbst nicht kennt, ist man geborgen im Höchsten, und die Welt ist dir geborgen im Höchsten.«

Die Königin richtete sich rasch auf, sie reichte dem Leibarzt beide Hände und rief:

»Sie sind ein Wunderthäter!«

»Ein Wunderthäter? Nicht doch, nur ein Arzt, der schon viele fiebernde und viele todesstarre Hände in seiner Hand gehalten. Ja, meine ärztliche Kunst mag Ihnen ein Sinnbild sein. Wir helfen dem Menschen, und fragen nicht, wer er sei, wir helfen ihm zu jeder Tages-, zu jeder Nachtzeit, weil ihm geholfen werden muß – und sei es, daß er dann, wieder gesund geworden, seinen schlimmen Weg weiter wandle. Das Einzelne ist unsre That, das Ganze unser Denken. Wir selber sind Stückwerk, unser Thun ist Stückwerk, das Ganze ist Gott.«

»Ich verstehe das, ich glaube es zu fassen. Wir leben aber doch nur im Einzelnen, und wie erträgt man das einzelne schwere Schicksal? Kann man denn im guten genommen – ich meine es im guten – immer außer sich sein?«

»Ich weiß, Leidenschaften, Affekte, lassen sich nicht durch Ideen berichtigen; denn sie erwachsen auf verschiedenem Grunde oder vielmehr sie bewegen sich in ganz andern Sphären. Majestät! Es sind wenige Tage her, da habe ich meinem alten Freunde Eberhard die Augen zugedrückt. Er war ein Mann, der zum Höchsten strebte und im Besten lebte, einsam, von der Welt abgewendet; aber nur selten und nie voll gelang es ihm, sein Naturell durch die Idee zu berichtigen. In seiner Sterbestunde schwang er sich hinaus über das Leid, das entsetzliche, das ihm im Herzen brannte um sein Kind: er rief sich Gedanken zu, die er aus der klaren Erkenntnis seiner besten Stunden geschöpft, und starb in ihnen frei und erhoben. Majestät, Sie sollen noch leben und wirken, sich selbst erhöhen und andre. Ich rufe Ihnen eine Stunde in Erinnerung. Dort unter jener Hängeesche, wo Sie, aufgenommen vom reinen Menschentum, sich des armen Kindes erbarmten, das zwiefach hilflos in die Welt gesetzt ist, und ihm die Mutter nicht rauben wollten – den reinen und echten Geist jener Stunde rufe ich in Ihnen an. Damals waren Sie groß und verzeihend, weil Sie noch nichts gelitten; Sie warfen keinen Stein auf Gefallene, Sie liebten und Sie verziehen.«

»O Gott!« rief die Königin, »und was ist mir geworden? Das Weib, an dessen Brust mein Kind ruhte, ist der Verworfensten eine. Ich hatte sie geliebt wie die Bewohner einer andern unschuldsvollen Welt, und nun ist mir's klar geworden, sie war die Vermittlerin, eine Heuchlerin ohnegleichen unter der Maske der Naivetät. Ich hatte geglaubt, in der einfachen ländlichen Welt lebt noch die Reinheit und Wahrhaftigkeit – es ist alles verdorben und verkehrt. Die Welt der Naivetät ist schlecht, ja noch schlechter als die der Korruption.«

»Ich streite jetzt nicht um die einzelne Person; ich glaube, daß Sie sich in Walpurga irren; aber sei es auch, daß Sie recht haben, so viel ist doch klar: das was man Bildung und was man Unbildung, Glauben oder Unglauben nennt, kann sittlich und unsittlich lassen; die wahre Erkenntnis allein ist die Reinheit, die wiedergewonnene, feste. Erweitern, erheben Sie den Blick und sehen Sie über das Einzelne hinweg und sehen Sie das Ganze; nur im Ganzen ist Versöhnung.«

»Ich sehe wohl, wo Sie stehen, aber ich kann nicht hinan; ich kann nicht mit Ihrem Teleskop hinausschauen – immer nur in Ihren blauen Himmel. Ich bin zu schwach. Ich weiß wohl, wie Sie es meinen. Sie sagen: siehe hinweg über diese paar Menschen, über diese Spanne Raum, die man ein Königreich nennt, sie sind nicht mehr als einige Halme im Feld, eine Scholle im All.«

Der Arzt nickte zufrieden, aber die Königin fuhr traurig fort:

»Ja, aber dieser Raum und diese Menschen – das ist meine Welt. Wenn nicht um uns her – ist die Reinheit dann bloße Phantasie? Wo ist sie?«

»In uns,« erwiderte Gunther, »und wenn in uns, überall, und wenn nicht in uns, nirgends. Der steht auf der Vorstufe, der noch etwas verlangt. Das ist die rechte Liebe noch nicht; die rechte Liebe zu den Dingen der Welt und zu ihrem Urgrunde, Gott, hat man erst, wenn man keine Gegenliebe, wenn man nichts dafür verlangt. Du liebst das Göttliche in den Dingen, die sich nicht selbst in ihrer Göttlichkeit erkennen, die versunken und verschüttet sind, unerlöst, wie es die Kirche nennt! diese Liebe zur Gottheit oder zur ewigen reinen Natur ist die höchste Freude, hat mich mein Meister gelehrt und ich habe es in mir gelernt, und Sie, Majestät, sollen es auch und können es. Dieser Park gehört Ihnen; die Vögel, die in ihm wohnen, Luft und Licht, die darin strömen und schaffen, und seine Schönheit gehören nicht Ihnen, sondern mir und jedem, so gut wie Ihnen. Solange man noch im gemeinen Besitz der Welt ist, kann man sie verlieren, sobald man aber in den reinen Besitz der Welt gekommen, kann niemand mehr sie uns rauben. Es gilt, stark zu sein und zu wissen: Haß ist Tod, Liebe allein ist Leben, und so viel Liebe in dir, so viel Leben und Göttlichkeit ist in dir.«

Gunther erhob sich und wollte sich entfernen. Es ist genug. Das innere Denken der hohen Frau darf nicht überschüttet werden. Die Königin bat ihn indes mit einem Wink der Hand, noch zu bleiben. Er setzte sich wieder. Lange war es lautlos im Gemach.

»Sie können nicht denken,« begann die Königin wieder, »doch, das ist eine der Redensarten, die wir auswendig gelernt haben, ich meine das Gegenteil: Sie können sich denken, welch eine Umwälzung alles das, was Sie mir sagen, in mir machen muß.«

»Ich begreife es.«

»Lassen Sie mich nur noch einiges fragen. Da, wo Sie stehen und wohin Sie mich führen wollen, ich glaube – nein, ich sehe, ich weiß, daß hier oben ewiger Friede, es ist aber auch so einsam und kalt; ich habe ein Gefühl der Bangigkeit, als würde ich in einem Luftballon in die dünne Atmosphäre hinaufgetragen und es würde immer mehr Ballast ausgeworfen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Ich verstehe nicht, wie man den Menschen liebreich nahe sein und ihnen doch nur so von ferne zusehen kann, wie einem Spiel der Naturkräfte. Hier oben verschwindet doch eigentlich jeder Klang und jedes Bild.«

»Gewiß, Majestät, es gibt ein Reich des Denkens, in dem Hören und Sehen vergehen muß; da ist nur Denken und nichts andres mehr.«

»Ist das aber nicht ein Denken aus dem Tode heraus in das Leben hinein? Ist das etwas andres, als klösterliche Selbsttötung?«

»Das gerade Gegenteil. Dort liebt man den Tod oder preist ihn wenigstens, weil nach ihm das Leben erst beginnen soll. Ich gehöre nicht zu denen, die ein andres Leben verneinen; ich sage nur mit meinem Meister: unser Wissen ist ein Wissen vom Leben und nicht vom Tode, und wo mein Wissen aufhört, hört mein Denken auf. Unsre Arbeit, unsre Liebe gehört dem gegenwärtigen Leben. Und weil Gott in dieser Welt ist, in allem, was darin erscheint, und nur in den Dingen, darum haben wir dies Göttliche in allem zu befreien. Das Gesetz der Liebe soll walten. Und was das Naturgesetz in den Dingen, das ist das Sittengesetz und das Recht im Menschen.«

»Ich kann mich nicht darein finden, wie Sie die Gotteskraft so in Millionen Teile zersplittern. Wenn man einen Stein in Splitter zerbricht, bleibt jeder Teil noch ein Stein; aber eine Blume, die man zerreißt, da sind die Stücke keine Blume mehr.«

»So nehmen Sie dies Bild, obgleich in Wahrheit kein Bild ausreicht. Die ganze Welt, das Firmament und die darauf lebenden Geschöpfe – sie alle sind nicht zerteilt, sie sind eins, sie sind, vor dem Gedanken zusammengeschlossen, die Blume, daraus die Gottesidee duftet, und der Duft, der hinaussteigt, ist in der Blume und haftet an ihr; die Werke aller Dichter, aller Denker, aller Helden sind nur Duftströme, die durch Raum und Zeit dahinschweben. In der Blume selbst haften und sind sie ewig. Nicht im Einzelnen zerteilt ist der ewige Geist da, er ist nur als Einheit in der ganzen Welt, in jedem Wesen, jeder Zelle am Baum, an der Blume. Wer in der Unendlichkeit denkend steht, sieht als die Welt den großen Blumenkelch, daraus der Gedanke Gottes duftet.«

Die Königin hielt längere Zeit das Gesicht mit beiden Händen verdeckt. Gunther verließ das Gemach.


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