Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Dritter Band
Berthold Auerbach

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Elftes Kapitel.

Am Morgen wäre Bruno gern umgekehrt. Was sollte das? Das Märchen vom Brüderlein und Schwesterlein spielen, wie das Brüderlein das verlorne Schwesterlein suchen will? Was wird das Ergebnis sein? Ein erschütternder Anblick, den man nicht mehr vergessen kann, der in die Träume hineintanzt, eine schauderhaft verschwommene Leiche mit offenem Munde ...

Bruno sah verdrossen zu dem Freund auf, der ihm Glück wünschte, daß er so gut geschlafen und frische Kraft gesammelt habe, um alle Erschütterungen, die der Tag bringen könne, mit Festigkeit zu ertragen. Bruno sah den Intendanten bitter, ja eigentlich mißtrauisch an; es schien ihm, ja es war fast gewiß, dieser Mann betrachtet den ganzen Vorfall als eine tragische Theatergeschichte, die gehörig in Scene gesetzt werden muß; er wird alles als Studie benützen für eine ähnliche Darstellung auf der Bühne; er wird dich in deinen Mienen und Gebärden beobachten und dann dem Schauspieler sagen: so wirft man sich, so stellt man sich, so stöhnt man beim Auffinden der toten Schwester! – Bin ich die Puppe dieser Puppe? Ich will nicht!

Bruno wäre am liebsten gleich zurück und zu seiner Schwiegermutter gereist. Wenn er dort sich auch beugen mußte – er konnte ja die Demut in Galanterie verwandeln und hatte nicht nötig, sich solchen Schauerscenen auszusetzen. Da war aber der Freund und sprach ihm Mut zu, daß er nichts unterlasse, was die Pflicht des Bruders fordert. O, die Gemütlichen! Das ist doch die entsetzlichste Menschenrasse, sie nehmen alles so ernst. Ist es ihnen wirklich ernst? Wer weiß! Jeder in der Welt spielt doch nur seine Rolle ...

Er mußte fort und sah es vor sich: dieser entsetzliche pflichtmäßige Freund – und er ist doch sein Freund nicht – dieser Mensch, den er sich aufgehalst, wird ihn zwingen, tagelang das Schauerliche zu suchen, das er nicht finden will.

Mißmutig fuhr man weiter. Der Intendant erklärte Bruno, der ihm beharrlich für jede Handreichung formell dankte:

»Ich bitte, danken Sie mir nicht. Ich thue nur meine Pflicht, für Sie als Freund und auch für mich selbst. Ich habe, Sie wissen es, Ihre Schwester einst geliebt, sie hat mich verschmäht.«

Er war diskret genug, nicht hinzuzusetzen, daß er dann ihr Anerbieten abgelehnt; Bruno knirschte innerlich über diese schonungslose Diskretion.

Der Intendant fand Bruno sehr still und verschlossen. Das ist der natürliche Umschlag gegen die gestrige Raserei, dachte er, und hielt sich ebenfalls still. Bruno schaute den Intendanten oft an, als wäre er sein Gefangenwärter, der ihn zur Strafvollstreckung über Land führt.

Die Fahrt ging rasch; auf den Stationen, wo Pferde gewechselt wurden, sprach der Intendant viel und sehr geläufig in der hieländischen Mundart mit Postillonen und Wirten; manche kannten ihn auch.

Zu seinem Schrecken erinnerte sich Bruno, daß er ja den Salontiroler bei sich habe; der kommt jetzt in seine Sprachgarderobe, hier ist er daheim, da wird er Studien machen und sich in dem Wohlbehagen wälzen, mit den Leuten in ihrem albernen Deutsch zu reden.

In der That konnte der Freund, denn so mußte er doch heißen, nur schwer einen gewissen Ausdruck des Behagens zurückhalten, daß er hier in seinem Elemente sei.

Endlich sah man vom letzten Berge die weite sonnenbeschienene Spiegelfläche des Sees, umstanden von den riesigen Bergen.

»Sehen Sie,« konnte sich der Freund nicht enthalten zu bemerken, »sehen Sie dort den Ahorn? Da links bei dem kleinen Felsen – das ist der Standpunkt des Bildes, das ich gemalt, und das im Musiksaal Ihrer Majestät der Königin hängt.«

Der Freund glaubte mit dieser Bemerkung auch den schweren Sinn Brunos in eine ruhige Betrachtung zu lenken, damit nicht gleich das Schauerliche sich aufdränge, wie dort unten seine Schwester den Tod gesucht.

Bruno sah ihn unwillig an. Ein jeder denkt doch nur an sich – sprach es in ihm – dieser Geck denkt jetzt an seine Pfuscherei! Er schwieg indes; sein Schweigen spricht mehr Trauer aus, als alle Worte. Er rieb sich die Augen, denn das blitzende Rückstrahlen der Sonne von dem weiten See stach ihm in die Augen. Der Freund faßte seine Hand und drückte sie still – er versteht dieses Bruderherz und sein Blick sagt: Da glauben die Menschen, du seiest eine oberflächliche frivole Natur; ich kenne dich jetzt besser.

Die Pferde Brunos, die an der Anlände beim See standen, wieherten den Ankommenden entgegen, und die Diener warteten hier. Jetzt zum erstenmal schämte sich Bruno vor den Bedienten: sie wissen alles, was werden sie geplaudert haben in der Trinkstube? Er war tief zornig auf seine Schwester, die ihm alles das gethan.

Sogleich im Wirtshaus erfuhr man, daß die alte Zenza dagewesen sei; sie hatte einen Ring verkaufen oder verpfänden wollen, den ihr das Hoffräulein, das sich ertränkt hatte, in der Nacht vorher, als sie sich zu ihrer Hütte verirrt, geschenkt habe. Man hatte ihr natürlich, da man den Ring für gestohlen hielt, nichts darauf gegeben. Nun hieß es: die Zenza muß näheres wissen. Man nahm einen Führer und wanderte nach ihrer Hütte den Berg hinan.

Bruno war sonst als Jäger ein guter Bergsteiger, heute aber glaubte er bei jedem Schritt zusammenzubrechen; er mußte oft ausruhen.

Der Freund sprach ihm Mut zu, und man wanderte durch den sonnigen Wald, wo das Licht hell auf dem weichen Moose spielte und darüber hin nur manchmal ein Habicht sein grausam fröhliches Jauchzen ausstieß.

An einem Kreuzweg trafen sie auf eine Gruppe städtisch gekleideter Männer und Frauen, deren Hüte mit grünen Zweigen und Kränzen geschmückt waren. Bruno flüchtete schnell, ehe die fröhlichen Wanderer nahe kamen, vom Wege ab in den Wald; der Intendant ward von einem ehemaligen Berufsgenossen erkannt, und Bruno hörte, wie berichtet wurde, daß die Gäste von einem kleinen Badeaufenthalt in der Nähe einen Ausflug machten, um Ort und Stelle zu sehen, wo sich die Gräfin Wildenort ertränkt.

Die Gruppe zog vorüber und man hörte noch tief aus dem Wald lautes und heiteres Gespräch.

Endlich war man oben an der Wurzhütte. Sie war verschlossen. Man klopfte, ein Brummen antwortete, der Riegel wurde innen zurückgeschoben.

Eine verwahrloste, mächtige Gestalt, wild anzuschauen, stand vor den beiden.

Thomas erkannte sofort Bruno und rief:

»Ah, Wildenort? Das ist recht, daß du kommst. Ich zieh' den Hut ab vor dir, du bist ein ganzer Kerl! Was da, Vater! Wenn er stirbt, reitet man davon; man kann ihm doch nicht helfen sterben. Hoho! Ein ganzer Kerl bist du! Nach dem alten Zeug fragt man alles nichts mehr.«

»Was willst du?« fragte Bruno mit zitternder Stimme.

»Ich thu' dir nichts, da hast du meine Hand darauf, ich thu' dir nichts – du thust dem König nichts wegen so einer Sach', und ich thu' dir auch nichts wegen so einer Sach'. Du bist mein König. Noch in der letzten Stunde hab' ich's herausgebracht, daß du es gewesen bist, und weil du's gewesen bist, hat sie deiner Schwester durchgeholfen. Verstehst mich schon. Ich schweige. Die dumme Welt braucht nicht zu wissen, was wir miteinander haben. Schwester, König, Wilderer, Graf – es ist alles in Ordnung.«

»Der Mensch scheint mir verrückt!« sagte der Intendant zum Führer. »Was willst du? Laß den Herrn los!« rief er zu Thomas.

»Ist das dein Lakai? Wo ist denn der mit den pechschwarzen Haaren? – Laß du uns gehen!« wendete sich Thomas dem Intendanten zu. »Wir zwei verstehen einander ganz gut. Gelt, Bruder? Du bist ein Bruder und ich bin auch ein Bruder. Ha, gescheit ist die Welt eingerichtet! Mußt nicht glauben, daß ich getrunken habe. Ich hab' freilich getrunken, aber das thut nichts – ich bin katzennüchtern. Jetzt hör meinen Plan. Alles was recht und billig ist. Ich laß mit mir reden. Ich seh' schon, du bist ein ordentlicher Mensch, du kommst zu mir –«

»Wir wollen dich fragen, ob du etwas weißt von der Dame im blauen Reitkleid, die hier war,« sagte der Intendant in regelrechtem Dialekt.

»Hui!« rief Thomas, »der kann schön reden! Ich versteh' aber auch Pfarrerdeutsch und Gerichtsdeutsch, ich hab' mit den Leuten mein Teil zu thun gehabt. Red du aber nicht mehr drein,« und zu Bruno gewendet, fuhr er fort: »Wir zwei reden jetzt allein miteinander. Jetzt horch, Bruder. So halten wir's. Du brauchst mich nicht zum Grafen machen, du gibst mir nur auch Knechte und Pferde, und Geld genug, und Gemsen im Walde und Hirsche; wirst sehen, ich bin gescheit, und gesund und stark bin ich auch; willst einmal mit mir raufen! Komm hinaus, wirst sehen, ich schieße besser als du! Jetzt gibst du mir das Erbteil deiner Schwester oder meiner Schwester, es ist eins – wirst sehen, wir sind ein paar lustige Brüder.«

Bruno stand und wußte nicht, träumte oder wachte er: einzelnes aus den Worten des verwegenen Gesellen war ihm klar, andres nicht. Er winkte dem Intendanten, ihn zu lassen, und sagte in mildem Tone:

»Thomas, ich kenne dich jetzt. Setz dich!«

Thomas setzte sich auf die Bank, hob den Branntweinkrug auf, den er sich aus dem Geld für den Hut erkauft hatte, und sagte: »Willst einmal trinken?«

Da Bruno ablehnte, trank er selbst in gierigen Zügen.

Der Intendant sagte in französischer Sprache zu Bruno, daß hier nichts zu erforschen sei; er habe dem Führer heimlich den Auftrag gegeben, sobald sie sich umwendeten, den wilden Gesellen festzuhalten, damit sie unbehindert nach dem Thal zurückkehren könnten.

»Was wälscht da der Starmatz?« rief Thomas und wollte auf den Intendanten los. Im selben Augenblick warf sich der Führer auf Thomas und hielt ihn fest; die beiden verließen die Hütte und rannten eilig den Berg hinab.

Erst als der Führer kam, hielten sie still und Bruno wagte aufzuatmen. Der Führer erzählte, daß Thomas gerast habe, er habe immer nach seiner Flinte geschrieen, die er im Walde vergraben habe, er müsse seinen Schwager erschießen.

»Am besten ist's,« schloß der Führer, »der Bursch sauft sich den Hals ab, sonst muß man ihm doch noch den Hals abschneiden.«

Bruno wagte nach geraumer Weile dem Intendanten in halb fragendem Ton zuzuflüstern, ob es nun nicht genug der Nachforschung, und Umkehr das angemessenste sei.

Der Intendant schwieg. Bruno sah ihn wieder mit jener bitteren Miene an, die auch für Trauer gelten konnte.

Der Intendant sah das fast zerbrochene Wesen Brunos und willigte in die Umkehr.


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