Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Dritter Band
Berthold Auerbach

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Zwölftes Kapitel.

Die Sonne steht in Pracht am Himmel, unter den Bäumen am Waldesrand, auf weichem Moos ausgestreckt liegt eine schöne Frauengestalt in blauem Gewand. Jetzt zittern die Sonnenstrahlen in ihr Antlitz, sie erwacht und stemmt das Haupt mit den reichen braunen Locken auf die Hand und schaut wie verloren drein.

Die Luft war voll Harzduft und frischer Seekühle, an den Bergen läuteten die Schellen der weidenden Kühe, der Tau glitzerte, alles leuchtete – nur für sie ist Nacht um und um. Es dauerte lange, bis sie glaubte, daß sie wache, bis sie sich besann, wo sie war. Endlich wurde sie ihrer selbst inne, aber sie bewegte sich nicht. Dumpf und schwer zog es durch ihre Seele: Warum wieder erwachen? O du unbarmherzige Natur! Warum kann nicht ein tiefer Seelenschmerz dich brechen? Warum verlangst du wieder eine Naturmacht gegen dich? Feuer, Wasser, Stahl, Gift? Warum kann die Seele den Leib verderben und nicht auch töten? Sonne, was willst du von mir? Ich will dich nicht mehr – hier meine Stirn, darauf brennt die tote Hand meines Vaters und in mir hämmert das Gewissen mit tausend Fäusten und zerschlägt mich nicht. – Warum? – Warum?

Sie schloß die Augen und wendete sich ab von der Sonne. Es flüsterte ihr zu: Noch ist es Zeit, noch kann alles nur ein höllisches Abenteuer gewesen sein, ein Traum mit wachen Sinnen. Kehr um! du kannst, du darfst es ... du hast genug gebüßt ...

Wie mit unsichtbarer Gewalt riß es sie wieder herum nach der Sonne hin. Dort unten blinkt der See und seine Wellen murmeln: Tief in meinem Grunde ist alles Denken, alles Grübeln, Zagen und Zweifeln zu Ende!

Sie stand auf, und als sie im Moos die Abzeichnung ihrer Figur sah, wie sie dagelegen, starrte sie lange darauf. So schaut der Hirsch mit dem Todesschuß im Herzen auf sein nächtliches Lager. Was sind wir mehr als die gejagten Tiere im Wald? ... Es ist alles eitel ... Was nützt es, sich die Seele zermartern? Mit einem kühnen Sprung allem ein Ende machen – das ist's ...

Sie setzte den Hut auf und schritt weiter, allein in der Welt mit dem einzigen Gedanken: nichts rief sie an, sie ist Herrin über Leben und Tod.

Brombeerstauden faßten ihr Gewand und hielten sie fest; sie machte sich los und Dornen ritzten ihre Hände und Füße. Ein unbezwinglicher Hunger nagte an ihr. Sie weinte wie ein verlornes Kind.

Die Thränen erleichterten sie.

Da winken frische Beeren, sie pflückt sie und ißt sie mit Gier. Aus dem Brombeerstrauch fliegt ein Vogelpaar auf, hier ist das Nest, es ist leer, alles in der Welt hat seine Heimat ... Selbstvergessen steht Irma lange. Sie wendet den Blick – sieh da, neben den Brombeeren stehen auch Giftbeeren, Belladonna ... wen nach dem Tode hungert, der speist sie ... Irma pflückt die Giftbeeren nicht, sie will nicht in langen Qualen sterben, vielleicht nur halb sich töten, umsinken und wieder in die Hände der Menschen fallen. Nein, in den unergründlichen See!

Irma machte sich los, hastig, wie wenn sie sich auf dem Wege versäumt, und schritt weiter. Der Tau netzte ihre wunden Füße, sie fror und zitterte.

Da kam durch die Lüfte heller Musikklang, schmetternde Trompetenfanfaren. Irma faßte sich an die Stirn. Das ist keine Musik, es sind Träume deiner Einbildung, die Weltfreuden locken, sie rufen mit Geigen, Klarinetten und Trompeten: Komm, wiege dich auf unsern Tönen, sei lustig und genieße die Tage, die dir beschieden ... Aber horch! Noch einmal der Klang und jetzt noch einmal und jetzt Böllerschüsse, daß das Echo in vielfältigem Rollen von den Bergen widerhallt. Sie feiern wohl heut eine Hochzeit drüben in einem stillen Dörfchen. Ein Mädchen und ein Jüngling, die sich liebten und treu zu einander hielten, gewinnen heut einander, und Musik und Böller rufen den Bergen zu: Freuet euch mit uns! Das Glück der Liebe ist ewig wie ihr ...

Irma wandelt hin in sich versunken und schaute nieder auf die Erde – ihr Geist ging mit den Glückseligen! sie sah die frohen Blicke der Eltern, der Kameraden und Gespielen, sie hörte den Segen des Priesters – und dabei ging ihr Fuß weiter durch das taufeuchte Gras und Gestrüppe. Sie hielt die Hand fest geballt, als müßte sie den Vorsatz, der sie den Weg dahin führte, leibhaftig festhalten. Sie ging am See entlang. Hier überall seichtes Ufer, sumpfiges Röhricht – da gibt es keinen jähen Tod, nur langsames martervolles Versinken; sie geht um und um, rennt hin und her, schleunigen Schrittes, hastigen Atems. Dort endlich ist ein Felsenvorsprung am Ufer, senkrecht geht die scharfe Klippe hinab. Sie klettert hinan, sie hebt die Hände empor und beugt sich über – da ... es ruft ... wer ruft hier? Sie hört einen Jammerschrei aus dem Wasser, einen Hilferuf, ein Plätschern; ihr Hut rollt vom Felsen hinab ins Wasser – sie sieht eine Menschengestalt mit dem Wasser ringen – sie taucht auf – es ist die schwarze Esther – sie taucht auf und unter und schwimmt weiter. – –

Mit schrillem Schrei stürzt Irma am Felsen nieder, sie hat ihre eigene That vor sich gesehen, alle Glieder sind ihr gelähmt, sie liegt da wie im tiefen Wassergrunde, sie fühlt sich und kann doch nicht empor, es ruft aus ihr, aber kein Schrei dringt durch die Luft.

Da – wie sie so liegt, hört sie singen:

»Wir beide sein verbunden
Und fest geknüpfet ein,
Glückselig sein die Stunden,
Wann wir beisammen sein.«

Irma springt auf. Was ist das?

Sie springt hinab vom Felsen, als stürzte sie eine fremde Gewalt. Sie wischt sich die Thränen aus den Augen, es rinnt ihr über das Antlitz, Blut – Hat sie blutige Thränen geweint?

Dort kommt ein großer Kahn näher und näher ... es ist die Stimme der Walpurga, die ruft, sie kommt, sie erkennt die Freundin, Irma entflieht. – Walpurga springt ans Land, kommt ihr nach, sie flieht weiter, Walpurga erreicht, umfaßt sie und sie sinkt an ihr nieder.


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