Berthold Auerbach
Auf der Höhe. Dritter Band
Berthold Auerbach

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Drittes Kapitel.

In der Residenz waren alle Schulen, Kanzleien und Werkstätten geschlossen, auf den Straßen sah man fast nur Frauen und Kinder, dazwischen manchmal eine laute Gruppe von Männern, die bald in einem großen Gebäude verschwand. Es war der Wahltag. Das ganze Leben der Stadt mit den tausenden von vereinzelten Thätigkeiten und Sinnesweisen hatte sich ins Innerste, in einen Punkt zusammengezogen; es war, wie wenn eine große Seele mit sich selbst verkehre. Eine märchenhafte Stille lag am hellen Tage auf den öden Straßen. Der Wagen des Leibarztes kam vom Hause Brunos und hielt beim Rathaus an, Gunther stieg aus, ging hinauf und gab seine Stimme ab. Als vielbeschäftigter Arzt durfte er außer der Reihe wählen. Er kehrte zum Wagen zurück und fuhr nach Hause. Als er in die Wohnstube trat, überreichte ihm seine Frau ein soeben angekommenes Telegramm. Gunther öffnete es.

»Was ist dir?« rief Frau Gunther, noch nie hatte sie das Antlitz ihres Mannes sich so verändern gesehen.

Er reichte ihr das Telegramm und sie las:

»Graf Eberhard Wildenort plötzlich vom Schlage gerührt, der Sprache beraubt. Nachricht Sohn und Tochter mitteilen. Sofort hierherkommen, womöglich auch Sie.

Kreisphysikus Dr. Mann.«

»Du reisest,« sagte Frau Gunther in bewegtem, kaum fragendem Tone. Gunther nickte.

»Ich habe eine Bitte,« fuhr Frau Gunther fort. Gunther winkte nur mit der Hand, auch ihm war es, als sei ihm die Zunge gelähmt.

»Ich möchte mitreisen,« sagte sie.

»Ich verstehe dich nicht.«

»Setz dich,« bat die Frau, und als Gunther saß, legte sie ihre milde Hand auf seine hohe Stirne: sein Antlitz erheiterte sich und sie sagte:

»Wilhelm, ich sehe hier ein entsetzliches Geschick; laß mich teil haben, zu mildern und zu beschwichtigen, was möglich. Ich kann mich in die Seele des verlorenen Kindes versetzen, dem diese Botschaft wird. Wer weiß, ob nicht ihr Thun das verschuldet. – Ich will der Gräfin Irma beistehen, als läge sie elend auf der Straße, obgleich sie im Wagen fährt. Und wenn mich die Arme zurückstoßen will, ich weiche nicht. Ich weiß nicht, was geschehen mag, aber es kann etwas kommen, daß sie ihr von Furien gepeitschtes Haupt an das Herz einer Frau legen möchte. Ich bitte, laß mich mit.«

»Ich habe nichts dagegen; rüste vorläufig alles zur Reise.«

Er fuhr zu Bruno.

»Ihre Partei ist in der Wahlschlacht geschlagen,« rief dieser, als er Gunthers traurige Mienen sah.

»Noch nicht,« entgegnete Gunther, und teilte in mildem Uebergange Bruno die Nachricht mit.

Bruno wendete sich ab, raffte schnell einige Briefe zusammen, die auf dem Tische lagen und verschloß sie im Pult. Er war bald bereit, mit Gunther zu Irma zu gehen. Sie teilten ihr sehr behutsam die Trauerkunde mit.

»Ich wußte es, ich wußte es!« schrie Irma. Man hörte kein Wort weiter von ihr. Sie ging in das Schlafzimmer und stürzte sich auf das Bett; aber sie hatte kaum die Kissen berührt, als sie sich wie zurückgeworfen erhob und auf dem Boden niederkniete und umsank. Bald kam sie wieder in das Empfangszimmer. Ihr Angesicht war starr. Sie gab dem Diener und der Kammerjungfer rasche Anordnungen für die Reise. Der Leibarzt entfernte sich, um Urlaub zu nehmen; er versprach auch für Irma das Nötige zu besorgen.

»Du solltest der Königin noch Lebewohl sagen,« brachte Bruno heraus.

»Nein, nein!« rief Irma heftig. »Ich kann nicht und ich will nicht!«

Es war kein Diener im Vorgemach. Es klopfte an. Irma schrak zusammen. »Kommt der König selbst?«

»Herein!« rief Bruno.

Frau Gunther trat ein.

»Sie hier? Und jetzt?« fragten die Blicke Irmas, sie konnte kein Wort hervorbringen.

Frau Gunther erklärte mit einfachen Worten, wie sie von der Unglücksbotschaft gehört und es sich von Irma als Zeichen der Freundschaft erbitte, sie begleiten zu dürfen.

»Ich danke, ich danke herzlich!« stieß Irma hervor.

»So gewähren Sie meine Bitte?«

»Ich danke. Ich will Ihnen auf den Knieen danken, aber ich bitte, lassen Sie mich jetzt nicht viel reden.«

»Es ist nicht nötig, liebe Gräfin,« begann Frau Gunther, »Sie haben mich scheinbar vernachlässigt oder vergessen, der äußeren Thatsache nach, aber in Ihrer eigentlichen Seele haben Sie mich weder vernachlässigt noch vergessen, und wär's auch, ich war eine Stunde in Ihrem Herzen daheim und Sie in meinem.« Irma wehrte mit beiden Händen von sich, als ob die guten Worte sie wie Pfeile träfen. Frau Gunther fuhr in besänftigendem Tone fort: »Sie thun mir ein Gutes, wenn Sie mir erlauben, Ihnen ein Gutes zu thun. Sie haben keine Mutter, vielleicht auch – bald keinen Vater mehr –«

Irma stöhnte auf und drückte die Hände auf die Augen.

»Liebes Kind,« bat Frau Gunther und legte ihre Hand auf den Arm Irmas. Irma zuckte. – »Liebes Kind, darum sind viele Menschen auf die Erde gesetzt, damit der eine, der mitfühlt und doch nicht selbst betroffen ist, dem andern eine Stütze sei, wenn er brechen, ein Licht, wenn sich ihm alles verdunkeln will. Ich bitte, seien Sie nicht stolz, lassen Sie mich bei Ihnen sein in allem, was die nächsten Tage Ihnen bringen.«

»Stolz? Stolz?« fragte Irma und faßte die Hand der Frau Gunther, ließ sie aber rasch wieder los. »Nein, verehrte, liebe Frau, ich erkenne Ihre herzliche Absicht, ich verstehe ... ich weiß .... alles .... Ich könnte Ihre gute That ruhig annehmen, ich weiß oder glaube, daß ich auch so handeln könnte, wenn ....«

»Das ist der beste und einzige Dank,« fiel Frau Gunther ein, aber Irma wehrte ab und fuhr fort:

»Ich bitte, quälen Sie mich nicht. Ihr Herr Gemahl und mein Bruder begleiten mich. Ich bitte, reden Sie kein Wort mehr, ich danke; ich werde an Sie denken, ich danke.«

Gunther trat wieder ein und Irma sagte:

»Ist alles bereit? Lassen Sie uns keine Minute mehr verlieren.«

Sie verneigte sich gegen Frau Gunther. Sie hätte sie gern umarmt, aber sie konnte nicht.

Frau Gunther, die nie das Schloß betreten hatte, war jetzt gekommen, einer Verlorenen Beistand zu leisten. Noch nie hatte Irma sich so von allen Schauern und Schrecken ergriffen gefühlt, als jetzt, da sich ihr die reine Güte zuwendete und ihr die Hand reichte.

Als wäre sie von Dämonen zerrissen, fühlte sie den Schmerz, daß sie dem Reinen nicht mehr nahe sein dürfe. Sie wollte vor Frau Gunther niedersinken, aber sie stand aufrecht, sah sie starren Auges an und ging an ihr vorüber.

Im Vorzimmer schrie der Papagei und spreizte die Flügel, als wolle er auch mit, und rief sein: »Pfüt di Gott, Irma!«

Wie in eine Wolke gehüllt ging Irma den Korridor entlang. Unter dem Hofthore begegnete ihr der König, der mit Schnabelsdorf aus dem Parke kam, Schnabelsdorf hatte mehrere Depeschen in der Hand; sein Antlitz war heiter, er hatte Siegesnachrichten.

Der König und Schnabelsdorf erschienen Irma wie Nebelgestalten. Sie hatte einen doppelten schwarzen Schleier vor dem Gesicht, sie wollte ihr von Schmerz durchwühltes Antlitz nicht der Neugier des Hofes zur Schau stellen.

Der König kam näher, sie konnte den Schleier nicht zurückschlagen, und der vor ihr Stehende erschien ihr weit, weit weg; sie hörte seine freundlichen und gewiß guten Worte, aber sie wußte nicht, was er sagte.

Der König reichte dem Leibarzt die Hand, er reichte sie auch Bruno und zuletzt auch Irma. Er drückte ihre Hand, sie erwiderte den Druck nicht.

Man stieg ein. Frau Gunther hatte noch ihre Hand auf den Wagenschlag gelegt; Irma beugte sich nieder und küßte sie. Der Wagen fuhr davon.

Geraume Zeit wurde kein Wort gesprochen. Jenseits des ersten Dorfes nahm Bruno eine Cigarre heraus, indem er zu seiner Schwester ihm gegenüber sagte: »Ich bin ein Mann, ein Mann muß das Unvermeidliche mit Ruhe und Besonnenheit aufnehmen. Zeige auch du jetzt, daß du die starke Seele bist.«

Irma antwortete nicht. Sie schlug den Schleier zurück und schaute zum Wagenfenster hinaus. Die Abreise war so rasch vor sich gegangen, jetzt erst kam sie zu sich und atmete frei auf.

»Du hättest der Königin doch noch persönlich lebewohl sagen sollen,« nahm Bruno in gefaßtem Tone wieder auf. Dieses lange Stillsein war ihm peinlich; man muß sich die bösen Stunden möglichst gut vertreiben. Als Irma noch immer schwieg, setzte er hinzu: »Du weißt ja, das zarte Wesen der Königin ist so leicht verletzt und beleidigt.«

Irma gab noch immer keine Antwort. Gunther aber sagte:

»Ja, die Königin beleidigen, wäre Tempelschändung. Ihren Glauben an die Güte und Wahrhaftigkeit der Menschen schwankend machen, vermöchte nur eine barbarische Seele.«

Gunther sprach das mit einer Energie und Hast, die man sonst nicht an ihm gewohnt war. Irma fühlte sich ins Herz getroffen. Ist sie die Tempelschänderin. Ganz leise stieg der Gedanke in ihrer Seele auf: die Königin ist sein Ideal und das meine der König. Wer weiß, ob sie nicht unter der Maske der Geistesverwandtschaft ... Irma ließ schnell den Schleier wieder über das Gesicht fallen; ihr Atem ging hastig, ihre Wangen glühten. Wer selber weiß, daß er .... muß auch andre .... nichts ist ganz .... niemand .... Sie hatte das Gefühl, daß sie etwas sagen müsse und brachte endlich die Worte hervor:

»Die Königin verdient es, einen Freund wie Sie zu haben.«

»Ich stelle mich zu Ihnen,« erwiderte Gunther ruhig; »ich glaube, wir sind beide der Freundschaft dieser echten Seele würdig.«

»Sie glauben also an Freundschaft unter verheirateten Personen verschiedenen Geschlechts?« fragte Bruno.

»Ich kenne sie,« erwiderte Gunther.

»Sie klein oder groß geschrieben?« fragte Bruno und lachte; schnell aber sich der traurigen Veranlassung zur Reise erinnernd, wurde sein Gesicht wieder ernst.

Der Arzt erwiderte nichts.

An der ersten Poststation traf man lärmende Gruppen. Der Postmeister berichtete den Reisenden, daß eben der Wahlkampf vor sich gehe, er sei heiß, aber die Schwarzen würden hier unterliegen.

Bruno war ausgestiegen und sagte zum Postillon:

»Edler Mitbürger, hast du auch schon dein souveränes Wahlrecht heute geübt?«

»Ja wohl, und gegen die Schwarzen.«

Man fuhr weiter.

An den folgenden Stationen stieg Bruno nicht wieder aus. Man näherte sich dem Bezirke Eberhards. Als in der Gerichtsstadt die Pferde gewechselt wurden, hörte man laut rufen: »Graf Wildenort lebe hoch! Triumph!«

»Was ist das?« fragte Günther zum Wagenschlag hinaus.

Es wurde ihm erklärt, daß trotz aller Mühen der Schwarzen doch Graf Eberhard den Sieg erringen werde, die Gegner hätten ein niederträchtiges Gerücht ausgesprengt, das den alten Grafen verunehren sollte, aber was sie als Hindernis hingeworfen hätten, darüber seien sie selbst gestolpert; allgemein habe es geheißen: ein Vater kann nichts für ein Kind, ja um so eher muß man ihm jetzt die höchste Ehre zuwenden. Irma drückte sich zurück in die dunkle Wagenecke, sie hielt den Atem an. Man fuhr davon, lautlos.

Bruno sagte, daß es ihm zu heiß sei im Wagen und auch, daß ei es nicht wohl ertrage, rücklings zu fahren; er wollte aber durchaus nicht dulden, daß der Leibarzt den Platz mit ihm wechsle; er ließ anhalten und setzte sich auf den Hintersitz zur Kammerjungfer, der Lakai mußte sich auf den Bock zum Kutscher setzen. Irma that den Hut ab und legte den Kopf zurück; der Kopf war ihr so schwer. Mehrmals, als man einen steilen Weg hinanfuhr und drunten der Abgrund sich zeigte, richtete sie sich rasch auf; sie wollte sich aus dem Wagen in die Tiefe hinabstürzen, aber immer wieder legte sie sich matt zurück. Auch Gunther blieb stille, und so fuhr man lautlos durch die Nacht dahin.

Die Kammerjungfer wollte einmal laut lachen, aber Bruno hielt ihr den Mund zu.


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