Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Dritter Band
Berthold Auerbach

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Neuntes Kapitel.

Der Leibarzt hatte an Emmy einen Boten geschickt mit der Nachricht vom Tode Graf Eberhards und der Verzweiflung Irmas. Die Priorin hatte Emmy ermahnt, zu der jungen Freundin zu eilen, der man so viel Dank schuldig war; da keine Nonne allein reisen durfte, gab sie ihr als Begleiterin eine Schwester mit, die eine bewährte Krankenpflegerin war.

Als die Kammerjungfer die Ankömmlinge meldete, sprang Irma unwillkürlich auf. »Das ist die Erlösung! Im Kloster, abgeschieden von der Welt, lebendtot – dort wartest du, bis man dich ins Grab legt.«

Ein Leben, in dem nichts vorgeht ... sprach es plötzlich, als stände der alte Schiffer hinter ihr, der die Worte gesprochen.

Ein trotziger Gedanke schwellte ihre Lippen: Ich warte nicht, bis mein Leben zu Ende, ich zwinge das Ende – –

Es dauerte lange, bis sie der Kammerjungfer die Antwort gab:

»Ich danke von ganzem Herzen, aber ich will niemand sehen, niemand hören.«

Irma fühlte sich stark, als sie diese Worte gesprochen. Nun ist auch das vorbei, muß vorbei sein.

Und wieder war es still und dunkel, und wieder sprach draußen der Pendelschlag: Vater – Tochter, Tochter – Vater.

Es läutete vom Thal herauf, das ist die Abendglocke.

Es muß sein! sprach Irma zu sich. Sie schlug die Vorhänge zurück und schaute hinab ins Thal, dort gingen die Nonnen in den langen schwarzen Gewändern durch die Wiesen. Sie eilte in Gedanken ihnen nach und sprach in die leere Luft hinaus: Leb wohl, Emmy! Dann rief sie der Kammerjungfer, sie solle Befehl geben, daß man ein Pferd sattle, sie wolle ausreiten. Sie zeigte der Kammerjungfer ihr Antlitz nicht. Niemand soll diese Stirn je sehen. Die Kammerjungfer zog ihr das Reitkleid an, setzte ihr den Reithut auf, der noch mit dem Stück des Adlerflügels geschmückt war; Irma schauderte, als sie, auf den Hut greifend, den Flügel berührte; den Vogel hatte der König geschossen und ihr den Flügel gegeben damals ... es ist wie eine letzte geisterhafte Berührung.

Sie befahl, über dem Schleier am Hut noch einen zweiten Schleier zu heften, und erst als sie ganz verhüllt war, ging sie hinaus. Sie sah nicht auf, sie nahm von nichts Abschied, sie heftete den Blick auf den Boden.

Im Hofe stand das Reitpferd Irmas; es scharrte lebhaft und blies die Nüstern auf, als es Irma sah. Sie fragte nicht, wer ihr Reitpferd aus der Residenz hergebracht; sie streichelte ihm den Hals und nannte es mit seinem Namen: Pluto. Sie war in Gedanken schon so aus der Welt, daß sie das Tier wie ein Wunder, wie etwas noch nie Gesehenes betrachtete. Sie stieg auf.

Auch der große Lieblingshund ihres Vaters war da und bellte ihr zu. Sie befahl, daß man den Hund ins Haus zurücktreibe.

Im ruhigen Schritt ritt sie davon. Sie schaute nicht auf, nicht rechts, nicht links. Die Sonne stand gerade hinter den Wipfeln der Bäume und das Licht brach in zersplitterten Strahlen durch das Gezweige wie dünne Sonnenfäden, zwischen den Stämmen hindurch glänzte der Himmel im Goldgrund.

Irma hielt an und winkte dem hinter ihr reitenden Baum; er ritt an ihre Seite.

»Wie viel Geld haben Sie bei sich?«

»Nur wenige Gulden.«

»Ich muß hundert Gulden haben. Reiten Sie zurück und holen Sie.«

Baum zögerte; er wollte sagen, daß ihm nicht gestattet sei, die Gräfin zu verlassen, aber er wußte das nicht vorzubringen.

»Warum zögern Sie? Haben Sie nicht verstanden?« sprach Irma, es lag ein herber Ton in ihrer Stimme. »Reiten Sie augenblicklich zurück.«

Baum wendete sein Pferd.

Kaum war er aus ihrem Gesichtskreis, als Irma ihrem Pferd die Peitsche gab, über den Graben zur Seite sprengte, eine Bergwiese hinan und hinein in den Wald, Im gestreckten Galopp folgte sie demselben Wege, den Bruno vor wenig Tagen geritten. Das Pferd war mutig und lebhaft, es freute sich seiner schönen Reiterin, sie kannten einander; lustig, als ginge es zur hellen Jagd, rannte es dahin. Und es geht zur Jagd, dort knallt ein Schuß; aber Pluto ist schußfest, er schrickt nicht zusammen. Immer lustiger geht's im Galopp dahin. Das Abendrot blinkt durch die Waldbäume und spielt in funkelnden Lichtern auf Stämmen und Moos. Und weiter geht der flüchtige Ritt, weiter, immer weiter!

Jetzt ist sie oben auf dem Bergkamm, der breite See drunten glänzt wie Purpur.

»Dort!« ruft Irma, »dort bist du, kühler Tod!«

Pluto hält an, er glaubt, seine Herrin habe es befohlen.

»Du hast recht,« sagte sie, ihm den Hals streichelnd, »es ist weit genug.«

Sie steigt ab und wendet das Pferd; es sieht sie noch einmal an mit seinen großen treuen Augen, sie hat den Schleier zurückgeschlagen.

»Zieh heim, du sollst leben. Zieh heim!«

Das Pferd steht still. Da hebt sie die Peitsche und gibt dem Pferde einen Schlag, daß es davonrennt; Mähnen und Schweif im Abendwind flatternd, rennt es dahin über den Bergkamm.

Irma steht und sieht ihm nach. Dann setzt sie sich an den Rand eines vorspringenden Felsens und schaut hinein in die weite Landschaft und in die untergehende Sonne.

»Zum letztenmal, du schönes Licht, ihr Farben am Himmel, zum letztenmal, bevor ich in die Nacht des Todes sinke ...«

Einen Augenblick saß sie ganz hingenommen von dem Anblick, der sich ihr aufthat; sie wußte nicht mehr, von wannen sie kam, wohin sie wollte. Da standen in weiter Reihe die hochaufragenden Berge, vielgezackt, Gipfel an Gipfel, und immer tiefer hinein ragte ein Berghaupt empor. Die bewaldeten Berge umschwebte ein violetter Duft, an den scharfkantigen nackten Schrofen zitterte der Abendstrahl, und hoch auf die schneebedeckten Firnen breitete sich still der Hauch des Abendrots, immer höher sich färbend, während es drunten immer mehr nachtete. Wie durchglüht stand die eine große Schneekuppe, und jetzt zog mählich eine Wolke drüber hin und nahm den roten Schimmer vom Berge mit sich fort, als wär's ein Schleier, den sie hob! die Wolke verschwebte erglühend, und totenfahl starrten die Schneehöhen. Es war der Anblick eines Gestorbenen.

Der große Tod zog über die Höhen.

Wer so mit ihm verschwinden könnte im Aether!

Irma schauerte, ein fröstelnder Luftstrom strich über die Höhe. Sie fuhr sich mit der Hand über das Antlitz. Sie fühlte, wie auch sie erblaßt war. Sie stand auf, stieg höher, um noch einmal den Feuerball zu schauen. Sie kam zu spät, und laut sprach sie:

»Was nützt es, die Sonne zu schauen, ob tausend-, ob abertausendmal, wenn sie uns doch einmal untergeht? Und sie ist auf ewig untergegangen dem dort unter dem Boden, an dessen Hand nun die Verwesung ...«

Ihr schwindelte – sie sank nieder ins Moos.

Als sie sich wieder aufrichtete, war es Nacht.

Sie erhob sich und schritt mit hoch aufgeschürztem Gewand hinab in den nächtigen Waldesgrund.


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