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Jahrgang 1848.

Der Gevattersmann

stellt sich wiederum auf den Posten und wünscht ein glückselig Neujahr!

Wenn man nur etwas mehr thun könnte!

Der Gevattersmann möchte gern in diese Blätter nicht nur Wünsche, Hoffnungen und Ermahnungen einwickeln, sondern, wenn's möglich wäre, auch etwas Stärkendes und Labendes. Wächst Nahrung aus den geraden Furchen der gedruckten Zeilen? Was sind Worte, die man in die Hütten und Herzen schickt! Die Sklaverei will darob nicht schwinden, und die blasse Noth sich dadurch nicht verscheuchen lassen.

Und doch ist das Wort das Erlösende und das Lebenschaffende, es erhebt den Menschen aus seiner Verdumpfung und eint ihn mit seinen Brüdern.

Das Wort ist das heilige Gefäß, daraus der Menschengeist Labung trinkt, Einer reicht's dem Andern, nie wird es leer, und der Gedanke wandelt sich in der empfangenden Seele zu frischem Willen und hülfreicher That. Wohl zittert die Hand, die nur Worte hinschreiben soll, da du mit aller Kraft helfen möchtest. Gelingt es aber die rechten Gedanken in die Herzen der Menschen zu flößen, so ist die rechte That da.

Eine Dämmerungsstunde.

Die meisten Menschen, denen es vergönnt ist in trauter Häuslichkeit bei den Ihrigen zu verweilen, lieben es, die Abenddämmerung im Stillen zu verbringen. Die Kinder werden unruhig und erregt um diese Zeit, die Erwachsenen aber rücken gern still zusammen; man spricht ein inniges Wort, oder Jedes kehrt still bei sich ein, und da drin wird der beste Labetrunk aus hellen Krystallen geschenkt. – Man zögert, das einbrechende Dunkel alsbald durch Lichtanzünden zu verscheuchen, denn unbewußt überkommt einen Jeden etwas von dem Gedanken der heiligen Naturmacht, die, oft kaum beachtet, das größte Wunder des Lichtes und der Finsterniß vor uns ausbreitet; man wagt es nicht, so rasch mit dem menschlichen Willen drein zu fahren und das künstliche Licht zu verbreiten. Und wie wohlig spricht sich's so in der Dämmerung! Man erschaut einander noch in halb verhüllten Umrissen, und das Wort, das laut wird, erhält doppelte Aufmerksamkeit; das Auge ist gleichsam beruhigt, denn der Geist wird nicht abgezogen von dem, was sich dem Blick darbietet. Da klingt ein Wort oft wie hehre Musik, die man mit geschlossenen Augen vernimmt und die noch lange in der Seele nachtönt.

So saß der Hagenmaier Abends mit seiner Frau, dem Sohne und dessen junger Gattin in der Stube. Erst gestern war die Hochzeit des jungen Ehepaares gewesen, und die Freudentöne hallten noch in allen Gemüthern nach. Niemand redete ein Wort, und doch waren sie Alle innerlichst beisammen. Der junge Hagenmaier hielt die Hand seiner Frau, die neben ihm saß. Vielleicht mochte der Alte ahnen, welche Seligkeit jetzt in dem Herzen seines Kindes lebte, denn als er jetzt sprach, da war's als ob ein Geist spräche; er saß in der Ecke in Dunkel gehüllt, man sah Niemand und hörte doch die Worte: »Ja, Kinder! Es ist rasch gesagt: ich liebe dich von ganzem Herzen und will dir mein ganzes Leben weihen; aber wenn's drauf und dran kommt, wo man einander nachgeben, sich und das Andere bessern und veredeln soll, da hält's oft schwer, und da reichen Worte nicht aus. Es gibt Stunden, wo man, um dem Andern seine Liebe an den Tag zu legen, so zu sagen Bäume ausreißen könnte; aber ohne Murren und Vorhalten eine Tasse Kaffee zu trinken, die durch die Schuld des Andern kalt geworden, das will sich nicht thun lassen. Tief bedeutsam heißt es in der Schrift: »denn wie viele auch den Bräutigam erwarten, die meisten Lampen sind verlöscht, wenn er endlich kommt.« Denn Vielen hat sich das Herz verhärtet im Eigenwillen, und jeder Mensch sollte sich immer bereit halten, das höchste Glück zu genießen. Ihr seht wie innig wir zusammen leben; glaubt aber nicht, daß es ohne Kampf abging; besonders Ich war etwas starr, da ich schon früh ein unabhängiges selbständiges Leben führte. Ich will euch zwei Geschichten aus der Zeit unsrer jungen Ehe erzählen, und ihr könnt daraus lernen und sollt es. –

»Wie freute ich mich auf den ersten Sonntag, da ich mit meiner Frau zur Kirche gehen sollte. Wir verplauderten uns am Morgen etwas zu lange, und nun hieß es: rasch gemacht, damit man zur Zeit kommt. Meine Frau verschloß sich in der Kammer, um sich anzukleiden, und ich war längst fertig und harrte ihrer; sie hatte aber noch immer etwas zu bosseln. Zuerst mit freundlichen Worten und mit Scherz bat ich sie, sich zu sputen, dann kam immer heftigeres Bitten und Betteln, Ermahnen und Drängen. Ich schlug mir gewiß noch dreimal Feuer und zündete meine Pfeife an, ließ sie aber im Aufhorchen immer wieder ausgehen und hielt eine Vorpredigt vor der verschlossenen Kammerthür. In solchen Minuten des Wartens steht man wie auf Kohlen, man verscheucht einander und bringt sich in Unruhe, so daß nichts aus der Hand geht. Mir war schon das Blut zu Kopf gestiegen als meine Frau endlich und endlich kam. Ich konnte schon kein gutes Wort mehr reden und stumm verließen wir das Haus. Kaum waren wir aber einige Schritte gegangen, als ihr einfiel, daß sie noch etwas vergessen hatte. Nun mußten wieder alle Schlüssel hervorgesucht und alle Schränke aufgeschlossen werden; ich blieb draußen, und es dauerte mir eine Ewigkeit bis sie wiederkam. Ich wollte schon allein zur Kirche gehen, aber ich schämte mich; und als sie nun wieder erschien mit heiter lächelndem Antlitz, und mir den Hemdkragen noch zurechtzupfen wollte, da wendete ich mich voll Zorn und Unmuth ab und sagte: »Putz du dich nur selber sieben Stunden lang.« Und so gingen wir miteinander zur Kirche und redeten ein Wort. – Mit zornglühenden Wangen und doch wieder voll Aerger über mich selbst trat ich in die Kirche. Meine Frau ging nach ihrem Stuhl, ich wußte nicht, hatte sie noch einmal nach mir umgesehen oder nicht; ich lehnte mich an eine Säule und war so starr wie der Stein neben mir. Ich hörte manchmal dem Pfarrer zu, dann vergaß ich ihn wieder und betrachtete mir die Bauart der Kirche und was das für ein hohes kühles Haus sei. Daran hatte ich noch nie gedacht, und ich ärgerte mich, daß ich so zerstreut war und der Predigt keine Aufmerksamkeit widmete. Jetzt fiel mir ein, daß das von dem Zank mit meiner Frau herkäme; wie konnte ich da die gehörten Worte in mich aufnehmen? Ich hätte mich gern mit meiner Frau versöhnt und blickte nach ihr um, sie aber schaute nicht auf, und das ärgerte mich wieder. Hatte sie denn nicht Unrecht? mußte sie mich denn nicht um Verzeihung bitten? war das nicht ein Zögern und Zaudern zum Verzweifeln gewesen? Seht, ihr Kinder, so wird man, wenn man im Zorn steckt und sich über die eigene Hartherzigkeit was vorlügen will. Ich zürnte ihr, daß sie so ruhig beten könne, da sie mich doch beleidigt hatte, und so war ich ein Nichtsnutz vor und in der Kirche und vergällte mir die Stunde meines Lebens, die mir eine der schönsten hätte werden können. Vielleicht wäre das Mißverständniß bald gelöst gewesen, wenn ich meine Frau hätte bei der Hand fassen und ein liebreiches Wort mit ihr sprechen können, aber wir waren in der Kirche getrennt, und mir war's als ob wir einen Streit gehabt, der unsere Herzen auf ewig scheidet.«

Die Frau wollte hier ihren Mann unterbrechen, er aber sagte: »Laß mich nur ausreden, ich habe nachher noch eine Geschichte zu erzählen, dann kannst du das Nachspiel halten. Also, ihr könnt Euch denken, Kinder, daß wir uns bald wieder versöhnten; denn die Mutter war in ihren jungen Tagen ein lustiger Bursch, und wenn ich griesgrämlich sein wollte, da lachte sie mich aus, und ich mußte auch lachen. Da konnte ich nun nicht mehr begreifen, wie ich so zornig gewesen war. Es kam mir jetzt wie eine Kleinigkeit vor, kaum der Rede werth; aber wenn das Blut in den Adern siedet, dann versteht man das nicht.

Nun noch die andere Geschichte: sie handelt von einer ähnlichen Viertelstunde der Versuchung. Es war die Hochzeit unserer Base zu Lichtenau; wir waren dazu geladen und wollten zur bestimmten Stunde dort sein. Es war die höchste Zeit, daß man sich auf den Weg machte, keine Minute mehr zu verlieren. Ich hatte den Apfelschimmel, den ich noch vom Vater bekommen, eingespannt und knallte und knallte vor der Thür, aber die Mutter wollte noch immer nicht kommen. Ich schickte ihr alle vorübergehenden Weiber ins Haus, um ihr zu helfen; ich wußte, daß ihr das unlieb war, und that es eben deßwegen: warum ließ sie mich warten! Und als sie endlich kam, da begann ich zu fluchen, daß es, wie man sagt, ein Loch in den Himmel giebt. Mit zusammengepreßten Lippen stieg die Mutter auf und hielt sich durch das ganze Dorf das Tuch vor die Augen, und ich peitschte den Apfelschimmel, daß er hinten und vorn ausschlug. Draußen vor dem Dorf aber begann die Mutter laut zu weinen und sagte: »Um Gotteswillen, wie kannst du nur so sein, und dich und mich vor dir selbst und vor der Welt zu Schanden machen und verderben?« Das schnitt mir wie ein Messer durch die Seele, ich dachte an den Kirchgang: jetzt hatte ich mein Weib neben mir. Ich ließ dem Apfelschimmel die Zügel nach und steckte die Peitsche neben mir in Ruhe, ich mußte mich selber in Zügel nehmen. Ich darf sagen, ich hab' meinen Jähzorn ehrlich bereut. Ihr könnt aber erkennen, wie man aus solchen Kleinigkeiten ersieht, ob das wahre Licht im Herzen noch brennt. Diese Wartezeiten waren mir Stunden der Versuchung gewesen, und ich darf sagen, ich habe von da an gelernt, mich gefüge in das Wesen eines Andern zu finden. Denkt daran, wenn die Versuchung einmal über Euch kommt. – »Jetzt kommt das Nachspiel,« sagte die Mutter. »Du hast vergessen zu sagen, daß ich von da an dich nie mehr warten ließ und immer vor dir fix und fertig war. Nun aber wollen wir Licht anzünden; es ist genug gedämmert.

Und so geschah es; heitere Gesichter, von den besten Vorsätzen verklärt, schauten einander an.

Die Schloßuhr zu Kleinresidenzlingen.

Von einem wilden Mohrenvolke wird berichtet, daß der Häuptling jeden Morgen, noch bevor es tagt, seine Lanze ergreift und der Sonne die Bahn vorzeichnet, die sie durchlaufen solle; er wendet sich nach dem Aufgang und sagt: Sonne, dort steigst du herauf – und dann nach dem Untergang und sagt: Sonne, dort steigst du hinab.

Das ist sehr klug von dem Häuptling der Wilden, denn er hat seinen Untergebenen eingeredet, daß er, als Gottes Stellvertreter auf Erden von ihm eingesetzt, ein höheres Wesen sei, und die ganze Welt regiere. Darum giebt er sich das Ansehen, als ob die Sonne auf seinen Befehl warte, um ihren Lauf zu durchmessen.

Das ist nun so ein Stückchen von der geheimen Staatskunst, oder wie man's nennt von der Diplomatie der Wilden.

In gebildeten Ländern, wo man goldgestickte Kragen und weiße Handschuhe hat, da geht Alles viel feiner her.

In Kleinresidenzlingen ist wie natürlich auch eine fürstliche Familie, man nennt sie hier nur die »Herrschaften.« Die Herrschaften speisen Jahr aus Jahr ein um drei Uhr zu Mittag. In alten Zeiten hielten die Fürsten öffentliche Tafel, d. h. es konnten die Unterthanen dazu kommen, nicht um mit zu essen, sondern nur um mit eigenen Augen zu sehen, daß die Fürsten gerade so essen wie andere Menschen auch, und daß sie überhaupt sind, wie andere Menschen. Das ist aber längst bekannt, darum weiß man nichts mehr von öffentlicher Tafel. Nun ist aber zwischen Michaeli und Lichtmeß drei Uhr eine späte Mittagszeit, und die Herrschaften wollen doch bei Tag zu Mittag speisen. Darob hält nun das Hofgesinde großen Rath. Ein junges Blut, das noch nicht in die Hofkünste eingeweiht war, macht den Vorschlag: man solle den »Herrschaften« sagen, sie möchten um zwei oder halb drei Uhr zu Mittag speisen; der junge Fürst, dessen Spielkamerad er gewesen sei, werde gewiß das Rechte thun, wenn man ihm das Rechte berichte. Dagegen erhebt sich aber großes Zetergeschrei, Alles ruft durcheinander: wohin das führen solle, wenn man die alte Ordnung der Dinge aufhebe? Das sei eine staatsgefährliche, aufrührerische Zumuthung.

Ein alter Oberhof- oder wie sein Titel ist, der jedesmal eine Prise nahm, wenn er etwas Gescheidtes sagte – und das that er Beides mindestens alle fünf Minuten – nahm jetzt eine doppelte Prise, schwenkte sein seidenes Sacktuch wie eine Fahne und sprach: »Es ist mir schon längst als eine Anmaßung der Gelehrten aufgefallen, daß sie nach dem Lauf der Sonne die Zeit bestimmen. Wer regiert denn die Zeit? Sind es die Gelehrten, ist es die Sonne, oder sind es wir? Fassen wir darum wieder die Zügel – er faßte dabei sein Sacktuch an zwei Enden – beherrschen wir die Zeit, meine Herren! Nehmen wir unsere nie verjährten Rechte in Anspruch, Wir, wir allein haben zu bestimmen, was es an der Zeit ist.«

Nach dieser Rede ließ er seine Zuhörer nach der Reihe Jeden eine Prise nehmen; sie schnupften und nickten.

Nun wurden die Thurmwächter herbeschieden und erhielten den Befehl, in stiller Nacht – um kein Aufsehen zu erregen, weil man das in gebildeten Ländern nicht liebt – wenn Alles schliefe, sämmtliche Uhren der Stadt um eine Stunde vorzurücken.

Niemand merkte etwas von dem großen Fortschritte, den man über Nacht und im Schlafe gemacht hatte; nur die Wachtposten konnten sich's nicht erklären, daß sie so schnell abgelöst wurden, sie ließen sich's aber gern gefallen.

Am andern Morgen war große Verwirrung in Kleinresidenzlingen. Die Dienstleute waren zu spät aufgestanden, die Kinder kamen zur Unzeit in die Schule, die Kanzleien waren noch nicht geheizt als Der und Jener ankam u. s. w. u. s. w.

In allen Häusern mußten nun die Wand-, Stand- und Taschenuhren anders gestellt werden. –

Das ist aber schon lange her, und man hat es in Kleinresidenzlingen fast vergessen.

Der Oberhof- oder wie sein Titel ist, hat es in den kommenden Wintern viel gescheidter veranstaltet. Es wird nicht mehr plötzlich eine Stunde übersprungen; die Thürmer haben Befehl, sobald der Winter eintritt, allmählich die Zeiger an der Uhr vorzurücken, so daß man die Stunde gewinnt und es kaum merkt. Kommt nun ein Fremder nach Kleinresidenzlingen und hat eine pünktliche Uhr in der Tasche, wird er von den Kleinresidenzlingern ausgelacht, weil er noch so sehr in der Zeit zurück sey; ist er ein nachgiebiger Mensch, so stellt er wohl seine Taschenuhr nach der Schloßuhr, vielleicht ändert er auch sein richtig gehendes Gewissen nach der allgemeinen Ansicht und läßt, wie man sagt: um elf Uhr Mittag sein. Es kann's aber nicht Jeder.

Nun aber ist die größte Noth in Kleinresidenzlingen. Binnen Kurzem wird die Eisenbahn eröffnet, die auch dort vorbeiführt: da wird's offenbar werden, wie man seit vielen Jahren die Uhren falsch gestellt hat. Der Oberhof- oder wie sein Titel ist, hat Unterhandlungen mit allen Städten angeknüpft, daß sie auch ihre Uhren ändern, findet aber keinen Anklang; er hat eine Verschwörung unter allen Thürmern anzetteln wollen, drang aber auch da nicht durch; denn viele wollen eben nicht davon abgehen, die Uhr schlagen zu lassen, wie es Gesetz ist.

Nun ist der Oberhof- oder wie sein Titel ist, ein Betbruder geworden, und sein Kammerdiener muß alle Tage mit ihm zur Sonne beten, daß sie doch ein Einsehen haben und zwischen Michaeli und Lichtmeß eine Stunde überspringen möge. Findet er kein Gehör, will er seinen Abschied nehmen; denn was soll daraus werden, wenn die »gnädigen Herrschaften« erfahren, wie viel es an der Zeit ist, und daß sie bis jetzt betrogen wurden?

Aus dem Kindergarten.

Zerstören

ist oft die liebste Thätigkeit eines Kindes. Du kommst vom Markt nach Haus, hast gut verkauft oder auch nichts gelöst; du willst doch daheim eine Freude bereiten und bringst deinem Kind ein buntes Spielzeug mit. Kaum aber ist die erste Freude der Ueberraschung und des Staunens vorüber, so beginnt das Kind an dem Mitgebrachten und Geschenkten zu ändern, zu bosseln, und wenn's hoch kommt, nach wenigen Tagen ist das Spielzeug in Stücken und zerstört. Du bist Sommers auf einem Spaziergange mit deinem Knaben und brichst ihm auf sein Bitten und Verlangen eine schlanke Gerte ab; gieb Acht, er duldet kein Blatt daran, sondern streift eines nach dem andern herunter, bis er nach Wohlgefallen mit der biegsamen Staude hanthieren kann; über eine Weile hat er begonnen die Rinde zu lösen und schält sie nach und nach ganz los; vom heftigen Fuchteln bricht bald oben bald unten ein Stück ab, ein anderes wird geflissentlich abgebrochen, und von der schönen Gerte kommt selten etwas nach Haus, um im vergessenen Winkel zu dorren.

Leicht möglich, daß dieser Zerstörungstrieb des Kindes dich ärgerlich macht und du willst ihm nichts mehr schenken, oder nimmst ihm das Gegebene wieder weg und schließest es in den Schrank. Besprichst du dich mit einem Schriftgelehrten über dieses Verhältniß, so giebt es viele unter ihnen, die dir sagen werden: »Da haben wir's: des Menschen Seele ist von Geburt an des Teufels, das zeigt sich schon in dieser Zerstörungslust des Kindes.« – So sprechen gar viele von denjenigen, die Jahr aus Jahr ein von Liebe predigen und die Allweisheit Gottes in den Einrichtungen seiner Schöpfung stets in hohen Worten preisen; kommt ihnen aber etwas in die Quere, so bitten sie alsbald den Teufel zu Gevatter.

Läßt sich aber nicht ein natürlicher und wahrer Grund für das Besprochene auffinden?

Der Grundtrieb eines jeglichen Lebendigen und des Menschen vor Allem ist: etwas zu schaffen, hervor zu bringen, zu gestalten. Wir nehmen die Welt rings umher nicht bloß müßig hin, sondern wollen etwas daraus machen. Dieser Drang beginnt im Kleinen und zeigt sich im Großen, in Ackerbau und in Gewerbe, in der Schöpfung von Kunstwerken und in der Bildung unserer Lebens- und Staatsverhältnisse. Haben wir etwas vollbracht und es steht nun vor uns, was früher nur als Plan und Wille in unserm Kopfe war, so haben wir, oft ohne es zu wissen, das Wohlgefühl, aus den Dingen um uns her etwas gemacht zu haben: in ihnen steckt nun, was wir früher bloß im Sinne hatten, unser eigener vollführter Wille schaut uns daraus an. So geht es, wenn wir aus Brettern einen Stuhl, aus einem Steinblock eine Figur, aus unserm klaren Willen eine Gemeinde- oder Staatseinrichtung geschaffen haben.

Dieser Trieb der Bethätigung, die Lust, seine Kraft wo auszulassen, seinen Willen wo einzuprägen, zeigt sich auch schon mächtig im Kinde. Gieb ihm ein Spielzeug: dein Töchterchen mag sich damit begnügen, die Puppe aus- und anzuziehen, in die Wiege zu legen und zu wiegen – und auch darin schon zeigt sich der Thätigkeitsdrang – dein Knabe wird alsbald die Peitsche anders knüpfen, das eingespannte hölzerne Pferd abzäumen, den Wagen rollen oder gar zerlegen. Schilt ihn nicht, wenn er das Geschenk bald zerstört hat – er wollte es nicht zerstören, sondern nur Neues damit machen; daß das Gegebene dadurch verdorben wird, kommt nur aus der Unerfahrenheit des jugendlichen Sinnes, und war weit entfernt von bösem Willen und Zerstörungssucht.

Das ist es also: nicht angeborene Teufelei waltet im Kinde und macht die zarten Händchen das sorglich Bereitete verderben; es ist der natürliche und gerechte Drang etwas zu thun und zu schaffen.

Betrachte des Kindes Seele stets als ein Heiligthum, und du wirst die arglosen und heiligen Grundtriebe in seinem Thun herausfinden.

Gieb dem Kinde Etwas, woran es auf unschädliche Weise seine Kraft äußern, und woraus es etwas bilden kann, einen Ball, zugeschnittene Bauhölzer u. dergl. und du wirst seine stetige nachhaltige Freude daran erkennen.

Aber auch hier kannst du noch eine Bemerkung machen, die sich als Bösartigkeit und Zerstörungslust ansehen ließe. Setz' dich zu deinem Kind und füge ihm aus den Bauhölzern eine Brücke, einen Thurm u. dgl. zusammen, es wird dir mit angehaltenem Athem zuschauen, sich an der allmählichen Entstehung und am Vollendeten erfreuen; noch höher aber wird seine Lust steigen, wenn du ihm gestattest, durch einen Stoß an den Tisch, oder unmittelbar an das Aufgebaute, es einzustürzen. Wie jubelt es auf bei dem Prasseln und Rasseln der einzelnen Stücke und denkt nicht mehr an die niedergeschmetterte Herrlichkeit. Ist das nun nicht Teufelei und Freude an der Zerstörung? Gewiß nicht: vielmehr ist die Ueberraschung, die Lust, das Vorhandene zu ändern, und der unbewußte Gedanke, mit einem Ruck so viel auf Einmal hervorbringen zu können, die wahre Grundlage der Freude. Böses ist damit nicht gewollt. Denn des Menschen Seele ist von Natur gut und edel, das Schlechte ist eine Verirrung der guten Kräfte, die man, aus Mangel an wahrer Einsicht, den falschen Weg leitet.

Darum wiederhole ich: Betrachte des Kindes Seele stets als ein Heiligthum, und du wirst die arglosen und heiligen Grundtriebe in seinem Thun herausfinden. Leite die Kräfte den rechten Weg, und du erziehst einen guten Menschen.

Allein oder im Verein

mit Anderen ein Kind von früh auf und selbst in seinen Spielen gewöhnen, das ist für Viele eine Frage. Wird nicht durch das stete Zusammenbringen mit Anderen die behagliche Brutwärme des Schlummerlebens, das stille Keimen im Innern gestört? Gewiß! das Beste, was sich im Kind ausbildet, davon werden uns die tiefsten Wurzeln nie offenbar.

Worin besteht aber die große Noth der neuen Welt? Hauptsächlich darin, daß wir zu viel Alleinmenschen sind, daß wir zu viel in uns hinein für uns leben, und uns nicht vor Allem mitten inne in der großen Kette der Menschen wissen, und Hand anfassen.

Deßhalb wird das gemeinsame Leben schon von Kindheit an und selbst in Spielen so fruchtreich, es gewöhnt an den großen Kreis. Wird auch manche Träumerei dadurch zerschnitten: wir haben lange genug geträumt und im Winkel gehockt. Der Tiefsinnige wird immer noch ein stilles Plätzchen finden, wo er seinen Gedanken nachhängen kann; aber er darf dann auch nicht vergessen, daß er Allen angehört und Alle ihm angehören. So wird er dann auch mit und unter den Andern denken und gemeinsam handeln lernen.

Ein Kind zurechtweisen,

das geschieht auf nachhaltige Art nicht dadurch, daß man gleich bei der Hand ist, ihm zuzurufen: das darfst du nicht thun, das mußt du bleiben lassen u. s. w. Gut; aber was soll das Kind denn nun beginnen? Besser ist's, du sagst deinem Kinde: thue Das und thue Jenes. In den meisten Fällen wird es glücklich sein durch solche Anweisung; denn erstlich weiß es nun, was es treiben soll, und dann liegt selbst für die Kindesseele eine stille Befriedigung darin, Gebotenes zu vollbringen; und ist nun gar das Aufgetragene etwas Nützliches, so liegt eine Genugthuung darin, mit schwacher Kraft Etwas vollführen zu können.

Aber freilich, es ist viel leichter zu sagen: das thue nicht, als zu bestimmen: das thue.

Und das steht für alle Zeiten fest: das Kind muß gehorchen lernen. Denn Gehorsam ist die erste Stufe der Erziehung. Das Kind muß einem höheren Willen und gereifter Einsicht ergeben sein. Nach und nach wird es schon das Warum herausfinden.

Nimm dich aber in Acht, Nichts zu verbieten oder zu befehlen, worauf du nicht streng und unbeugsam halten kannst oder willst. Denn das brächte eine Gesetzlosigkeit in dein Wirken, die durch nichts mehr aufzuheben ist. Nur aus deinem festen Willen und deiner gereiften Einsicht laß Gebot und Verbot hervorgehen.

Ihre Pflicht zu thun,

das ist für gar viele Menschen das Schwierigste. Sie thun alles Andere, und sei es noch so mühselig, lieber und leichter, als eben gerade das, was ihre Pflicht und Schuldigkeit ist. Daraus kommt das oft räthselhafte Mißbehagen und die quälerische Verdrossenheit in so vielen Menschen, es fehlt ihnen die rechte Selbstachtung; sie sind unzufrieden mit sich selber, weil sie ihre nächsten Obliegenheiten vernachlässigt oder gar verabsäumt haben. Der Grund zu diesem Zwiespalt im Innern wird oft schon in der Jugend gelegt. Gieb scharf Acht, welchen Lieblingsbeschäftigungen sich dein Kind zuwendet, laß es frei gewähren, suche ihm aber auch schon darin lebendig klar zu machen, daß jede Neigung auch Pflichten mit sich führt. Bist du mit dem früher berührten Grundsatze des Gehorsams einverstanden, so halte streng darauf, daß dein Kind täglich und vor Allem etwas thue, was ihm als seine Pflicht obliegt; übergieb ihm eine Arbeit im Haus oder dergleichen.

Dadurch pflanzt sich in der Seele die Wahrheit fest, daß die Erfüllung des Lebens Vollführung der Pflicht ist, daß die Vollendung einer stets sich fortsetzenden Aufgabe höher steht, als die bloße augenblickliche Neigung.

Du gewöhnst an die Pflicht, und gute Gewohnheiten gehören mit zu den schönsten Früchten der Erziehung; sie ersetzen oft und bei Vielen die Grundsätze, besonders da diese oft so leicht schwankend gemacht und verdunkelt werden.

Gewährenlassen

ist dabei eine Hauptregel der Erziehung. Mische dich nicht zu viel in das Treiben deines Kindes, wolle nicht Alles am Zügel haben, hilf ihm nicht über alle kleinen Schwierigkeiten bei seinem Thun hinweg, sondern verweise es an seine eigene Kraft. Denn Selbständigkeit kann neben dem Gehorsam nicht frühe genug gehegt werden. Selberlein! ruft der herzige Max, wenn ihm die wackere Lindenwirthin helfen will das Hitzchen (die Ziege) im Garten auf die Weide zu führen.

Und er hat Recht mit seinem Selberlein, wenn ihn die Ziege auch schon oft zu Boden geworfen hat.

Ein alter Ammenglaube sagt: man soll dem Kind den ersten Brei nicht blasen, es verbrennt nachher an heißen Suppen das Maul nicht.

Wer nun das so buchstäblich hinnimmt und glaubt, der hat daran einen Aberglauben. Bedenke aber, daß man oft helle Wahrheiten in Glaubenssätze versteckt hat, weil viele Leute lieber und leichter glauben als einsehen. Wenn du das in Acht nimmst, so wirst du erkennen, daß gesunde Erfahrung und Weisheit in jenen Worten steckt.

Vielregieren

ist also beim Kinde wie anderwärts vom Uebel, denn es macht zugleich mißmuthig und reizt an, das Gebot nicht zu halten. Mußt du aber bei einer bestimmten Sache eingreifen und anordnen, so sage dem Kinde nicht zu viel auf Einmal; denn es kann das nicht behalten und sich nicht darnach richten. Wenn du in einer großen fremden Stadt nach einer Straße fragst, so sagt dir leicht ein höflicher Mann: Sie gehen hier rechts, und durch die zweite Straße links, dann kommen Sie auf einen großen Platz, Sie gehen quer über denselben, lassen zwei Straßen rechts liegen, biegen dann links ein, und dann u. s. w.

Besser ist's, er sagt dir: da und da fragen Sie wieder nach, oder du thust's von selber.

Planmäßig

nach einer gewissen Ordnung selbst die Spiele der Kinder so zu leiten, daß sie vom Kleinen und Einfachen zum Großen und Zusammengesetzten fortschreiten, das halten Viele für grausame Tyrannei, für unbefugtes Eingreifen in das stille Wachsthum des Lebens. Gewiß, das stille Brüten der Seelenkeime darf nicht gestört werden, sonst macht man's ja wie die Kinder selber, die oft eine Bohne, welche sie gestern in den Boden gesenkt, heute wieder ausgraben, um nachzusehen, was sie macht, oder durch allzu eifriges Begießen den Keim ersäufen.

Das Leiten der Spiele und Thätigkeiten der Kinder soll aber nur so sein, daß sie unvermerkt zu Höherem aufsteigen, daß ihrem Thätigkeitstrieb etwas zur Hand gegeben wird, was sie ergötzt und fördert.

Gesegnet sei die Hand,

die einem Kinde Freude bereitet; wer weiß, wann und wo die Freude einst wieder aufblüht. Gedenkt nicht fast Jeder eines wohlwollenden Menschen, der ihm in stillen Tagen der Kindheit Freundliches erwiesen? Der Gevattersmann sieht sich in diesem Augenblick als barfüßigen Knaben an den Lattenzaun eines kleinen ärmlichen Gärtchens in seinem Heimathdorfe versetzt, er schaut sehnsüchtig nach den Blumen, die so still in den hellen Sonntagmorgen hineinblühen. Aus dem Hause tritt der Besitzer des Gärtchens, ein Holzhacker, der die ganze Woche über im Walde arbeitet, er will sich wohl eine Blume holen, um sie mit zur Kirche zu nehmen; da sieht er den Knaben, er bricht die schönste Nelke ab, sie ist roth und weiß gesprenkelt, und reicht sie dem Draußenstehenden. Geber und Empfänger redeten kein Wort, denn der Knabe rannte in behenden Sprüngen nach Hause. – Und jetzt, hier in weiter Fremde, nach so vielen Erlebnissen vieler Jahre, stellt sich das Dankgefühl, das damals des Knaben Brust bewegte, auf's Papier; die Nelke ist längst verwelkt, aber sie blüht jetzt wieder neu auf.

Sieh zu, lieber Leser, ob nicht ein Blumenduft aus kindlicher Ferne auch dich umgiebt; vergilt ihn an den Kindern um dich her.

Eitelkeit, nichts als Eitelkeit.

Du sitzest Abends im Wirthshaus bei guten Freunden, und genießest einen guten Trunk; ihr sprecht von diesem und jenem Mann, der mit seinem Geld oder mit seinen Thaten oder mit kräftiger freier Rede für das allgemeine Beste zu wirken strebt; ihr lobt den Mann, und es wird euch selber wohl bei der Erinnerung an den Edlen, denn das ist die geheime Wirkung des echten Guten, daß man sein gedenkend selber gut wird; man spürt etwas von seiner Kraft in sich, indem man es anerkennt. – Da sitzt aber ein Männchen bei euch, das ruft mit kluger Stimme bei allem was ihr sagt: »Eitelkeit, nichts als Eitelkeit! Der Mann, der mit seinem Geld oder mit Aufopferung seiner Zeit und Kraft zur Abhülfe der Noth und zum allgemeinen Besten beisteuert – will nur als wohlthätiger Mann angesehen werden; der in freier Rede sich des unterdrückten Rechtes annimmt, und dafür eifert: im Grunde will er doch, daß man ihn für den ruhmvollen Kämpfer ansehe und hochhalte. Alles ist Eitelkeit. Man muß die Menschen nur kennen, und man wird mir Recht geben.«

So spricht das kluge Männchen, und ich sehe, wie der rothe Zorn dir in die Wangen steigt, wie der Aerger dir die Lippen zusammenpreßt, und ich sehe sie wieder zucken im Kampf, ob du antworten sollst oder nicht. Es ist aber besser, daß du doch antwortest: »Sie berufen sich auf Ihre Menschenkenntniß und wollen damit Jeden, der Ihnen widerspricht, zu einem unerfahrnen Neuling machen. Aber man kennt die Menschen nur, wie man sich selber kennt; man beurtheilt sie nur, wie man sich selber beurtheilt. Ist das grob? Immerhin, wer die Gesammtheit beleidigt, dem muß jeder Einzelne entgegentreten. Denn wer soll's außerdem thun? Sie haben mich mit angegriffen, und ich habe die Eitelkeit, Sie bekämpfen zu wollen. Betrachten Sie die größten Erlöser und Befreier der Menschheit, die ihr Wirken selbst mit dem Martertode bezahlten; all' ihrem Thun können Sie Eitelkeit unterschieben. Hat ihr Wirken für die Menschheit nicht ihren Namen glorreich gemacht? Ruhm, Ehre, Ansehen, alles was ein Mann durch sein Wirken erringt, ist wohl verdient; es kann und soll ihm dienen, seinem ferneren Thun noch mehr Aufmerksamkeit und Nachdruck zu verleihen. Wer Gemeinnütziges schaffen und dabei ganz aus dem Spiele bleiben will, der höre auf ein lebendiger Mensch zu sein. Das Geschrei über Eitelkeit ist in der Regel die Losung der Faulen, Nichtsthuerischen.«

So hast du gesprochen, und man hat dir später viel Uebels nachgesagt über diese Worte. Laß dich's aber nicht grämen und bleibe dabei. Dein Lohn wird ein reicher sein, du wirst Erquickung und Freude, eine Heimath in Herzen finden, die dir ewig fremd geblieben wären. Du lebst inmitten der Menschheit, geborgen von allumfassender Liebe.

Laß dich nur weichmüthig und beschränkten Verstandes schelten. Siehe, das wahrhaft Gute ist auch das Kluge. Betrachte die Verdrossenen und Hartherzigen, die lauernd und gewaffnet in der Welt umhergehen wie in Feindes Lager, oder sich scheu verbergen: wie arm und öde ist ihr Dasein! Du aber, der du liebend aufschaust und hundertmal betrübt den Blick abwendetest, überrechne, wie reich gesegnet auch dein Leben war, wie du unverhofft erhoben und erfreut wurdest, wie das Schicksal Anderer das deinige wurde, und du das Leben Aller mitlebtest, wie du mehr wurdest als dieser einzelne vergängliche Mensch – überrechne das und halte den ewigen Menschen in dir fest, und du findest ihn immer wieder außer dir.

Die Kunst Menschen zu finden.

Der alte griechische Sonderling Diogenes ging in Athen bei hellem Tag mit einer leuchtenden Laterne umher; und als man ihn fragte: »Was suchst du?« sagte er: »Ich suche Menschen.«

Das hat man nun oft und oft als sinnreich und weise gepriesen, ist aber, offen gesagt, nicht mehr und nicht weniger als ein leidlicher Faschingsspaß von dem seltsamen Kauz.

Willst du die Sache ernst nehmen, so fange zuerst still bei dir selber an, ruhe und raste nicht, bis du das Ewige in dir, den echten Menschen gefunden. Erziehung und Gewohnheit haben dir viel Vorurtheile und fremde Ueberlieferungen aufgeklebt, die du nun für dein eigentliches Wesen hältst; es geht oft die Haut mit ab, wenn du das Aufgeschmierte abreißest, und du siehst, wenn du dich betrachtest, ganz zerschunden aus; du bist aber von Natur aus doch gesund, und wirst bald wieder frischauf und neugeboren dastehen. Hast du den rechten Willen, selber ein echter Mensch zu sein (und du hast dein Leben lang an der Ausführung zu thun), so wirst du die Menschen finden, wenn du hinaustrittst in die Welt. Du hast an dir erfahren, wie verkrustet und verputzt oft das wahrhaft und rein Menschliche ist, und du wirst dich nicht irren lassen, wenn du da und dort allerlei Seltsamkeiten und Härten findest; dringe tiefer ein, und du wirst den Menschen, oder, was dasselbe ist, den guten Menschen finden.

Wie aber dringt man tiefer ein?

Ein offenes Herz öffnet die Herzen Anderer. Hast du neun und neunzigmal dein bestes Herz preisgegeben und siehst dich getäuscht, verkannt oder gar verspottet: laß dich's nicht verdrießen, bei dem Hundertsten von Neuem zu beginnen; denn gerade der, an dem du verstimmt vorübergehen möchtest, kann deiner Liebe werth und bedürftig, kann dein Bruder sein.

Ein gerechter und milder Richter hält den Grundsatz fest: lieber zehn Schuldige freigesprochen als einen Unschuldigen verurtheilt. Der wahrhaft Wohlthätige sagt: lieber zehn Unwürdige mit Gaben beschenken, als einen Würdigen im Unmuth abweisen. So muß es auch in dir sein, wenn du den echten Menschen, wenn du die Liebe in dir walten lässest.

Von dem Gefangenen mit der eisernen Maske.

Alles was der Gevattersmann hier schreibt und womit er seinen Mitmenschen zu nützen und sie zu erfreuen wünscht, das darf nicht so geraden Wegs zu dir gelangen; es muß vorher einem Staatsbeamten vorgelegt sein, und der sagt: ob's gedruckt werden darf oder nicht, und was ihm nicht gefällt, das streicht er weg, und du erfährst nie, was man dir zu sagen hatte. Das ist Censur.

Hast du auch schon gewußt, was Censur ist, so kannst du doch kaum ermessen, wie sich die Seele umkehrt bei dem Gedanken, daß man nicht freiweg reden darf.

Und warum zerstampfest du die Feder nicht? warum schreibst du dennoch? fragst du.

Du hast wohl schon von Menschen gehört, die sich aus Liebe zu einem Gefangenen mit ihm einsperren ließen, ihn aufrichteten und erheiterten, solange sein Leben aushielt, oder bis zum Tage, da die Riegel des Kerkers sich öffnen. – Nun denn, wer unter Censur schreibt, der läßt sich aus Liebe zu seinem Volke mit ihm einsperren, pflegt dessen Kraft so gut er kann, damit sie nicht in sich verkomme, erheitert und erhebt, damit am Tage der Freiheit nicht ein geknicktes in sich gebrochenes Wesen das freie Licht erschaue.

Es gab einstmals einen Gefangenen, der soll ein Prinz gewesen sein, dessen Kraft die Herrscher jener Zeit fürchteten; man wollte ihm nicht den Kopf vor die Füße legen, weil man das Morden scheut, und – der Menschengeist ist ja am erfinderischsten im Quälen – was wurde ersonnen? Man schmiedete dem Verstoßenen eine eiserne Maske über den ganzen Kopf, die man so vernietet hatte, daß sie nicht abzulösen war; so lebte der Eisenübergossene im Kerker, seine Gefangenwärter kannten ihn nicht, er selbst kannte sich nicht mehr ...

Kannst du dir denken, wie es Einem zu Muthe werden muß in solch einem doppelten Gehäuse? Du brauchst dir gerade nichts besonderes auf deinen breiten Mund oder auf deine dicken Backen einzubilden, aber überlege: wie seltsam es dir zu Muthe wäre, wenn du seit Jahren nicht erschaut hättest wie du aussiehst.

Ein Stück Vieh braucht und hat keinen Spiegel. Wenn es Morgens früh aufsteht, hat es Stiefel und anderes Weißzeug an, Rock und Hosen sind nach dem besten Schnitt angepaßt. Ja lache nur: der Spiegel ist ein Vorzug des Menschen; er kann sich selbst betrachten und vorstellen als wäre er etwas anderes.

Und die ausgesprochenen unverfälschten Worte sind der Spiegel der Seele, worin sich des Menschen Geist beschaut, erkennt und beurtheilt.

Ein Mensch, ein Volk, das nicht frei reden darf, hat eine eiserne Maske festgenietet auf seiner Seele, es kennt sich selbst nicht und die Gefangenwärter kennen es auch nicht.

Das Weitere denke dir selber ...

Ein Kampf um Leben und Tod.

I.

Eine Krankheit, die sich in deinem Leibe festsetzt, merkst du selten in dem Augenblick, wo sie in dir entsteht: du gehst da oft noch Wochen- und Monate lang frisch und wohlauf einher. Erst wenn dein Leib den Krankheitsstoff ausscheiden will, wenn die Gesundheit in dir mit aller Macht arbeitet, da wirst du inne, wie es mit dir steht. Du bist niedergeworfen, und die ganze Welt ist dir wie mit Nacht zugedeckt, du weißt und willst Nichts mehr von Allem da draußen – wenn nur erst das Wehe von dir genommen wäre. Aber der Augenblick der Erkrankung (wenn diese nur eine vorübergehende) ist zugleich auch der Beginn der Gesundung; denn jetzt, da du das Fremde und Störende in dir inne wirst, arbeitet dein Leben, sich wieder frei zu machen.

Und wie mit der Krankheit des Leibes, so verhält es sich auch mit der Krankheit der Seele. Da geht der Straßenknecht Stephan das Dorf hinaus und pfeift einen lustigen Parademarsch; den zweiklöppeligen Steinhammer am langen Stiel, ein strohgefülltes Kissen und eine hölzerne Sohle mit Schnüren trägt er im Arm. Wie du ihn so dahinschreiten siehst, merkst du nicht, daß ihm ein Wurm in der Seele sitzt; und wenn du ihn selber aufs Gewissen frügest, könnte er dir auch nichts davon sagen; denn der Wurm schläft noch.

Jetzt ist Stephan an einem wohlgeschichteten Steinhaufen angelangt. Er späht nochmals, von wannen der Wind kommt; denn es ist Spätherbst, und er weht mit mächtigem Zuge. Stephan hebt die Mütze, gleich als grüßte er sein Tagewerk. Dann springt er in den Graben, wo er das strohüberflochtene Gitter geborgen, und stellt es als Schutzwehr nach der Windseite auf. Es ist eine luftige Hütte, aber das Herz Stephans steckt in einem wohlgezimmerten Hause. Er schnallt sich nun die hölzerne Sohle unter und beginnt rüstig zu arbeiten; denn aus dem Steine springt ihm sein Brod hervor, wenn auch nur ein kümmerliches.

Gute zwei Stunden hat Stephan so gearbeitet und sich nur selten einen Augenblick zum Ausschnaufen gegönnt; jetzt macht er Halt, legt das Kissen auf den Steinhaufen, stopft sich eine Pfeife als Lohn für seine bisherige Arbeit, zieht einen gepolsterten Daumenhandschuh an, und beginnt nun sitzend die grobgespaltenen Steine in kleine zu zerschellen. Wenn es 11 Uhr läutet, kommt ein Knabe barfuß aus dem Dorfe mit einem tuchumwickelten Topfe. Er bringt dem Vater Brod und eine warme Suppe. Es schmeckt Stephan wohl, und er arbeitet wieder bis der Abend hereinsinkt; dann nimmt er sein Werkzeug auf und wandert heim.

Stephan bewohnt ein kleines Häuschen abseits der Straße, sein dreijähriges Töchterchen steht hinter der blinden Scheibe, und ruft sich selber zu: der Vater kommt! Es liefe ihm gern entgegen, aber es hat nur ein Hemdchen und kein Kleid.

Stephan tritt in die Hausflur, die zugleich als Küche dient; er grüßt seine Frau, die am Herde steht, nur mit stummem Kopfnicken, und geht in die Stube, nimmt sein Töchterchen auf den Arm, das ihn am Schnurrbart zupft, steht nach der Wiege, in der ein dicker Knabe einen Bettzipfel in den Mund steckt und dem Vater mit den Füßen entgegenstrampelt. Dann geht er nach der Kammer und fragt: »wie geht's Euch, Großmutter?« Eine klagende Stimme antwortet: »Die Kinder sind so wild und lärmig, und der Peter hat mir meine Bohnen genommen; ich sag's dem Lehrer wenn ich wieder gesund bin und in die Schule gehen kann.«

»Ich bring' Euch andre Bohnen,« entgegnet Stephan.

»Ja, schöne lange braune, und auch runde weiße.«

»Alles, Alles,« sagt Stephan, und geht wieder nach der Stube.

Man konnte nicht lang mit der Großmutter reden, sie war wieder ganz kindisch geworden, spielte immer mit der Katze oder mit Bohnen; auch wollte sie immer, daß man sie den Gesangbuchvers abhöre, damit sie in der Schule nicht zu Schanden werde. Heute war Stephan nicht dazu aufgelegt; er setzte sich hinter den Tisch unter ein großes eingerahmtes Bild mit einem großen Siegel, und wartete bis Licht und das Abendessen käme.

Du sagst, lieber Leser: solche Dinge kann ich täglich sehen wenn ich nur zwei Schritte weit gehe, und das ist noch nicht einmal das größte Elend; ich kenne noch Schrecklicheres.

Gieb nur Acht, ob hier nicht etwas vorgeht, was du nicht so leicht siehst; ob hier in dieser kleinen Hütte nicht der größte menschliche Kampf gekämpft wird; ob hier nicht Heldenthaten vollbracht werden, schwerer und tapferer, als die Feldzüge der Könige, die für ewige Zeiten im Buch der Geschichte verzeichnet sind.

Da das Essen so lange nicht kam, holte sich Stephan Licht, und jetzt können wir sehen, was das große eingerahmte Bild dort bedeutet. Es ist der ehrenvolle Abschied des Schützen Stephan Hucker, der elf Jahre im fünften Regiment gedient. Die Tinte ist gelb geworden, das Wappen am Siegel ist zerflossen, und die Fliegen halten ihre letzten Herbstmanöver auf der glatten Glasfläche.

Stephan sitzt da und starrt in das Licht, das Kind auf seinem Schooße sitzt gleichfalls ruhig, unverwandten Blickes da, als verlöre es sich in allerlei Gedanken gleich dem Vater. Denn dieser sieht Nichts von Allem um ihn her, wie im Traume, schattengleich, zieht sein vergangenes Leben an ihm vorüber.

Das war ein lustiger Tag als er zum Soldatendienst auszog, denn ihm weinten nicht Vater, nicht Mutter nach; er war schon früh verwaist. Aus dem Dienst des einzelnen Brodherrn trat er in das Regiment, wo Alle gleich ihm dienten. Die Jahre schwanden dahin, er wußte selbst nicht wie; und als die pflichtmäßige Dienstzeit um war, nahm er Handgeld und blieb als Einsteher noch weitere sechs Jahre. Die aufgenähte Borde an seinem linken Aermel zeigte allein sein Alter, sonst kam er sich noch so jung vor wie früher, und jetzt erwarb er sich noch ein Besitzthum durch seinen Dienst. Da lernte er in den letzten Jahren seine Margret kennen. So groß auch die Zahl der Kameraden in der Kaserne war, Stephan erkannte doch nun, wie er allein und verlassen dastand; jetzt erst sollte er Jemand in der Welt angehören. Da kamen nun Tage voll Glück und voll Betrübniß, denn das Soldatenleben war Stephan fortan beschwerlich, und nach jahrelangem treuen Ausharren forderte er seinen Abschied, löste mit dem Gelde, das er auf der Kriegskasse stehen hatte, das verschuldete Häuschen und die zwei Aecker der Mutter Margarets aus, zog mit in ihr Heimathsdorf, und wohnte gemeinschaftlich mit der Mutter.

In seinem langen Soldatentreiben war Stephan dem Dorfleben fremd geworden: er war zu lange gewohnt, Handschuhe zu tragen; aber die Arbeitsgewohnheit zog ihm bald eine gegerbte Haut über die Hände, die sich nicht abstreifen ließ. Jede Arbeit ward ihm anfangs sauer; das hätte jedoch nicht viel zu bedeuten gehabt, ein gesunder Mensch findet sich bald wieder in Alles. Dennoch war eine traurige Nachwirkung geblieben: Stephan hatte verlernt für sich selber zu sorgen. In der Kaserne war Essen und Feuerung und Wohnung und überhaupt Alles im Stande, das machte sich wie von selbst und ging seinen geregelten Weg, wenn man nur seine pflichtgemäße Obliegenheit vollführte. Jetzt war Stephan sein eigner Kommandant und sein eignes Regiment; das war ihm beschwerlich. Er wäre am liebsten wieder in einen Dienst getreten, um bestimmte Arbeit und bestimmten Lohn zu haben. Aber das fand sich nicht, und es war gut, daß Margret ein entschlossenes Wesen hatte. In den ersten Jahren, als das Hauswesen noch klein, ging es gut; aber jetzt war das Häuschen bereits wieder verschuldet, ein Acker verkauft und in die tägliche Nahrung eingebrockt, und nirgends eine Hoffnung auf Besserwerden.

Eine Schuld auf ein Haus setzen ist als ob man sein Dasein dem Bösen verschrieben hätte; es geht ein Gespenst im Hause um, das durch die dicksten Mauern plötzlich Luken und Löcher reißt und dich aus dem Verborgenen kalt anhaucht.

Stephan war es auch jetzt, als ob es zugig in der Stube sei; denn er hatte eben an die Schuld gedacht und das Gespenst herbeschworen. Dann fragte er sich, wie er hoffen könne, sich wiederum frei zu machen, und er versank in Trübsinn.

So erging es ihm oft. Er war nicht geeignet, um Plane zu entwerfen, wie zu helfen sei, und ihm fehlte auch jede Handhabe.

Ein Verarmender ist wie ein Schiffbrüchiger, mitten im weiten Weltmeer auf eine kleine Insel gestellt; er steht verlassen und sieht wie die nie rastende Welle Stück auf Stück ablöst und auf ewig verschlingt. Noch steht er auf einer Scholle, die ihn trägt, und er fühlt auch diese endlich zerbröckeln und sich selbst mit versinken.

Das Aergste, was dem Verarmenden geschehen kann, ist die Muthlosigkeit, aus der er sich nicht mehr ermannen kann, um seine Kraft zu gebrauchen, sondern die ihn still verzweifeln, Alles über sich ergehen läßt.

Stephan lebte dumpf in sich hinein, und seine Tage gingen einförmig dahin. Er war zu jeder Arbeit bei der Hand und vollführte sie emsig, und wenn das Sprüchwort sagt: Arbeit hat bittre Wurzel, aber süße Frucht; so kannte er Beides nicht mehr. Ihm ward keine Arbeit schwer, aber ihm fehlte auch der Trost, der darin liegt zu wissen daß man seine Pflicht gethan. Seine Seele war wie zugedeckt und verschüttet.

Darum hatte er auch noch gestern zugesehen, wie man sein ältestes Kind in die Erde gesenkt, und hatte starr dabei gestanden. Als er den Sarg sah, dachte er: woher er das Geld nehme ihn zu bezahlen, und als der Pfarrer Trostesworte und Segen sprach, gedachte er, daß er diese Rede bezahlen müsse. Der Tod ist nicht umsonst, murmelte er vor sich hin.

Darum hatte er noch spät in der Nacht einen scharfen Zank mit seiner Frau, weil er sie über ihr Wehklagen und sie ihn darauf über seine Hartherzigkeit gescholten hatte. Jetzt saß er still da, und sein Sinnen verlor sich in die Zeit, da er noch los und ledig in der Welt gestanden, da noch nicht so vieler Menschen Leben an ihm gehangen – seine Vergangenheit erschien ihm wie das verlorne Paradies. Er gedachte nicht der vielen Mühseligkeiten von damals – denn so geht es fast immer, wenn man zurückdenkt – wie er gar nie sein eigner Herr gewesen, und wie oft er dies Leben verwünscht hatte. Er sah jetzt nur das Traurige um sich her. Wie anders war's, wenn ihn Niemand auf der Welt etwas anging'! Ein schrecklicher Gedanke mußte jetzt in ihm aufgestiegen sein, denn er zuckte zusammen wie vom Blitz getroffen; sein Antlitz ward flammenroth – da faßte ihm das Kind auf dem Schooße, von der Erschütterung aufgeschreckt, nach dem Kinn. Das Angesicht Stephans erheiterte sich, er hob das Kind auf, und küßte es inbrünstig. Es war, wie wenn er ihm mit diesem Kusse den schwarzen Gedanken abbitten wolle, der in seiner Seele aufgestiegen war.

Er ging mit dem Kind auf dem Arm nach der Küche zu seiner Frau, mit der er seit gestern Abend kein Wort gewechselt hatte.

»Bist bald fertig?« fragte er.

»Ich habe nur zwei Hände!« antwortete sie barsch.

Sie war noch unwillig von gestern Abend her und glaubte Stephan sei unwillig. Dieser aber fragte in mildem Ton: »Kann ich dir nicht helfen?«

Margret hörte Nichts von dem milden Ton, und sagte: »Hörst du nicht, wie das Kind schreit? Geh doch zu ihm, ich kann nicht an zwei Orten auf Einmal sein.« –

Stephan gehorchte, aber voll Ingrimm. Er dachte, er sei doch so liebreich gewesen, und sei so hart behandelt worden; er vergaß, daß seine Frau nicht ahnen konnte, was in ihm vorging, und daß er ihr ja eigentlich nichts Versöhnendes gesagt hatte.

Wunderbar! Wenn die Menschen in Zank und Streit gerathen sollen, da werden die Zaghaftesten beredt; wenn es aber gilt ein Liebeswort, ein versöhnendes zu sagen, da krümmen und winden sie sich wie Stotternde, oder meinen gar, der Andere müßte von selbst ihnen ins Herz schauen und wissen, was darin vorgeht.

Stephan wiegte zornig das Kind, das mit geschlossenen, gegen die Brust gehobenen Händchen bald fest schlief; er wiegte so heftig bis er merkte, daß er das Kind fast auf den Boden warf und hielt inne. Er war doppelt ärgerlich, denn ihn hungerte. In den leeren Magen läuft gern die Galle über; du kannst das in der Stunde vor der Essenszeit merken, und diese Stunde dehnt sich bei den Armen, Unglücklichen oft zum ganzen Tag aus. Darum erklärt es sich auch leicht, warum sie so oft von Kleinigkeiten gereizt werden, und einander noch mehr peinigen. Die bitterste Frucht der Armuth ist leider oft der Unfriede mit sich selber, und mit den nächsten Angehörigen. Voll Aerger harrte Stephan des Abendessens. Zwar lag noch ein Stück Brod in der Tischlade; er betrachtete es prüfend, und legte es wieder ungeschmälert an seinen Ort. Morgen war erst Samstag, und vor Sonntag ging es nicht, daß man wieder Brod kaufte.

Endlich brachte Margret den Topf voll gesottener Kartoffeln, schüttete ihn auf den Tisch aus und stellte Salz daneben. Dann faltete sie die Hände, und sprach das Tischgebet; Stephan betete leise nach. Aber was ist das für ein Beten, während man gegen seinen Nächsten, dessen Andachtsworte man mit ihm auf der Zunge hat, Groll im Herzen hegt? Wie kann sich die Seele zum Höchsten erheben, belastet von solcher Bürde? Wird da das Beten nicht bloßes Maulwerk und Litanei?

Freilich sagst du, wenn man allen Menschen das Beten verwehren wollte, die noch gegen ihre Nebenmenschen verschlossen und hart sind, da wüßten viele Lippen schon lange nicht mehr wie man Amen sagt, und auf den Kirchenbänken läge jähriger Staub!

Aber denk' einmal darüber nach, ob man ein Recht hat die Hände zu falten, statt sie aufzumachen und dem Andern zu reichen, zur Versöhnung und Hülfeleistung. –

Nun aber wollen wir unseren beiden Leutchen beim Abendessen zuschauen; man beißt ja vom Zuschauen kein Stück ab.

Es geht still her, denn Niemand will ein Wort reden. Das kleine Mädchen, welches Stephan auf einen Stuhl neben sich gesetzt hatte, unterbrach das Schweigen, indem es fragte: »Wo ist denn unser Anton?«

Peter erwiderte mit kluger Miene:

»O, der ist jetzt schon lang im Himmel, und ißt mit unsrem Herrgott zu Nacht. Der Lehrer hat gesagt, es sind so viel Millionen Meilen von der Erde bis zur Sonne; wenn man aber gestorben ist, ist man in einer Minute dort.«

Margret seufzte schwer auf, große Thränen standen ihr in den Wimpern; Stephan sah sie mit eingekniffnen Lippen an; man wußte nicht, war es Zorn oder Mitleid was aus ihm sprach. Er rief nur den Kindern zu:

»Seid still und ruhig beim Essen.«

Er zwang sich selber eine Kartoffel hinabzuwürgen, und doch war ihm die Kehle wie zugeschnürt, und er murmelte vor sich hin:

»Am besten ist's man ist gestorben.« Er lehnte sich zurück und schüttelte mit dem Kopf, als wollte er das Andenken an das, was nun einmal unabänderlich geschehen war, abschütteln.

Es gelingt oft wunderbar schnell, einen bedrückenden Gedanken los zu werden; auch Stephan erging es so. Zwar spürte er keinen Hunger mehr, aber er wollte nun essen, weil es einmal Zeit dazu war, und er sich erinnerte, daß er nagenden Hunger gehabt habe.

In solchen Augenblicken schmeckt alles, was man zum Munde führt, wie dürres Stroh.

Nach einer Weile schaute Stephan seine Frau an mit einem Blick der viel sagen konnte, in der That aber verwundert und bittend fragte:

»Krieg' ich denn heute Nichts?« Denn Margret hatte sonst in der Regel, bevor sie einen Bissen zum Munde brachte, mit wundersamer Behendigkeit die besten aufgesprungenen Kartoffeln geschält, in der Mitte entzweigebrochen, mit Salz bestreut und ihrem Manne hingeschoben. Mit dieser Freundlichkeit fuhr sie dann fort während sie selbst aß. Heute aber dauerte dies für Stephan zu lang – denn Margret trödelte in der That etwas –, und er warf ihr jenen vielsagenden Blick zu. Die Frau erkannte darin nur Vorwurf und Zorn. Was für ein Recht hatte denn Stephan auf ihre Zuvorkommenheit? Konnte er sich nicht selbst schälen was er essen wollte? So dachte Margret, und schob die geschälten Kartoffeln den Kindern hin, gleichsam um sie zu begütigen, weil der Vater sie so hart angerannt hatte.

Da lächelte Stephan vor sich hin, und theils aus wirklicher Freundlichkeit, um damit zu versöhnen, theils aber auch aus einem versteckten Rachegefühl, um die erfahrene Unbill heimzubezahlen – denn so gemischt sind oft die Empfindungen und Thaten der Menschen – legte er jetzt eine von ihm selbst geschälte Kartoffel vor Margret. Sie aber sagte trutzig:

»Iß du nur selber, und du hast dir ja nicht einmal die Hände gewaschen vom Steinklopfen her.«

Stephan biß die Lippen aufeinander und knirschte endlich hervor:

»Schaff' dir einen Bäcker an, der hat immer saubere Hände, wenn er den Teig geknetet hat.«

Er klappte sein Taschenmesser zusammen, stand auf und verließ sein Haus.

Draußen aber begann er erst recht in sich hinein zu wettern und zu fluchen, und eine ungehörte tiefe Stimme erlaubte sich drein zu reden. Stephan dachte:

Ich bin doch der elendeste Mensch von der Welt (es ist die Frage wie das verstanden wird, bemerkte die Stimme), muß ich nicht für Weib und Kind arbeiten, und mich schinden wie ein Pferd draußen in Wind und Wetter? (Und die Frau muß daheim bei der kranken Mutter und den schreienden Kindern ohne Rast und Ruh sich mühen und sorgen.) Ich bekomme kein gutes Wort für alle meine Mühe. (Es ist die Frage, ob du nicht schon mehr gute Worte bekommen als gegeben hast.) Jeden Heller von meinem Verdienst gebe ich her und behalte Nichts für mich. (Gehört denn dein Verdienst dir oder den Deinigen, oder hat deine Frau geheime Schätze?) Ich thue mir nie etwas zu Gute. (Ißt denn deine Frau heimlich Braten und Salat?) Ich weiß seit vielen Wochen nicht, wie ein Tropfen Bier schmeckt. (Trinkt denn deine Frau täglich Malvasier?) Und für Alles keinen Dank. (Was für Dank verlangst du denn, wenn du deine Pflicht thust?) Sie behandelt mich wie einen Hund, für alle meine Gutheit nichts als Bosheit; ich habe noch keine glückliche Minute gehabt. (O wie lügst du in deine Seele hinein! Wie hast du jetzt die Hunderte von Stunden und Tagen vergessen, wo dich ihr gutes Herz beglückte und stärkte; und war sie nicht stets für ein liebreiches Wort um den Finger zu wickeln?) Mein Haus ist mir verleidet, mein Leben ist mir verleidet, wenn mir nur einer eine Kugel durch den Kopf schießen möchte! (Schlag du die bösen Gedanken todt, das ist gescheidter.) Und wenn ich gestorben wär', da würde sie erst einsehen was sie an mir gehabt hat. (Ja was? einen Mann der sich selbst oft hat übermannen lassen, und sich noch plagt zu den Plagen, die von selbst kommen.) Wenn ich nur in die weite Welt hinaus könnte, und von gar Nichts mehr wüßte! (Von mir aber müßtest du wissen, ich zöge doch überall mit.)

So dachte Stephan vor sich hin, und so suchte sich die Stimme des Gewissens in ihm laut zu machen; aber er wollte nicht darauf hören.

II.

Wenn es nur immer Vorkehrungen gäbe, um ein betrübtes, verworrenes und hülfesuchendes Gemüth aufzunehmen. Vordem standen die Kirchen allzeit offen, um den in den Wirren des Lebens unstät Gewordenen in ihre stille Ruhe einzuhegen, daß er sich dort erhebe in den Himmel seiner eignen Seele und zu dem Urquell des Geistes, der das Weltall nach ewigen Gesetzen leitet, und in jedes Menschen Leben einen weisen Plan durchführt, der uns nur zu Zeiten verborgen ist. Aber man hat die Kirchen mit allerlei Tand und Geschmeide von Gold und Silber geschmückt, und man muß nun diesen unnützen Trödel vor den Händen wahren, die sich dort nicht immer zum Gebete erheben möchten. Die Kirchen sind geschlossen, und ständen sie auch noch offen, nur Wenige fänden dort allzeit den rechten Eingang in die heiligen Hallen ihres Herzens, zu denen man nicht erst die Schlüssel beim Küster zu holen hat; dem festen Willen, der Wahrhaftigkeit vor sich selber weicht da Riegel und Schloß.

Wie erquickend ist es aber doch in solchen Wirrnissen einen Andern zu finden, der uns in sich aufnimmt und uns wieder uns selber giebt!

Stephan sehnte sich nach einem solchen Herzbruder.

Wie oft ist dir's aber wohl schon vorgekommen, daß du mit bewegter Seele an einen treuen Menschen herantratst, und er verstand dein Bangen und Sorgen nicht; denn ihn selber bewegte ein Fremdes, was du nicht kennst, und du fühlst es aufs Neue, daß die Erlösung durch Andere selten ist, sie muß auferstehen und gen Himmel heben aus der Tiefe des eignen Herzens.

So ging nun Stephan durch das Dorf, und er kam sich wildfremd und verlassen hier und in dieser ganzen Welt vor, als ob er Niemand kennte; denn er war fremd in seinem eignen Herzen wie in seinem Hause.

In das Wirthshaus zu gehen und dort seine Sorgen zu zerstreuen, schämte er sich, da man erst gestern sein ältestes Kind begraben hatte. Da sah er die Stube des Schullehrers erleuchtet; er wollte zu ihm hinauf. Mit dem Schullehrer, einem wackern Manne in den besten Jahren, stand Stephan in besondrer Verbindung; er hatte für ihn die Eingabe gemacht, wodurch er den kleinen Dienst als Straßenknecht erhalten hatte, und seitdem sahen sie sich öfter. Stephan, der lange in der Stadt gelebt und ein besonderes Ehrgefühl hatte, glaubte: das wäre der Mann für ihn, der ihn trotz seines niedern Standes zu achten verstehe, und dies war auch in der That der Fall.

Bei dem Schullehrer traf Stephan eine große Zahl von Männern und Jünglingen: es sah fast wie eine Betstunde aus, so andächtig hörte Jeder zu. Aber man sprach von einem Jenseits, nach dem die Versammelten noch bei lebendigem Leib steuern wollten. Es waren Auswanderer, die sich von dem Lehrer aus Büchern über die Beschaffenheit Nordamerika's, über die Art wie man dahin gelange, und sich am besten ansiedle und dergleichen, vortragen ließen.

Wie ein Blitz durchzuckte ein Gedanke das ganze Wesen Stephans, und während er zuhörte, hob er stets einen Fuß nach dem andern leise empor, gleichsam als wollte er sich vergewissern, daß er nicht am Boden festgewachsen sei, sondern auch fort könne.

Als die Vorlesung zu Ende war, stürmte Alles mit Macht ins Freie. Jeder wäre jetzt am liebsten gleich in den Urwald gerannt, und hätte dort die vom Tage der Schöpfung an unberührten Stämme gefällt und das Erdreich umgerodet; so viel Mark und Kraft glaubte Jeder in sich zu spüren, daß er mit einem Griff einen dicken Stamm wie eine leichte Gerte knicken könne.

In solch einem Augenblick der Spannung und Begeisterung wären die Menschen oft fähig, Großes, fast Uebermenschliches zu vollbringen, in solchen Augenblicken geschehen ruhmvolle Heldenthaten auf dem Schlachtfeld. Aber es ist weit leichter, unter Kanonendonner muthig vorzuschreiten, als Jahre lang an einem stillen Vorsatz zu arbeiten, und einen Kampf mit den kleinen Plackereien des Lebens, einen Kampf im Herzen auszufechten.

Einen solchen hatte Stephan zu bestehen.

Viele der Versammelten zogen in das Wirthshaus. Da sie einstweilen Nichts für ihre Zukunft thun konnten, glaubten sie über alle Stränge hauen, und sich dem Müßiggang überlassen zu dürfen, bis die neue Thätigkeit begänne.

Es giebt Menschen, ja ganze Völker, die sich und Andere stets auf einen kommenden Lebensmontag vertrösten; sie sagen oder denken: jetzt, so mitten in der Woche, da kann man nichts Rechtes mehr anfangen, laßt nur erst diese paar Tage und dann den Sonntag vorüber sein, ihr sollt sehen, wie wir dann frisch zugreifen.

Kennst du nicht auch solche Zukunftströster, die sich so zu sagen immer in die Hände spucken zum Ausgreifen, und doch nie anfassen?

Das Vertrösten ist aber Nichts als faule Flausenmacherei. Jeder Tag hat seine Pflicht, und überlässest du dich heute der Nichtsthuerei, so findet die kommende Arbeit einen lässigen Gesellen in dir.

Im Wirthshaus ging es hoch her, denn dort bankettirte der Herzog Lumbus mit seiner Schaar, die aus dem größten Theil der jüngeren Auswanderer bestand. Der Herzog Lumbus war Besitzer eines ziemlich ansehnlichen Bauernguts gewesen, und erst vor wenigen Monaten hatte er seine junge Frau verloren. Er war gerade seit zwei Tagen verreis't, als sie von der Leiter in der Scheune herabstürzte, und als er Tages darauf heim kam, ward ihm die schreckliche Kunde von ihrem Tode entgegengebracht. Er schien nun des Lebens im Dorfe überdrüssig, verkaufte sein Gut, und bekam von seinem eigenen Vermögen und dem ererbten Eingebrachten seiner Frau eine bedeutende Summe Geld in die Hand.

Von ihm zuerst war der Auswanderungsplan gefaßt worden, und er hatte dafür namentlich das junge Volk begeistert. Einstmals sagte er zu den Versammelten:

»Ich bin's doch, der euch zuerst den Weg nach Amerika gezeigt hat, und ich ziehe vor euch her und bin euer Herzog. Ich habe Amerika für euch entdeckt, ich bin euer Columbus.«

»Herzog Lumbus!« schrie Alles, und seitdem führte er diesen Namen mit Stolz und majestätischer Würde.

Der Name des edlen Mannes, der mit unbeugsamem Muth eine neue unbekannte Welt entdeckte, die für so viele Hülflose und Freiheitsuchende ein Zufluchtsort geworden, wurde hier zu einem Spaß verwendet.

Herzog Lumbus war ein stattlicher Mann, der, seitdem er auszuwandern beschlossen hatte, seinen röthlichen Bart unverschoren ließ; das war die einzige Pflanzung, die er noch zu Hause anlegte, er nannte sie seinen fürstlichen Domänenwald.

Auf den heutigen Abend versprach er eine große Zeche.

»Wir wollen einen ganzen Acker vertrinken!« rief er, und seine Schaar war dazu willfährig. Sie geberdeten sich überhaupt wie ehedem die Rekruten, bevor sie in die Garnison einzogen, die Tage und Wochen lang sich alle Freiheit herausnahmen, und von der gewöhnlichen Ordnung der Welt nichts mehr wissen wollten.

Als man spät in der Nacht vom Zechen aufstand, rief der Herzog Lumbus:

»Wirtschaft! heda! das Hofthor aufgemacht, es will ein Acker hinaus!«

Unterdessen war Stephan längst mit einigen ruhigen und besonnenen Männern nach Hause gewandert; sie sahen wohl ein, daß das Tollen und Jubiliren der falsche Weg zum wahren Fortkommen sei; aber es gelang ihnen nicht, ihre Angehörigen vom Herzog Lumbus loszumachen, und Einige machten sogar manchmal gute Miene zum bösen Spiel, und tranken selber mit.

Tagelang ging nun Stephan umher, und hegte den Gedanken an das Leben in der neuen Welt in sich.

Ein Mensch, der sich dem Gedanken der Auswanderung hingiebt, ist wie ein Baum, der plötzlich aus seinem Erdreich gerissen worden; die Wurzeln, die im Dunkel ruhten, liegen zu Tage, und es ist leicht möglich, daß er verkommt und verdorrt, bevor er neuen Grund gewinnt.

Mit Margret redete Stephan kein Wort von seinem Vorhaben. Ganz allein wollte er den Plan vollenden. Auch kannte er wohl die Hindernisse, die der Ausführung entgegenstanden, und erst wenn diese beseitigt waren, wollte er mit der fertigen Zurüstung hervortreten. Er dachte immer, hier zu Lande könne er kein rechter Mann werden, das werde erst in der neuen Welt frisch beginnen. Es kam ihm vor, daß er jetzt erst zu seiner Manneskraft erwache, und allerdings war dies in gewissem Sinne der Fall. Er fand einen gewissen Stolz, ein Selbstgefühl darin, ohne Dreinreden eines Andern Alles abzumachen: aber er sollte erfahren, wohin man gelangt, wenn man sich von den Menschen entfernt, die uns zu Eigen gegeben sind, und wie er einem Abgrunde entgegenstürzte.

Margret ihrerseits hegte auch ein neues Leben in sich, und sie wagte nicht, solches Stephan zu offenbaren. Er war ihr doch vor Gott und der Welt angetraut, und sie weinte im Stillen, als müßte sie eine Schande verbergen. Sollte ja mit dem neuen Leben neuer Kummer ins Haus kommen; hatte doch er den Tod des ältesten Kindes mit einem Kaltsinn ertragen, als wäre ihm dadurch nur eine Last von der Schulter genommen.

So waren zwei Menschen, so nahe verbunden, unter demselben Dache, wie durch Meere getrennt.

Bei seiner Arbeit schüttelte Stephan den Kopf, als säßen ihm Bremsen im Gehirn; dann hielt er bisweilen Minuten lang einen Stein unter dem Fuß und vergaß ihn zu zerspalten, so sehr hatte er sich in Gedanken verloren. Die Zeit kam ihm dabei unendlich lange vor, denn ihm fehlte auch das einzige Kleinod, das er sich durch alles Elend noch erhalten hatte: seine Taschenuhr. Um die Begräbnißkosten zu bestreiten, hatte er sie zwar nur verpfändet, aber er wußte, daß er sie nie wieder einlösen könne; es war ihm zu Muthe, wie wenn er dadurch ein Stück von seinem Wesen verloren habe, als ob nach und nach seine Gliedmaßen sich ablösten, als spürte er die Verarmung leibhaftig an sich. Sonst hatte er oft Tage lang nicht nach der Uhr gesehen, jetzt meinte er, es fehle ihm ein Theil von seinen Sinnen. Wenn es im Dorfe eine Stunde anschlug, hielt er inne, um zu wissen, welche Zeit es sei; als ob er das ganz genau im Kopfe haben müsse, und sonst nicht leben und nicht arbeiten könne. Strich der Wind so, daß er keine Glocke vernehmen konnte, so kam es ihm vor, als ob er in tiefer Wildniß, fern von allen Menschen wäre, und dann dachte er wieder: so wird es einst auf deinem Gut in Amerika sein, da giebt es keine Dorfuhr mehr, da läutet keine Glocke, da mußt du dir selber die Zeit bemessen, und dir Alles selbst richten. Waren einmal die Gedanken auf dem Neubruch im Urwalde, so dünkte ihm jeder Schlag, den er hier noch auf Zerspellung eines Steines wendete, wie eine unnütze Verschwendung; für sein eigen Gut wollte er arbeiten, und nicht bloß für kärglichen Tagelohn. Und einst griff er wiederum nach der Tasche, wo er ehedem die Uhr gehabt, und er dachte: wenn das Bett der Großmutter frei wird, da kann man die Uhr dafür einlösen. Es war ihm plötzlich, als ob seine Gedanken der Großmutter die Kissen unter dem Kopfe wegzögen; er lachte unwillkürlich, und weiter jagte sein böser Geist mit ihm davon. – Der Tod der Großmutter war fortan sein einziges Dichten und Trachten. So lange sie lebte, konnte Margret nicht in die Auswanderung willigen; auch hätte Niemand das Häuschen gekauft, worauf die Großmutter noch ein Leibgedingrecht hatte.

Eines Sonntagmorgens war Stephan der Erste, der die Kirche verließ, draußen aber stand er wie angewurzelt fest; er ließ alle Kirchgänger an sich vorübergehen, betrachtete sie starr und dachte, was Der und Jener dazu sagen würde, wenn die Großmutter plötzlich stürbe.

Zu Hause war er fast immer stumm und brauste nur bisweilen im Jähzorn auf, das Kleinste machte ihn ärgerlich; er haderte mit der Welt, weil er mit sich haderte ...

Es ist dir wohl auch schon begegnet, daß du Tage und Wochen lang in der Welt umhergingst, und kaum etwas davon sahst, denn deine Seele war ein einziger Gedanke, der dich überall anschaute; wie in einem Taumel lebtest du da, Alles ist dir fremd und du selbst bist, dir fast fremd geworden, und was du endlich thust – es mag entscheidend sein für dein ganzes Leben – du thust es kaum mehr mit hellem klaren Willen. Wohl dir, wenn es ein rechtschaffener Gedanke war, der so dich aufgenommen, dich zu Thaten ermuthigte und stärkte, die über deine sonstige schwache Kraft hinausreichten.

Stephan besuchte noch allabendlich die Vorlesungen des Lehrers, aber er hörte wenig mehr davon; er saß da, aber seine Seele war weit weg und rang einen schmerzlichen Kampf. Margret merkte wohl, was mit ihm vorging, aber das Letzte ahnte sie doch nicht.

Das häusliche Elend vermehrte sich; der Tagelohn blieb derselbe, und die Preise der Lebensmittel stiegen mehr als über das Doppelte. Die Großmutter war wieder frisch auf, und immer hieran heftete sich die Leidenschaft Stephans. Eine wunderbare Veränderung war mit ihm vorgegangen, er richtete sich immer straff auf, und griff Alles keck und behend an, denn ihn ermuthigte eine Hoffnung. Aber wie ein schwarzer Fleck durchschnitt alsbald wieder das Hinderniß die schimmernde Zukunft. Er fand einen eigenthümlichen Trost darin, den zur Auswanderung Entschlossenen in Abwickelung ihrer Verhältnisse und in Zurüstung zu ihrer Abreise beizustehen. Es war ihm wie damals, als er Denen half, die aus dem Soldatendienst wieder an den heimischen Herd zurückkehrten; sie konnten Alle lustig fortziehen, sie hatten ein Daheim, das auf sie wartete: jetzt aber wollte Stephan selber mit fort. Es lag ihm im Sinn, als ob drüben über'm Meere kräftige Baumstämme und saftige Ackergründe seiner harrten, und so zu sagen verwundert fragten, warum er so lange nicht käme.

In diesem Umgange aber mit Menschen, die keinerlei Arbeitspflicht mehr in der Heimath hatten, versäumte auch Stephan vielfach seine Obliegenheit, und vermehrte dadurch seine Noth.

Und wenn er dann wieder allein bei der Arbeit war, dachte er: warum schlägt man im Kriege Hunderte todt, und wird als ein Held gepriesen? – hier ist ein Menschenleben, das uns Alle täglich tiefer ins Elend zerrt – sie will sterben, warum helf' ich ihr nicht? ... So dachte er, und er hob den Hammer hoch in die Luft und schlug dann auf die Steine, daß die Splitter davonflogen; und er dachte wieder: es giebt doch nichts Schmählicheres, als auf den Tod eines Menschen hoffen und harren: Alles lebt so gern, warum soll es denn mir aus dem Weg gehen? Nein, du sollst noch leben, Alte, so lange du magst: es ist doch gut, daß nicht alle Gedanken gleich wahr werden ...

Zu Hause konnte er indeß doch der Großmutter nicht ins Auge sehen; er fühlte sich eines schweren Verbrechens gegen sie schuldig. Und einst, als er ihr mit Mißgunst und leisen Verwünschungen zusah, wie sie so tapfer die Speise verzehrte, ward er sich plötzlich dieses Frevelgedankens bewußt, und reichte ihr den Bissen hin, den er eben zum Munde führen wollte.

Nicht immer aber konnte er ihr einen Bissen vom Munde reichen; Hunger und Verzweiflung preßten ihm die Lippen zwischen die Zähne.

Es war kein Bettstück mehr im Hause, als das, worauf die Großmutter lag; alles andere war verkauft. Stephan legte sich hungernd nieder, und deckte sich mit seinem alten zerrissenen Soldatenmantel zu. Margret hatte das Kind zu sich genommen, sie wollten sich Beide einander erwärmen, aber sie fand keine Ruhe, und ihr war, als ob es tief in ihr nach Nahrung schreie. Dazu kam noch der Unfriede mit ihrem Mann; sie wollte mit ihm reden, denn Worte waren ja noch das Einzige, was ihnen gegeben war; sie wollte ihm Alles offenbaren, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt und die Zunge wie vertrocknet.

Weißt du wie es thut, wenn man sich hungrig zum Schlafen niederlegt? Du wälzest dich gramvoll hin und her und kannst die Ruhe nicht finden. Schwere Gedanken zerren und reißen an dir, wenn nicht die Noth dich ganz ermattet hat; und kommt der Schlaf und wiegt dich eine Weile ins Vergessen: du zuckst in plötzlichem Erwachen auf, wie von bösen Geistern aufgeschreckt, die nagende Pein zehrt an deinem Leben. Grauenhafte Gebilde, die vor dem Hungernden in einsamer Nacht aufsteigen! Die ganze Welt ist todt und still, dein Gram und deine Noth allein wachen. Ein Fluch aus dem tiefsten Dunkel deiner Seele drängt sich empor ... du willst verderben ... Halte fest o Herz! daß du nicht in Wuth gegen dich und die Welt eine ewige Schuld auf dich ladest.

So war Stephan hungernd zur Ruhe gegangen, und so erwachte er mitten in der Nacht. Er schnellte rasch empor. Wer hat ihm den Steinhammer vor sein Lager gestellt? Er fällt kollernd auf den Boden. Ist's ein Richtschwert, das sich regt? ... Da ruft Margret, die mit ihm gewacht:

»Um Gottes willen, Stephan – du wirst doch nicht mich und das Kind, das ich unter dem Herzen trage, umbringen?«

Stephan stürzte unwillkürlich an ihrem Lager auf die Kniee nieder; er konnte lange nicht reden. Tod und Leben begegneten sich in diesem Augenblick in seiner Seele – er hatte morden wollen, und ein junges Leben ward ihm verkündet.

Endlich brach er in heftige Thränen aus.

Margret weinte mit ihm, und erklärte, daß sie seine Auswanderungsgedanken wohl kenne, daß sie sich aber doppelt vor ihm gefürchtet habe. Stephan wüthete nun gegen sich selber. Margret tröstete ihn mit liebreichen Worten, und er sagte endlich:

»Vergiß Alles, verzeih; ich seh's, ich seh's, wie hätt' ich auf dem einsamen Haus leben können und in mir weiß ich, was ich begangen habe? Frage mich nicht weiter, vergiß Alles, verzeih, du bist ja gut, ich will dir's gedenken. Wir Beide, wir müssen mit einander vor Allem ein Herz und eine Seele sein, wenn wir auswandern; denn draußen in der weiten Welt auf dem einsamen Gehöfte da haben wir Niemand als uns.«

Wie war jetzt alle Noth und die lange Trennung vergessen, und den Beiden war's, als ob sie die beste Speise genossen hätten. Traulich sprachen sie über ihre Zukunft, und suchten sich darein zu fassen, einstweilen geduldig auszuharren.

Stephan nahm sich vor, fortan wiederum emsig zu sein, und alles böse Sinnen in sich zu tödten. Dieser Gedanke ließ ihn endlich wieder Ruhe finden.

Fortan war Stephan doppelt rüstig in seiner Arbeit. Der Frühling nahte und mit ihm Erleichterung der Noth. Gegen die Großmutter aber legte er eine unbeschreibliche Zärtlichkeit an den Tag, und Margret verstand ihn nicht, was er damit wollte, als er einst sagte:

»Wenn nur die Großmutter noch recht lange lebte! Ich Hab' mir gedacht, unser kleines Kind soll in Amerika auf unsrem eignen Boden laufen lernen, – aber es muß sich's auch hier gefallen lassen.«

Stundenlang spielte er dann oft Abends mit der Großmutter wie ein Kind und gab ihr Alles nach, denn sie war sehr eigenwillig. Solch ein Thun ist mit wenigen Worten gesagt, aber es gehört in der Wirklichkeit viel Geduld und Zartsinn dazu. Den Gesangbuchvers hörte er die Großmutter regelmäßig ab, oftmals wußte sie aber auch nicht, welchen Gesang sie in der Schule auswendig zu lernen bekommen habe; er las ihr dann die Liederanfänge nach dem ABC vor. Während des Lesens vergaß sie aber, was sie gewollt hatte, und verlangte wieder mit Bohnen zu spielen.

Eine besondere Freude wurde ihr einst, als der Lehrer selber, der zu Stephan zu Besuch gekommen war, sie ihren Vers abhörte und ihr ein Bildchen schenkte. Auch an dieser kindischen Freude nahm Stephan harmlosen Antheil.

Als im Frühling der große Zug der Auswanderer sich zur Abreise anschickte, begann die alte Unruhe wieder in Stephan sich zu regen, und als sie draußen, wo er Steine klopfte, an ihm vorüber fuhren, sagte er bitter lächelnd zum Abschied:

»Ich muß die Wege gut in Stand halten, damit ihr gut fort könnt; aber es kommt mir auch vor, wie wenn ihr der Bahnschlitten wäret, der durchbricht, daß ich besser nachkommen kann.«

Der Herzog Lumbus lärmte und sang unaufhörlich bei der Wegfahrt; er wollte Nichts von dem tiefen Herzeleid wissen, das jetzt so Viele ergriff.

Mit dem Herzog Lumbus hatte Stephan stets in einem eigenthümlichen Verhältniß gestanden. Er ließ sich nie zur Theilnahme an seinen Schmausereien verleiten; eine gewisse Scheu vor diesem Menschen lebte in ihm, und doch konnte Niemand ihm etwas Böses nachsagen. Daß er einen guten Theil seines Geldes verthat, ging sonst Niemand etwas an. War's vielleicht der Trotz, die oberherrische Keckheit, mit der Herzog Lumbus die Welt anfaßte und die Menschen behandelte wie Puppen, die er bald da, bald dort aufstellte, und nach seiner Laune aufjauchzen und tanzen ließ, – war's vielleicht dies, was Stephan von ihm entfernt hielt? In der That dachte Stephan oft vor sich hin: so ein Mensch, der Geld hat, sieht doch ganz anders in die Welt hinein; er ist überall daheim und kann Alles kaufen und haben. Unsereins ist immer bang und furchtsam, und meint, es käm' alle Augenblick Jemand ins Haus und jagt' Einen fort.

Als nun der Herzog Lumbus vorüberfuhr, sagte er zu Stephan: »Du, Steinhammer, in Amerika kauf' ich mir ein Herzogthum und heiß es Lumbia, und wenn du kommst, schenk' ich dir hundert Morgen Ackers.«

Stephan antwortete nicht.

In den ersten Tagen nach Abgang des Zuges war's im ganzen Dorfe, als ob überall eine Lücke wäre; da fehlten die von jeher gewohnten Menschen, und Jedes meinte, man werde ihrer nie vergessen. Aber wie das so geht. Wenn ein Mensch oder eine Gemeinschaft in den Strom des Lebens versinkt und dem Auge entschwindet: es ist doch nur wie ein Stein, der ins Wasser fällt; anfangs öffnet er den Strom und bricht ihn, dann zieht er nur noch verschwimmende Ringe, bis endlich die Welle wieder gleichmäßig fortfließt.

Als die Wanderer fortzogen, beriethen sich die jungen Schwalben noch mit heimlichem Zwitschern, auf den Weiden am Bache ruhend, wo sie ihre Nester anheften sollten; sie flogen dann auf und umkreisten manche Dachfirste, und besprachen in der Luft ihren Bauplan. Noch hatten sie ihre Nester nicht vollendet, als fast Niemand im Dorf mehr daran dachte, daß auch von hier einst ein Wanderzug von Brüdern sich entfernt, um in fernen Landen sich anzubauen. Wo flatterten sie jetzt umher?

Nur Stephan und der Lehrer sprachen oft von den Entfernten, und geleiteten sie mit ihren Gedanken bis über das Meer.

III.

Der Herbst war wiederum da. Ein munteres Mädchen hatte die Familie Stephans vermehrt, aber ein Freund war ihm entzogen: der Lehrer war verhaftet. Er hatte einen Brief von seinem mit ausgewanderten Bruder erhalten, worin das traurige Loos der Auswanderer mit grellen Farben geschildert war. Sie hatten wochenlang auf die Ueberfahrt harren müssen, und nirgends Hülfe gefunden; die Ueberfahrtsverträge wurden von den Schiffsrhedern wortbrüchig aufgelöst, und nirgends fanden die Verlassenen einen Beistand, der ihrer Klage Nachdruck gegeben hätte. Dazu kam, daß Viele in die Hände von Betrügern und Seelenverkäufern fielen, und sich aus Mangel an Geld und an Fürsorge nach den ungesundesten englischen und französischen Colonien übersiedeln ließen, wo sie nach wenigen Jahren einem gewissen Tode entgegen gingen. In dem Briefe des Bruders hieß es:

»O wir Deutschen! Wißt ihr's, ihr seid Deutsche! Wenn ihr hinaus kommt über die bunten Grenzpfähle der landesväterlichen Obhut, da merkt ihr's, was ihr in der Welt geltet und wie überall Wächter eures Heils aufgestellt sind. Wir bezahlen von unsern Steuern die Gesandten in allen Residenzen der Welt, damit sie Kurierpferde keuchen machen, und berichten welche Feste gefeiert wurden, welche hohe Niederkunft stattgefunden hat – die Unterthanen aber, welche die Steuern bezahlen, bedürfen keines Schutzes in fremden Landen. Mögen sie zu Grunde gehen, das Gespött der Welt sein und höchstens ihr Mitleid erregen – was liegt daran? Wenn ein Bekannter von uns gestorben ist oder ein Kunde, der uns mit ernähren half, so geben wir ihm das Geleite bis zur Ruhestätte im Grabe; die Unterthanen aber, die bis jetzt lebendige Glieder des Staates waren, und die größtentheils aus Noth und Furcht vor der zukünftigen Noth auswandern – sie gehen die staatliche Fürsorge nichts mehr an. Nur so lange ihr Steuern bezahlt, nimmt man euch in Obhut, bezahlt ihr keine Steuern mehr, könnt ihr zum Teufel gehen.«

Gerade um vor fahrlässiger Auswanderung zu warnen, hatte der Lehrer mehrere Abschriften von dem Briefe nehmen und auf diese Weise verbreiten lassen, weil die Erlaubniß zum Druck in einem öffentlichen Blatte von der Polizei versagt worden war. Darum war nun der Lehrer verhaftet.

Stephan stand eines Sonntagmorgens an den Pfosten der Hausthür gelehnt und sah ruhig den Schwalben zu, die pfeilschnell durch die Luft schossen. Der Gedanke an die Auswanderung, der stets in ihm schlummerte, erwachte leise wieder; er dachte, daß auch die Schwalben hier auswandern wollten, und nun keine Ruhe mehr hätten, da sie Frost und Hunger leiden müßten. Sie konnten frei ziehen, denn die Thiere haben nur für sich zu sorgen, und für ihre Jungen blos so lange sie noch klein sind; Eltern kennen sie nicht.

Das war doch noch ein Ueberrest von den alten bösen Gedanken; aber Stephan war's, als hätte ein anderer Mensch und nicht er selbst diese ehedem in sich gehegt.

Da erscholl es plötzlich von allen Seiten: »Der Herzog Lumbus ist wieder da! der Herzog Lumbus ist wieder da!«

Ein Mensch in zerfetzten Kleidern rannte durch die Gassen dem Kirchhofe zu und schrie mit schäumendem Munde: »Mein Weib, mein Weib gebt mir! Wo ist sie? Ist sie nicht da? Wo ist sie? Schlagt mich todt.«

Es läutete zur Kirche und er schrie:

»Wird sie jetzt begraben? Wer hat sie umgebracht? Wer sagt, daß ich's bin? – Ja, ich bin's! Ich, ich. Schlagt ihn todt!«

Die Kirchgänger umstanden den Rasenden, der sich immer auf die Brust schlug, daß es laut dröhnte, und dabei schrie:

»Seht ihr, auf der Strickleiter im Schiff, da ist sie hoch oben gestanden, und ihre Schürze hat in der Luft geflattert; ich kann nicht hinauf aufs Schiff, ich kann sie nicht hinabstürzen ... Von der Leiter in der Scheune hab' ich sie hinabgestürzt, und habe drei Tage im Heu gesteckt – Meint ihr, ich sei fortgewesen? Ich war nicht fort, ich bin nicht fort, ich bin da! ...«

Er sank in heftigen Zuckungen zusammen, und Stephan war der Erste, der zitternd, aber doch voll Kraft, den vom Fieber Ergriffenen anfaßte, um ihn in das nächste Haus zu tragen. Es war ihm als trüge er sich selbst, seinen Doppelgänger, so dahin.

Hier hatte Einer vollbracht, was er nur gewollt hatte. Mit zärtlicher Sorgfalt bemühte er sich um den Rasenden; und als dieser endlich zur Ruhe und Besinnung gelangte, schnitten ihm seine Worte tief in die Seele; denn er sagte:

»Stephan, du bist gut; ich danke dir, du bist immer gut gewesen.

Zu Hause sah Stephan die Großmutter immer mit einem Blick voll Dank an. Sie hatte er einst als Grundursache seines Zurückbleibens in Noth angesehen, und nun war sie ihm zum Schutze vor viel gräßlicherem Elend geworden.

Nach wenigen Tagen wurde der Lehrer wiederum frei; aber er erkannte nun aufs Neue, daß seine kärgliche Stellung untergraben sei, und auch er beschloß gemeinsam mit Stephan auszuwandern.

Stephan aber sollte noch vorher eine schwere Buße und Sühne erleiden für das böse Sinnen, das früher in seinem Herzen aufgeschossen war.

Eines Tages schlug er auf dem Speicher losgewordene Bretter fest. Ehedem hatte er unbekümmert das Unordentliche und Zerfallende mit ansehen können: ein Dachladen konnte sich kaum noch mühselig in einer Angel halten, man konnte hundertmal über die lockeren Bretter stolpern – jetzt aber schlug er da und dort Alles fest, er wollte auch sein Haus sauber und geordnet zusammenhalten, seitdem er begonnen hatte sich selber in seinem Denken und Thun fest zusammen zu nehmen. Die Großmutter saß auf den Stufen der Treppe, die zum Speicher führte, und spielte mit der Katze. Plötzlich ward ein durchdringender Schrei vernehmbar, die Großmutter stürzte jählings herab. Stephan eilte herbei, und stand oben an der Treppe mit dem Hammer. Mehrere Nachbarn waren herzugeeilt, sie umstanden die Herabgestürzte, die in schwerem Röcheln auf der Steinplatte lag.

Todtenbleich starrte Stephan auf die Leblose: da war nun endlich, was er ehedem verborgen in der Seele so oft gewünscht hatte. Ein tiefer Schreck ergriff ihn, als hätte sein Wünschen das vollführt. Er wollte die Anwesenden entfernen und rannte wie von Sinnen umher, er wußte nicht, was er thun sollte. Da kam der Landjäger, und Stephan mußte mit in das Verhör.

Was er tief im geheimsten Winkel seiner Seele verborgen und ausgekämpft hatte, was er glaubte, daß nie eine sterbliche Seele ahnen könne – es lag so im Sinne Aller, daß man alsbald eine Anklage darauf stützte.

Denn er war beschuldigt: die Großmutter mit dem Hammer herabgestürzt und getödtet zu haben.

Der von Gewissensbissen heimgetriebene Herzog Lumbus, der sich freiwillig der Todesstrafe ausgeliefert, hatte solchem Verdacht in den Herzen der Nachbarn leicht Raum gegeben.

Und doch hätten sie bedenken sollen, daß gerade dieses grausenhafte Ereigniß Jeden abschrecken mußte von einem solchen Verbrechen.

Wie empfand jetzt Stephan aufs Neue all' den Schauder seiner früheren Mordgedanken. Da lagen sie nun offen vor den Augen des Richters, als fluchwürdige vollendete That. Er konnte und wollte nicht läugnen, was ehedem seine Seele belastet hatte; mußte aber das nicht seine Schuld als offenkundig und erwiesen darstellen?

Margret, entschlossen wie sie war, hatte ihren Mann, als er von dem Landjäger abgeführt wurde, nur mit einem großen Blicke angesehen; dann griff sie rasch zu, und unterließ keinen Belebungsversuch an ihrer Mutter. Glücklicherweise gewann die Alte die Sprache wieder, und jetzt, wie das so oft geschieht, in der Stunde vor dem Tode, erlangte sie die volle Kraft des Geistes und erzählte, daß sie habe die Katze haschen wollen, von ihr aber hinabgerissen und auf den Boden gestürzt sei. Noch am nämlichen Abend, ehe sie verschied, ward Stephan freigelassen.

Als die Großmutter begraben wurde, stand er weinend an der offenen Grube: es waren die letzten Thränen, die er auf heimischem Boden weinte; denn mit unerschütterlicher Ruhe bereitete und vollführte er seine Auswanderung. Er war stark geworden im Kampfe mit sich und der Welt.

Er war aus der schwersten Versuchung errettet worden, hatte in harten Prüfungen sich selbst und die Seinigen kennen gelernt, und war nun einzig mit sich und den Seinigen. Mit verjüngtem Muth konnte er dem neuen Leben entgegen steuern.

Der Lehrer und Stephan hatten nun noch ein neues Band, das sie vereinigte: sie hatten nun auch noch das vaterländische Gefängniß kennen gelernt. Stephan hatte den Auswanderungsplan fort und fort in sich getragen, aber nur ähnlich wie er an jenem Abend, da wir ihn zuerst kennen lernten, aß, weil er sich's einmal vorgenommen hatte, und ohne etwas davon zu schmecken; jetzt kam ein neues Reizmittel hinzu, er hatte eine öffentliche Buße erfahren für einen Kampf in seinem Herzen.

Stephan und der Lehrer mit ihren beiderseitigen Familien gehörten zu den Ersten, die, von dem rasch gegründeten Schutzvereine für Auswanderer unterstützt, nach Amerika auswanderten.

Von der Heimath bis zu ihrem Bestimmungsorte wurden sie aus einer guten Hand in die andere gegeben, und oft gedenken sie stillsegnend derer, die ohne Eigennutz, aus reiner Menschenliebe, ihnen den traurigen Weg der Auswanderung ebneten.

Das jüngste Kind Stephans, welches den Namen der Großmutter trägt, lernte in der That erst auf amerikanischem Boden laufen, und er liebt es, das Kind Großmutter zu nennen und dabei der Verstorbenen zu gedenken.

Neuer deutscher Briefsteller.

Brief des schwäbischen Bäckergesellen Anton Händle
aus Berlin, im Juni 1847.

... Und jetzt freut's mich erst rechtschaffen, lieber Bruder, daß ich hierher gekommen und noch da bin; ich hab' das Schönste und auch das Traurigste mit erlebt. Hab' ich dir's aber nicht schon vor zwei Jahren gesagt: hier in Berlin summt's und surrt's wie in einem Bienenstock, der stoßen will? Jetzt haben sie den jungen Bienenstock drinnen im weißen Saal im Schloß; es ist ein Beobachtungsstock wie der Pfarrer daheim einen hat, es ist nur eine Haube von Strohgeflecht darüber gestülpt, drinnen aber ist er von durchsichtigem geschliffenen Glas, daß man sehen kann, was das Volk macht und treibt. – Nicht wahr, ich könnt' mich für einen Propheten ausgeben, weil ich's vorher gesagt hab'? Es ist aber nichts mit dem Prophezeien. Wenn man die Augen und das Herz weit aufmacht und merkt, was Alle denken und wollen, da kann man leicht sagen, was kommen muß: denn was Alle denken und wollen, das muß kommen, bieg's oder brech's.

Ja lieber Bruder, da fällt' mir ein, daß du meinen Brief dem Gevattersmann übergeben hast, und der hat ihn vor aller Welt drucken lassen. Anfangs bin ich blitzmäßig erschrocken und hernach hat mich's gewurmt, und ich hab' mich geschämt wieder unter meine Kameraden zu gehen, weil die jetzt Alle wissen, was ich denk' und wie mir's um's Herz ist. Es war mir, wie wenn ich nicht mehr bei mir selber daheim wär', wie wenn jetzt alle Leut' bei mir aus- und eingingen und ich bin gar nicht mehr allein. Ich hab' mich aber wieder besonnen und will's festhalten: was liegt daran, wenn sie dich jetzt auch ein bisle ausspötteln? In fünfzig, sechzig Jahren ist nichts mehr von dir da und da ist's All eins; wenn du nur ein ehrlicher Kerl gewesen bist. Wenn man gradaus, aufrichtig und wahr ist, kann man vergnügt sein, sei man allein oder unter Menschen; alles Andere ist nichts.

Wenn ich's aber doch nur vorher gewußt hätte, daß alle meine Worte in die weite Welt kommen, ich meine ich hätte Manches besser oder doch ordentlicher gesagt. So ist mir's aber auch vorigen Winter gegangen: da hab' ich mich im Gesellen-Verein hinaufgestellt und hab' den Preußen gesagt, wie es nicht wahr sei, daß wir daheim einen Haß und Zorn auf sie hätten; die Backen haben mir gebrannt, und es war mir wie wenn der Athem der Zuhörer mir wie warme Sonnenstrahlen ins Herz fließe. Wie ich hernach heruntergestiegen bin und Alles hat gejubelt und hat mir die Hand gedrückt und der schwarzbärtige Kamerad aus Danzig hat mir einen Kuß gegeben, da ist mir's bei alledem doch gewesen, als wenn ich mein Sach' nicht recht gesagt hätt'; ich wäre gern noch einmal hinauf, aber ich hab's fein bleiben lassen. Draußen ist das Wort und das holt man mit zehn Gäul' nicht mehr ein.

So ist mir's auch mit dem Brief gegangen. Da und dort möchte ich gern noch Manches zusetzen; aber wer kümmert sich um den vorjährigen Schnee, wenn die Sommersonne da ist? Und jetzt redet man nichts mehr von alten Sachen, da gilt nichts mehr vor der einzigen großen.

So geht's, jetzt bin ich schon so keck, daß ich dir einen Brief schreibe, von dem ich weiß, daß der Gevattersmann davon drucken läßt. Ja, sag's ihm nur, er soll's von Haus zu Haus verkünden, daß wir Deutsche erst jetzt recht anfangen tapfer und tüchtig zu werden, und daß die Preußen vorne dran stehen.

Und wie ich jetzt so in die Welt hinaus rede, da ist mir's, wie wenn mir alle Menschen denken helfen und ich weiß nicht mehr wer ich bin und Alles ist bei mir.

Freilich will mir das Herz klopfen, weil ich jetzt zu Allen rede, die deutsch lesen können; aber ich denk' wieder: hat ja der König geredet, was ihm in den Sinn gekommen ist, und hat's nachher noch Wort für Wort drucken lassen, und reden ja die Abgeordneten frei von der Leber weg – nun so meinetwegen, so darf ich's auch und brauch' mich nicht zu schämen und zu fürchten. Kommt auch etwas krumm heraus, es geht nicht Alles gerad' auf der Welt. Die Oeffentlichkeit ist die Hauptsach', und das ist auch das Beste an der preußischen Verfassung. Hapert's auch sonst noch an allen Ecken und Enden, es muß besser werden. Mir ist's jetzt, als müßte jeder Deutsche seine beiden Herzkammern zu öffentlichen Kammern machen und es drin landtagen lassen.

So ist's, lieber Bruder! Ich meine aber damit nicht bloß dich, mit dem ich Einen Vater und Eine Mutter habe, nein, ich meine dich, lieber Bruder, der du ein deutsches Herz im Leib hast.

Du erinnerst dich noch an meinen früheren Brief, daß ich mir unsere würtembergische Verfassung angeschafft und eifrig darin gelesen habe. Jetzt bin ich auch noch mit mehreren Landsleuten, mit Studirenden hier bekannt worden, und wir sind gut Freund, und die haben mit mir und noch andern die Geschichte unserer Verfassung gelesen, und alle die Händel, die gewesen sind, bis ein richtiger Vertrag zu Stande gekommen ist. Wie nun die hiesige Verfassung oder wie man's hier heißt: das Patent herausgekommen ist, da waren wir alle fuchsteufelswild; wir haben's als eine Beleidigung und als einen Spott angesehen. Das macht sich aber jetzt anders, seitdem die Oeffentlichkeit da ist und die Landstände keinen Heller Geld geben, bis sie ihr Recht haben,

Ich habe schon bei unterschiedlichen Meistern gearbeitet. Da war besonders ein wunderlicher Heiliger, der hat uns, wie wir bei ihm angetreten sind, eine meisterlich fromme Rede gehalten, wie er's haben will, wie Alles nach seinem Sinn gehen muß, wie er kein Haarbreit davon nachlassen will, weil er früher selber das Geschäft allein gemacht hat; hernach war er aber doch müd' vom Marktlaufen u. s. w., und hat sich schlafen gelegt und da haben wir Gesellen Mehl eingethan, gefeuert und gebacken, wie's recht gewesen ist, und wie das Brod fertig war, hat er's nicht mehr zu Mehl machen können.

Bruderherz! Es ist doch prächtig, was es für Männer in der Welt giebt, so Kernmenschen durch und durch, und vielleicht giebt's noch mehr und man weiß nur nichts von ihnen. Das macht einem die Augen hell, wenn man so in das Gewusel und Getreibe hineinsieht.

Ich sag's und bleibe dabei: wer einen rechtschaffenen Menschen gern hat, in dem steckt selbst so Einer, wenn er ihn auch nicht so herauslassen kann, und er hilft ihm durch das Gernhaben und will auch so werden. Ich bin jetzt viel zufriedener, weil ich wieder neue Menschen habe, die ich so grundmäßig gern haben kann.

Ja, und das freut mich noch überaus: wenn nun so ein Einziger glauben will, er habe allein allen Verstand gefressen, oder die studirten Beamten meinen, nur sie wüßten wo Bartel den Most holt, da kann man ihnen sagen: denkt an Den und Den, da drin im weißen Saal, und so giebt's noch tapfere Männer überall in Deutschland. Da ruft Einem eine Stimme von innen zu: »Frisch auf« oder »Gut Heil« wie man jetzt sagt.

Sie haben dir hier ein Wahlgesetz zum Davonlaufen: da muß einer zehn Jahre Grundbesitz haben, da gieb'ts noch besondere Stände, von denen man sonst nichts mehr weiß: vielerlei Sorten von Adel, Bürger und Bauern. Darum eben haben wir gezittert, es könnte schief gehen. – Es freut Einen, wenn's besser geht, als man geglaubt hat, es kommt selten vor.

Ich weiß nicht, ich habe jetzt gar keinen Schlaf mehr, seitdem der Landtag hier ist. Sonst hab' ich mich in aller Gemüthsruhe zu Mittag niedergelegt und dann – gut Nacht Berlin! Jetzt schlafe ich viel weniger, und es freut mich daß wir das Brod dahin liefern, wo die Freisinnigen essen, und ich möchte ihnen allemal ein »gesegn' es Gott« hineinkneten und hineinsalzen.

Die Zeitung kostet mich jetzt viel Zeit, und ich kann sie doch nicht ganz lesen. Wenn man nur auch so zuhören könnte, wie bei uns daheim. Froh bin ich manchmal, daß ich nicht Abgeordneter bin. Mir wär's katzenmäuslesangst, wenn ich über etwas abstimmen müßte, was ich doch nicht so recht versteh'. Laß es aber nur einmal 15-20 Jahre überall in Deutschland landtagen, da wird man viel lernen man weiß nicht wie: das ist die beste Schule.

Einen hitzigen Zorn krieg' ich allemal auf den Mann, der immer schreit: wir wollen machen, daß wir heimkommen; und da giebt es auch noch viele Tölpel, die schreien: der Landtag kostet Geld. Man darf wohl jedes Jahr ein paar Monate den Staat in die Cur nehmen, an dem so viel Angestellte immerfort herumdoctern. Und was kosten denn die? und wie viel Millionen kostet das Soldäterles?

Noch eins verdrießt mich, wenn sich jetzt hier Manche so auf den hohen Gaul setzen und sagen: seht ihr's, das Landtagen in den kleinen Ländern bei euch, das war doch nur den Mäusen gepfiffen. Nein und noch einmal nein, ohne uns wären die Preußen nicht so weit, wie sie sind. Was können die Schwaben, Sachsen, Hessen und Bayern dafür, daß sie in einem kleinen Lande sind und nicht durchführen können, wie sie möchten? Hoch in Ehren muß man sie halten. – Wie herrlich wär's, wenn sie einmal Alle bei einander sitzen könnten in Einer deutschen Kammer!

Ich kenne meine Leute hier oft gar nicht mehr, die sind dir wie ausgewechselt. Das war dir ein Jammer und ein Elend, wie so Viele nicht gewußt haben, wo aus und ein.

Besonders gekränkt hat's mich, daß so Viele, die ich gern haben muß, gesagt haben: was Verfassung? Was landständische Freiheit und Recht? Brod, Brod müssen die Menschen haben; alles Andere ist nicht mehr werth als ein ausgerissener Knopf. Ich habe ihnen Recht geben müssen, und doch hat mich's gewurmt: denn die Ehre und Freiheit ist doch auch was. Aber wahr bleibt's, zuerst muß man zu leben haben. Jetzt aber hat sich's beim Landtag bewiesen, daß ohne die Mithülfe Aller dem Elend nicht beizukommen ist; zu diesem Loch muß die Sache hinaus. In Allem muß das Land das Recht haben für sich selber zu sorgen. Die Bürger müssen durch ihre Abgeordneten Alles einrichten, da sind sie dann bei einander und müssen auf Alles Acht haben. Wie will man's denn anders machen? Die Einkommensteuer, die sie ungeschickter Weise nicht eingeführt haben, das wird der Anfang sein, die Armen zu erleichtern. Und dann muß erst aufs Neue geholfen werden.

Ja, lieber Bruder, gerade weil ich jetzt so glücklich bin – ich will dir ein andermal schreiben warum, und der Gevattersmann darf's nicht ausplaudern – gerade darum schneidet mir die Noth der Menschen tief in die Seele. Ich schäme mich oft, wenn ich satt und vergnügt bin, wie wenn ich's gestohlen hätte.

Ich habe hier den Hungeraufruhr mitgemacht ...

Ich habe gar nicht gewußt, daß es so jämmerlich klingt, wenn man: Brod, Brod! ruft, und das klagende Gethue der Weiber und der Kinder, es will mir gar nicht aus dem Sinn. Unsere Bäckerei ist verschont geblieben, aber gerade um die Ecke sind Zwei ausgeplündert worden. Wie wir nun den Abend Alles fest geschlossen haben, wie wir so in der Stube beisammen sitzen und draußen von ferne tobt's wie das wilde Heer: da waren wir Alle stumm, als wenn uns ein böser Geist die Kehle zuschnürte. Der Meister hat, die Hände auf dem Rücken, am Fenster gestanden, und die älteste Tochter hat bei der kleinsten Schwester gesessen und bitterlich geschluchzt, und mir ist's gewesen, wie wenn mir alle Gedanken aus dem Kopf genommen wären. Wie jetzt die Meisterstochter laut aufweint, da bin ich dir aufgesprungen, wie aus dem Schlaf geweckt: ich habe fortgewollt, helfen, ich weiß nicht was, ich weiß nicht wie. Sie haben mich gehalten, Alle, und Keins hat ein Wort geredet. So müssen Geister stumm mit einander ringen. Jetzt hab' ich wieder auf meinem Stuhl gesessen und alle meine Glieder waren mir wie zerschlagen, und ich habe eben auch laut aufheulen müssen. Ich schäme mich nicht und gestehe es offen. Wie tief im Elend müssen die Menschen da draußen stecken, daß sie's so weit treiben! Es ist gewiß auch viel lärmsüchtiges Gesindel darunter; aber wie viele Hunderte sind bisher bloß arm gewesen, sie bleiben arm, und werden jetzt noch – Verbrecher. Das brennt sich ein, unauslöschlich für das ganze Leben. So lange ringen und kämpfen, und um eine einzige That auf ewig gebrandmarkt werden: das ist schrecklich! In dieser Minute habe ich die Qualen der Kerkerjahre mit all den Unglücklichen durchgemacht. Aber ich sage dir's, in dieser Stunde bin ich ein anderer Mensch geworden, ich gönne mir nichts mehr, ohne daß ich an Andere denke und ihnen helfe so viel ich kann; und mein Glück kommt auch erst neu von dieser Stunde. – Das gehört aber auf ein ander Blatt. Kannst du dir aber denken, wie zwei Menschen sich mitten im Elend erst recht finden und kennen lernen? Gerade wie wir so überselig geworden sind und das Höchste bekommen haben, gerade da haben wir erst recht eingesehen, wie wir für das Vaterland und die Menschheit zu wirken haben.

Ich habe das Letzte da eben durchgelesen und will's wieder ausstreichen, ich lass' es aber doch stehen.

Mein Meister war bisher auch immer mildthätig, aber wie ich meine, hat er es jetzt doch noch besser eingerichtet. Er verzettelt seine Gaben nicht mehr, er hat sich eine dürftige Familie ausgesucht, und diese versorgt er echt menschenfreundlich mit Arbeit und Brod, und ich und noch Jemand haben auch unsern Anhang. Das, meine ich, wäre das Beste, wenn man seine Gaben nicht so hinausschmeißt und weiter nicht dran denkt, wo sie hinfallen. Es wäre besser, wenn Jeder, der's vermag, außer seinen armen Verwandten, denen er beistehen muß, sich, wie man sagt, wildfremde Menschen aufsuchte, und ihr ganzes Leben nach Kräften ordnete und an der Hand hielte; kommt dann noch die großartige Fürsorge der Gemeinde und des Staats hinzu; dann will ich einmal sehen, ob es nicht anders wird.

Ja, Bruder, das vergangene Jahr war ein großes Lehrjahr in jeder Weise.

Ich bin jetzt drauf und dran ein Preuße zu werden und will mich als Meister setzen. Es wird mir zwar schwer, daß ich ein Preuße heißen soll: aber das Wort Preußen ist ja auch nicht ewig.

Ich spür's schon, daß ich fast auch so etwas von dem Großstaaten-Stolze kriege, aber Preußen steht jetzt einmal vorn dran. Brauchst dich nicht zu ängstigen, daß ich Landstand werde; ich komme nicht hoch genug in die Steuer, und wenn ich mir auch ein Gütchen kaufen könnte, müßte ich doch noch warten auf den zehnjährigen Grundbesitz, bis ich graue Haare habe.

Bruder, gestern war ich draußen im freien Feld; der beste Freund kann's der hiesigen Gegend nicht nachsagen, daß sie schön sei, aber es war doch schön. Die Felder stehen alle im reichsten Segen, und im Herzen habe ich gejauchzt und eine Stimme in mir hat gerufen: das Korn blüht! Noch ist es grün, aber die freie Sonne zeitigt's zur vollen Sättigung für Alle, die da hungern. Und da ist mir der Landtag eingefallen, da hab' ich gedacht: das Korn blüht auch dort! Dort ist die wogende Saat; noch ist sie grün, aber sie wird und muß reif werden, und wir wollen auch das Unsrige thun: du mußt sie schneiden und dreschen und der andere Bruder muß sie mahlen und ich will sie verbacken. Dein getreuer Bruder

Anton Händle.

Nachschrift.
Ende Juni.

Ein Hagelwetter hat in die grüne Saat geschlagen, die vollen Aehren liegen nieder und wollen ersticken. Der Landtag ist aus, und nicht einmal das, daß er zur bestimmten Zeit wiederkehren darf, ist bewilligt worden. Jedes Jahr kommt Frühling und Sommer, das hat Gott als festes Gesetz so in die Natur gelegt, und Er hat sich's nicht vorbehalten, daß Er's machen will, wie's ihm einfällt. O! Bruder, was wird nun geschehen, und was haben wir zu thun?

Frag- und Antworttafel.

Die Frage, mit welcher der vorstehende Brief schließt, das ist jetzt eigentlich die einzige, die sich jeder deutsche Mann stellen muß; wer weiß augenblicklich die rechte Antwort und wer darf sie aussprechen, wenn er sie weiß?

Nachmärzliches,

oder
drei Säcke und ein vierter und der ist der größte.

Mit der Frage da oben schloß der Kalender, der zu Neujahr 1848 erschien, Jedermann weiß, was seitdem geschehen ist, wenn er sich nicht mit Gewalt zwingen will, es zu vergessen oder zu verleugnen. Die Frage da oben – die zuerst im Juni 1847 öffentlich gestellt wurde – ist kein Prophetenstücklein. Damals folgte bald eine Zeit in der man hoffen durfte, daß das lebendige Wort das geschriebene ersetzen würde, und der Gevattersmann hat, so schwer es ihm auch wurde, sein Theil davon angesprochen und ausgesprochen, und hier stehe nun eine Geschichte, für die er Tausende zu Zeugen anrufen könnte, die sie von ihm gehört als Warnungsruf, und die leider doch zur Wahrheit geworden ist.

Ich will euch – sprach damals der Gevattersmann – nicht in den Sack hineinreden, und nur euch zeigen, welcherlei Säcke es gegeben hat, und welcher noch alle übertrifft:

Es gab eine Zeit, und sie war noch gestern, da hieß es: nur der darf mitreden, nur der hat ein Recht in bürgerlichen Angelegenheiten das Wort zu ergreifen, wer studirt hat. Alle unstudirten Menschen haben nichts als beschränkten Unterthanenverstand, haben keine Geltung, müssen kuschen und sich gnädig regieren lassen. Das war die Zeit als da herrschte: der gelehrte Schulsack.

Es gab eine Zeit, und sie war noch gestern, da hieß es: nur der hat ein Recht sich in die öffentlichen Angelegenheiten zu mischen, seine Stimme abzugeben und eine Geltung zu behaupten, wer viel Geld hat; und sei ein Anderer noch so weise und einsichtig, noch so sehr mit seiner Thätigkeit betheiligt an dem öffentlichen Wohl und Wehe, er darf nicht dreinreden, er ist rechtlos weil machtlos. Das war die Zeit als da herrschte: der Geldsack.

Und diese beiden Säcke stritten miteinander, und der eine suchte den andern unterzukriegen bis auf den gestrigen Tag.

Es ist eine Zeit, und sie ist heute, und da heißt es: wer etwas gelernt hat, wer die Dinge zu beurtheilen weiß aus Vergangenheit und Gegenwart, der gilt nun nichts mehr – eben weil er etwas gelernt hat. Die Unwissenheit und Einfalt allein ist weise. Und andererseits: wer etwas besitzt, wer durch Geld und Gut besonders betheiligt ist beim allgemeinen Wohl, der darf jetzt nichts mehr gelten – eben weil er Geld und Gut hat. Unwissenheit und Besitzlosigkeit allein ist fortan berechtigt. Das ist die Zeit in der da herrschen will – der Bettelsack.

Wird er Einsicht annehmen und erkennen, daß Wissenschaft und Reichthum wahlberechtigt sind in der Ordnung der menschlichen Dinge? Oder wird er im Uebermuthe gleich jenen Beiden allein herrschen wollen? Wird er das? Nun –

Es giebt eine Zeit, und sie ist morgen, und da kommt ein Anderes, bewehrt mit Schwert und Kugel, und es wird alle drei Streitenden einthun und sich allein gelten lassen, und das ist der größte von allen Säcken: des Soldaten sein Schnappsack.

Briefwechsel zweier Brüder.

I.

Hans an Ernst.
Harthausen am 20. April 1855.

Lieber Bruder Ernst!

Gestern, als ich von der Kirchweih in Hirlingen nach meinem Hof heimritt, hab' ich deiner gedacht. Summt mir unterwegs ein lustiger Walzer im Kopf, und die Musik ist doch schon lange fern und verklungen, und die Musikanten liegen auf dem Ohr und schlafen ihren Rausch aus. Ja, und da hab' ich dein gedacht. Der Marsch vom achtundvierziger Jahre summt dir noch immer im Kopf, aber er ist schon lang vorbei und abgespielt, und die Musikanten liegen auf dem Ohr oder blasen Trübsal im Kerker und in der Fremde. Im europäischen Concert geben nur noch ein paar Capellmeister den Tact an mit dem Stock. Wie kannst du nur noch immer glauben, es habe in der Welt etwas zu bedeuten, was Der und Jener denkt, was du und ich und mein Nachbar Hinz und mein Gevatter Michel wünschen und möchten und hoffen; der Weltlauf fragt nichts darnach, die großen Herren spielen jetzt das Stück Weltgeschichte, in das wir eingepfercht sind, und ich meine oft: es ist gut so. Was die Menschen oben auf der Höhe denken, das ist wichtig und entscheidend; was dem gemeinen Soldaten unter der Pickelhaube sitzt, ist ganz gleichgültig: er muß marschiren und pariren. Das hättet ihr ihm auch nicht ersparen können. Der Generalstab besteht aus wenigen tüchtigen Führern, die machen Alles und haben tausend und abertausend von Händen und Füßen. Ihr Herren von der Feder solltet darauf ausgehen, auf die Feldherren und ihre Schlachtenplane Einfluß zu gewinnen.

Ich niese gerade, und das ist ein Zeichen daß ich die Wahrheit schreibe. Ihr habt ein Sprüchwort wahr gemacht, das ich von meinem Futterschneider gehört habe, und das heißt: der Fisch springt aus der Pfanne und fällt in die Kohlen. Laß dich lieber braten, guter Fisch, dann hat man doch etwas von dir. Mein Futterschneider ist überhaupt ein großer Politiker und hat allerlei seltsame Gedanken. Ich gebe dir's als Räthsel auf, damit deine Weisheit erforsche, warum in der Regel die Futterschneider so eigenthümliche Menschen sind; es steckt was dahinter.

Jetzt will ich aber wieder auf die Landstraße fahren und dich daran erinnern, was unser Vater selig im Jahr 1848 immer gesagt hat: bei den Demokraten gefallen mir die Grundsätze, aber nicht die Personen, und bei den Conservativen gefallen mir die Personen, aber nicht die Grundsätze; drum kann ich bei keiner Partei mitthun.

Freilich sind jetzt diese Parteibenennungen nichts mehr als ausgespielte Loose. Es kann Keines dem Andern Vorwürfe machen. Es ist Eins, wenn der Krug zerbrochen, ob der Krug auf den Stein oder der Stein auf den Krug gefallen ist.

Die einzigen, die jetzt noch in Schriften und Versammlungen wirklich an allen Ecken durchdringen, sind die Pietisten; und die haben Mittel, die ihr nie haben könnt und dürft.

Ihr mit eurer Volksliebe und eurer Volksbildung seid langmüthig wie ein Leineweber, dem alle Minuten der Faden reißt; aber ich sage dir: die große Masse, das da was ihr aufputzen möchtet wie eine Puppe, ist nichts nutz, ist nicht werth, daß sich ein ehrlicher Mensch darum einen Finger krumm macht. Ihr kriegt Gestank für Dank. Wer recht auf ihnen herumtrampelt, der ist ihnen am liebsten, vor dem haben sie den meisten Respect. Versuch's nur einmal, geh hinaus und zeig' dein gutes Herz, und sie lachen dich hinterrücks aus. Sei noch so hülfreich und ohne Stolz, laß Einen kommen mit dem kleinsten Titel, und er gilt mehr als du mit aller deiner Menschenliebe. Wer vor den Menschen Respect hat, vor dem haben sie keinen. Das steht bombenfest, wie unser Förster sagt.

Ihr wollt der großen Masse Einsicht geben, aber sie will sie nicht und braucht sie eigentlich auch nicht. Nicht alle Menschen die auf die Uhr sehen, brauchen zu wissen wie eine Uhr beschaffen ist, wie das Räderwerk ineinander lauft. Die Hauptsache ist: daß man wisse, welche Stunde es ist und mit der Zeit auf dem Fleck bereit sei.

Ihr wollt alle Menschen in Uhrmacher verwandeln.

Es ist gut, daß du meinem Brief nicht davon laufen kannst; du mußt auch einmal eine Predigt hören, du und Alle mit dir. Ihr seid Nichts als der Trumpf-Unter; Trumpf-Sau sticht Alle. Ihr wollt das Volk belehren, und ihr wißt nicht, daß das Volk gar nicht belehrt sein will; es geht an euch vorüber und sieht und hört euch nicht, und wenn auch, so lacht es euch nur aus, und denkt bei sich: »der dumme Kerl! könnte auch seine Lunge sparen.« Höchstenfalls denkt Einer oder der Andere: »der Mensch dauert mich, daß er sich fruchtlos in Ungelegenheiten bringt.« – Ihr wollt den Leuten Brillen aufsetzen, aber sie wollen Nichts als essen und trinken und viel essen und noch mehr trinken, und dazu, denken sie, braucht man keine Brille. Du guckst ja auch immer mit deinen vier Augen übers Glas weg, wenn du einen guten Zug thust. Und mit einem Wort, laß dir etwas ins Ohr sagen: Volk! Volk! der Gedanke Volk ist Nichts als ein Aberglaube, ein neuer Götze, den ihr euch gemacht habt. Es giebt gar kein Volk, es giebt nur dumme und gescheidte Menschen. Und damit Punctum. Drum glaub' mir, du vergrämst dir mit deiner Weltverbesserung unnütz dein Leben. Laß dir von unserer Mutter ihr Sprüchwort sagen: Ein Narr wirft einen Stein schneller in einen Brunnen, als ihn zehn Weise wieder herauskriegen. Merk' dir das, und du hast alle Vernunft in Einem Wurf. Du willst in einzelnen Pfennigen einbringen, was in Millionen zum Fenster hinausgeschüttet wird? Du willst den Leuten da und dort einen guten Grundsatz einpflanzen, einen Gedanken aufhellen, willst aus deiner gedruckten Baumschule ein Stämmchen setzen, und ein Gärtchen am Haus und am Weg anlegen und – schau einmal um: der große Staatssturm reißt in einer Stunde ganze Wälder von tausendjährigen Moraleichen zusammen und eure singenden Gefühlsnester mit.

Quacksalbern und Medikastern ist verboten, aber an einem ganzen Volk herumquacksalbern, das erlaubt sich Jeder; aber meine Bauern schütten in der Regel die Medicin zum Fenster hinaus, und reden dem Doctor vor, sie hätten sie eingenommen.

Sieh dich um, wie man dem Volke den letzten guten Saft durch Brechmittel aus dem Beutel, aus dem Magen und aus der Seele herausholt, und – glaubst du, daß ihr mit euren kleinen Hausmittelchen helfen könnet? Alle eure Hausmittel sind nichts nutz, und die Kanzleiheiligen haben Recht, wenn sie das Volk so kurz anbinden, daß es sich zuletzt nicht mehr anders helfen kann, als es muß Streusand fressen und Tinte saufen; ist auch kein' üble Nahrung wenn man's nur gewohnt, und wer nicht dabei draufgeht, wird's schon vertragen lernen.

Die Chinesen, über die man so viel gelacht hat, sind doch die einzig natürlichen und offenherzigen Staatsweisen. Ich hab' einmal gelesen, daß dort von Regierungswegen bestimmt ist, genau wie viel Loth Speise jeder Mensch jeden Tag zu sich nehmen darf. Der Hausvater muß bei Prügelstrafe Jedem sein Zukömmliches zuwägen, und dazu hat er eine Waage, die jeden Monat von dem Beamten geprobt und frisch gestempelt wird. Aller Ueberschuß gehört dem Herrscher. Nun sage: ist das nicht das eigentliche Paradies, das die Herren Communisten sich herbeiwünschten? Könnten sie das nicht viel einfacher von einem despotischen Staat haben? Weißt du keinen Cameralisten, der die Welt mit geaichten Magen und gestempelten Löffeln beglücken könnte?

So lange ihr das nicht habt, könnt ihr der Welt nicht helfen.

Was ist denn eure Hoffnung und Vertröstung? In Frankfurt am Main haben sie ein Sprüchwort: es gewinnt Jeder einmal das große Loos, aber es erlebt's nur nicht Jeder. Nach der Berechnung muß jedes Loos einmal in so und so viel hundert Jahren den großen Treffer machen, aber Bruderherz! kannst du darauf warten und willst du dein blinkendes baar Geld, heißt das, deine hellen, gemessenen Lebenstage dafür einsetzen? Mein alter Futterschneider hat vorletzt ein altes Lied gesungen, das paßt ganz auf euch, ich kann dir den Text schicken, wenn du willst, aber der Inhalt ist unverändert so:

»Mutter, Mutter, es hungert mich,
Gieb mir Brod, sonst stirb ich.«
»Warte nur, mein liebes Kind.
Morgen wollen wir säen.«

Als es nun gesäet war, kommt der Trost: morgen wollen wir schneiden. Nach dem Schneiden: morgen wollen wir dreschen. Nach dem Dreschen: morgen wollen wir mahlen. Und als es nun gemahlen war: morgen wollen wir backen.

»Als es nun gebacken war,
Das Kind lag auf der Todtenbahr!«

Die Gegenwart ist das hungernde Kind, und ihr vertröstet's immer weiter hinaus bis es stirbt. Der Welt kannst du nicht helfen, aber dir selbst; laß dein eigenes Verlangen nach Lebensglück nicht Hungers sterben. Jeder ist zuerst für sich auf der Welt, und es giebt ihm Keiner was heraus, wenn er seine Tage verspielt oder meinetwegen vergrämt hat, denn das ist Eins. Willst du was für Andre thun, so läßt sich's nur von oben machen, nicht von unten. Ich kann dir ein Beispiel aus meiner nächsten Erfahrung geben. Die Creditlosigkeit nimmt bei uns auf dem Lande schauderhaft überhand, alles Geld läuft den Staatspapieren zu, und Tausende von Menschen, die noch im Lande leben, sind eigentlich schon ausgewandert; denn sie haben ihr Geld in amerikanischen Papieren angelegt. Was ist nun zu thun? Wuchergesetze sind nichts als Quacksalberei, und wo kein Doctor mehr hilft, laufen die Gescheidtesten zum Schinder. – Wir brauchen nothwendig eine Hypothekenbank. Die Adeligen haben eine für sich gemacht, aber der Mittelmann und der kleine Bauer hat keine Hülfe. Sie können sich nicht zusammenthun und ihre Pfandbriefe auch in guten Umlauf bringen. Wie kann da geholfen werden? Nur von oben. Drum sag' ich dir noch einmal: es nützt Nichts, wenn ihr wie Samenhändler mit eurem gedruckten Salatsamen hausiren geht. Die landwirthschaftlichen Bezirksstellen können das besser ausrichten, und da sind's wieder nur ein Paar Gescheidte, die die Sachen ausführen, und wenn's nicht anders geht, nur für sich allein. Ich sage dir also noch einmal: die Welt ist nicht wegen der großen Masse da; die sind da um die Gattung zu erhalten, damit der Herr der Schöpfung nicht aussterbe, und daß es immer Einzelne gebe, die große Geister und gewaltige Herren sind, und sich ihre 70 Jahre mit Zugabe vollauf wohl sein lassen und lustig durch die Welt fuhrwerken – und das beste Fuhrwerk ist Trinken, denn dabei geht's alleweil bergab wie unser Vetter Knirps sagt.

Ich bitt' dich also, lieber Bruder, vertrinke und verjuble deine Weltsangst, und du hast wohlgethan. Volkswohlfahrt und Menschenbeglückung, es ist alles Nichts als Schwindel und Flausenmacherei. Die Menschen werden, so lange die Welt steht, immer gleich glücklich und gleich unglücklich sein, wenn man's überhaupt und im großen Ganzen nimmt. Einzelnen geht's gut, wenn sie's verstehen sich's wohl sein zu lassen, und wenn sie fressen, derweil sie an der Krippe stehen. Freilich ist ein gutes Gewissen ein ganz nothwendiges Stück zum Wohlsein, und du kannst dir's zusprechen; du hast Niemand Uebles und für Andere mehr als deine Schuldigkeit gethan.

Drum sei jetzt zufrieden, schreie dich nicht mehr aus wie ein Märzenkalb, in Klagen und Ermahnungen. Ihr Märzenkälber seid jetzt siebenjährige, mehr als genug zu Mastochsen herangewachsen. Drum laß ab, Bruder, schirre dich aus; du wärest gerade das rechte Gespann für deinen Bruder

Hans,
genannt Bruder Lustig oder meinetwegen auch Großhans.

II.

Ernst an Hans.
Gräz in Steiermark im Mai 1855.

Also auf dem Heimweg vom Tanz hast du an mich gedacht, lieber Hans. Glaub' mir nur, ich lebe nicht so traurig als du dir's vorstellst. Der Tag ist so hell, wenn mir auch das Herz oft blutet, das Leben ist doch so reich, und wenn man nur gesund ist, giebt's gute Stunden genug. Ich gehöre nun einmal zu denen, die über erfahrnes Ungemach nicht so mit leichtem Sinn hinwegturnen können. Es hilft mir Nichts, wenn du mir sagst und ich selber mir sage: vorbei ist vorbei, jetzt vergiß Alles! und schau, es ist vielleicht minder als du dir einbildest – es hat keine Hast an mir, ich muß den Sachen auf den Grund gehen und erst dann komme ich davon los. Die ganze Welt macht's jetzt mit dem vorhandenen Elend wie jener Mann, dem sein Sohn sagt: »Vater, unser Gaul ist krank.« »Sei still!« antwortet der Vater, »red' nicht davon, dann vergißt er's!«

Ich kann mir nichts läugnen von dem was ich weiß. Ich habe nicht, wie so Viele jetzt thun, meine Vaterlandsliebe zur Ruhe gesetzt, und darum ist mir das Herz schwer. Das Einzige, was ich dabei thun oder eigentlich nur geschehen lassen kann, ist: daß ich mich nicht absperre gegen den Trost, den die Zeit mit sich bringt; daß ich Licht und Lust scheinen und klingen lasse in die Nacht meines Kummers. Und ich sage dir: auch das Versenken in das Unheil, in dem wir stehen, ist nicht lauter Schmerz, denn ich thue dagegen was in meiner Kraft steht, um noch zu nützen; und das macht mich zufrieden, wenn auch nicht froh. Freilich überfällt mich's oft in stiller Nacht wie namenlose Wehmuth, und ich möchte weinen, und tief in mir tönt eine Klage, daß ich nun auch dahinfahren muß, von der schönen Erde scheiden, und nicht sehen soll das Menschenheil, das ich mir dachte. Verzweiflung will dann über mich kommen, ob Menschenheil und Bruderliebe je wirklich sein werden, ob nicht Alles Trugbild, lächerliche Hoffnung unserer Eitelkeit sei. Da ringe ich dann in stiller Nacht mit den bösen Geistern der Verzweiflung, und ich kämpfe sie nieder.

Das Jahr 1848 war die Kugel, die wir schon so lange im Lauf hatten; wir haben losgeschossen und – haben gefehlt. Wir haben uns geirrt in dem wessen wir fähig sind, aber darum sind wir selber und ist unser ganzes Volk noch nicht verloren. Die Vereinigung von Stubengelehrten- und Kneipenweisheit hat Nichts zu Stande bringen können; aber es ist zu allen Zeiten so gewesen, daß es an der Einsicht Weniger nicht gefehlt hat, dagegen nur an dem Muthe folgerichtiger Handlungsweise. Schon der große Redner Demosthenes sprach zu den Athenern: »Meine Mitbürger zu überzeugen, was in dem gegebenen Falle das Beste für sie wäre, habe ich nie schwer gefunden: denn zur Noth wissen sie das selbst. Schwer aber habe ich's gefunden: sie zu bestimmen, daß sie auch danach handeln.«

Doch – du wirst wieder über meine Brille spotten, und darum will ich dir getreulich folgend antworten: sage deinem Futterschneider ein Sprüchwort, das er wohl nicht kennt, und das heißt: von unnützen Gängen ist der Wolf weise. Das gilt auch in der Weltgeschichte. Dein erster Vorwurf heißt in meinem Sinn: ihr habt Denken studirt, aber ihr müßt Gewalt studiren; und darin hast du Recht, aber anders als du meinst. Nicht: was soll sein? sondern: was ist, und was kann demzufolge werden? – das muß das erste Augenmerk sein. Aber es hat wohl etwas zu bedeuten, ja es kommt Alles darauf an, was die Menschen denken. Wenn jetzt auch dem Faß mit dem alten Wein der Boden ausgeschlagen ist, man wird den neuen doch wieder gehörig einkeltern und flaschenweise verzapfen müssen.

Du sagst, daß das Volk undankbar sei, und ich sage dir, das ist närrisch oder sündhaft oder eigentlich, da Beides meist Eins, Beides zugleich. Dank zu erwarten oder gar zu verlangen, dieses Ausschauen nach Belohnungen und Bestrafungen von außen ist noch ein alter Bodensatz, den wir nicht mehr kennen. Ist ein Volk irgend einem Einzelnen Dank schuldig? Wer sich fühlt als ein Glied des großen Gesammtkörpers und demgemäß wirkt, der hat weiter nichts als seine Pflicht oder, wenn du's so nennen willst, seine verdammte Schuldigkeit gethan. So wenig ein Glied eines Körpers von dem andern Dank verlangen kann oder von dem Ganzen, ebensowenig hat Einer, der für den Gesammtkörper seines Volkes arbeitet, einen Dank zu beanspruchen als eben den, den er in sich hat.

Der Hauptfehler in dem du stehst ist, wenn du es auch nicht deutlich sagst: die Volksverachtung. Aber wer sind wir denn, daß wir das Volk verachten dürfen?

Niemand hat das Recht, sich so hoch zu halten, daß er über seinem Volk oder gar über seiner Zeit stehe. Der Geist eines Volkes ist höher als der eines noch so großen Menschen, und was Jemand hat, hat er nur aus ihm. Die Völkergeschichte und der Geist, der in ihr waltet, ist größer als der Geist jedes noch so großen Genie's, denn er ist der Geist Gottes.

Das größtmöglichste Gute der größtmöglichsten Menge zuwenden, der Gesammtheit dienen: heißt Gott dienen; und der Lohn dieser Thaten liegt in den Thaten selbst. Das hat der tapfere Kämpfer Ulrich Hutten auch gewußt, wenn er von sich sagt:

»Daneben mich zu trösten
Mit gutem Gewissen hab',
Daß Keiner von den Bößten
Mir Ehr' mag brechen ab.
Ich hab's gewagt mit Sinnen,
Und trag' deß noch kein Reu;
Mag ich nicht dran gewinnen,
Noch muß man spüren Treu.«

Wer da wirkt und lässig wirkt bei dem ausbleibenden Erfolge: der ist ein Knecht der Welt; er wird verzagt und verdrossen, wenn er nicht durchdringt, sei es zur That oder zur Anerkennung. Wer aber wirkt um seine Pflicht gethan zu haben, der ist der Herr der Welt. Du sagst: das Volk wolle keine Belehrungen. Hast du vergessen jenen wahrhaft andächtigen Drang, mit dem Alles herbeiströmte, als es gestattet war im lebendigen Wort die Zahllosen über sich selbst und über die Welt zu belehren?

Wäre das Versammlungsrecht zu einem geregelten geworden, wären die wilden Wasser verlaufen, und Alles in ein regelmäßiges Bette gelenkt, wir hätten ein Gesammtleben der Bildung gewonnen, wie keine Zeit und Nation vor uns. Du sagst: wir seien langmüthig wie Leineweber; und freilich, ein Stück Tuch zerfasern ist leichter, als es weben. Es giebt Menschen, die bei jeder Versammlung, bei jedem Vereine gleich mit dem Ausspruch bei der Hand sind: wenn nicht so und so abgestimmt wird wie ich's für gut halte, so trete ich aus, und sie treten nach der Entscheidung der Mehrheit mit diesem oft eben so thörichten als frechen Ausspruch hervor. Sie wollen sich nicht unterwerfen, und verkriechen sich in den Schmollwinkel.

So sind jetzt auch Viele ausgetreten aus dem Wirken für das allgemeine Volkswohl, weil nicht das geworden ist, was sie gehofft und, wie ich glaube, mit Recht gehofft hatten; sie beschönigen ihre verdrossene Nichtstuerei mit der Ausrede: an meinem Wirken ist nichts gelegen! Aber eben so wenig als zu hoch darf sich Jemand zu nieder stellen. Jeder kann noch nützen und wirken, und Jeder muß es. Und wieder sagen Andere: ich spare mich auf für bessere Zeiten! oder auch: wir Alten sind abgethan, es müssen ganz neue Menschen dran kommen! Aber was ist jenes Aufsparen anders als falsche Vertröstung? Jeder morgige Tag heißt auch Heute wenn er da ist, und das Heute ist Gestern, ehe man sich umsieht. Jeden Tag fängt die Welt neu an. Hört es in der Natur auf Frühling und Sommer zu werden, weil's einmal Alles verhagelt hat? Das wäre schön, wenn einmal der Acker spräche: ich mühe mich nicht mehr ab die Frucht zu zeitigen, es ist doch umsonst; ein Hagelwetter kann Alles niederschlagen. Dieselben Gesetze, die ununterbrochen in der Natur herrschen, müssen wir aus freien Stücken durch die Willenskraft in uns aufrecht erhalten. Und jene andere Ausrede: es kommen andre Menschen dran! Freilich ist das wahr und ich bin auch des Glaubens, aber die neuen Menschen kommen nur durch uns; und wir haben die Pflicht, das was wir erlebt und erfahren haben, ihnen treu zu überliefern, damit sie es benützen, und die Errungenschaft der Erfahrung läßt sich nicht als todtes Capital vererben, sondern nur als lebendige That erwerben.

Du sagst, daß zu viel an dem Volk gequacksalbert wird, und daß auch unsre Hausmittelchen Nichts helfen. Weiß wohl, es geht im großen Ganzen wie mit der Erziehung eines einzigen Kindes: es wird nicht das, was man gewollt hat, und Niemand kann sagen was es werden soll, welche Gesinnungsart und Thätigkeit es nothwendig und einzig haben muß. Trotz aller Erziehungsmaßregeln wird jeder Mensch doch wieder etwas Neues, und das ist nothwendig; denn in jedem Einzelnen wird die Menschheit neu geboren, und keine Denkweise ist die ausgeführte Vorschrift eines Andern. Soll man aber darum aufhören, nach bestem Wissen und Gewissen den Unerfahrenen zu leiten? Man muß sich nur zufrieden geben, wenn er dann seinen eigenen Weg geht, und vielleicht hätte er den nie gefunden, ohne die wenn auch oft vom Wege ablenkende fremde Leitung; auch diese erweckt zur Selbstbestimmung.

Zuletzt aber muß ich die Farbe bekennen auf deinen Haupttrumpf, und ich meine, ich kann ihn übertrumpfen. Du sagst, die Welt sei allzeit nur wegen einiger Auserwählten da, und diese sollten sich's wohl sein lassen. Ich könnte dich hierauf mit vielfachen Entgegnungen aus allerlei Schriften abspeisen. Aber ich gebe dir wiederum lieber hausbacken Brod, und sage dir zuerst: daß wir nicht gemeint sind die Menschen aus ihren gewohnten Lebenslagen herauszureißen, sondern im Gegentheil sie recht einheimisch und glücklich in den gegebenen Tätigkeiten zu machen. Und weil es keine rechtschaffene Thätigkeit giebt, die man höhere oder niedere nennen kann, weil Alle mitwirken zur Erhaltung des Gesammtkörpers, so ist es einfach lächerlich zu sagen: die Thätigkeit des Einen sei blos zur Bequemlichkeit des Andern da. Sieh dich einmal um, und du wirst finden wie es nicht wahr ist, daß die Welt immer auf demselben Fleck stehen bleibt. Lache nicht, wenn ich dir ein Wort des großen Weltweisen Hegel anführe; die Worte der Gelehrten sind nicht blos wiederum für Gelehrte da, sondern für Alle; und ich unterschreibe den Ausspruch Hegels: die Weltgeschichte ist der Fortschritt zum Bewußtsein der Freiheit! Es giebt heutigen Tages nicht nur weit mehr Menschen auf der Welt, als je zuvor, sondern auch weit mehr Seelen als je zuvor. Unter Tausend, die heut zu Tage leben, ist eine viel größere Zahl Solcher, die denken können als je zuvor.

Macht aber Denken glücklich? fragst du. Es macht zum Menschen! antworte ich, und ob er als solcher glücklich sei, das liegt an ihm. Jeder hat die Pflicht zu erkennen, was es heiße, ein Mensch, ein Bürger sein, und Jeder hat die Pflicht dem Andern dazu zu verhelfen. Hierin ist die Bildung Eins mit der Religion. Die Religion verlangt, daß nicht Einer oben stehe, der den Glauben habe für Alle, sondern sie stellt die Anforderung: daß Jeder für sich selber glaube und sein Heil erfasse. Wie nun dies möglich und nothwendig ist, so will auch die Bildung, daß Jeder für sich wisse und erkenne; und das ist nicht minder möglich und nothwendig.

Man braucht jetzt keine Steinhauerarbeit mehr, um mit Stahl und Stein den Feuerfunken herauszulocken; da reibt man jetzt nur noch, und man hat Feuer und Licht zugleich und in Einem Stück. Freilich geschieht dadurch auch viel Brandschaden, es ist jetzt Alles leichter entzündet; aber man wird allmählich lernen damit sorglicher umzugehen.

Es ist jetzt eine neue Welt, es wird täglich eine neue, und sie ist mindestens so schön und groß als je eine zuvor. Sich mit Mißmuth davon wenden, ist Selbstauflösung. Es gilt mitzuwirken, mitten drin zu sein. Sieh dir nur einmal deinen eignen Beruf an: es reicht nicht mehr aus, daß man Säen und Pflügen u. s. w. vom Vater und vom Knecht lernt; jeder echte Landwirth muß sich die Ergebnisse der Naturwissenschaften zu eigen machen, und Tausende thun es. Das alte Bauernthum stirbt ab und macht der neuen Landwirthschaft Platz, und die Welt wird schön und schöner auf neue Weise. Und nicht nur das, sondern auch Anderes fasse ins Auge, und du wirst sehen, daß wir trotz alledem doch immer weiter vorankommen. Deine Geschichte von den chinesisch geaichten Magen und gestempelten Löffeln hast du aus den Schriften des biedern und tapfern Justus Möser – da siehst du, was du doch aus den Büchern hast und nicht bekennen magst, – aber denke lieber auch an ein anderes Wort von dem edlen Möser, denn er nennt die Hofedienste und Oblasten, die zu seiner Zeit noch auf den Bauernhöfen ruhten: Gespenster, die darin spuken. Nun sag einmal, haben wir nicht diese Gespenster durch Ablösung erlöst, und die andern gebannt und vertrieben? und so sehr man auch diese und jene wieder einführen möchte, man kann sie doch nicht mehr heimisch machen.

Es ist jetzt Frühling, und Alles grünt und blüht, und die schwarzgekleideten Städter, die auf den Fußwegen durch die grünen Saaten wandeln, sehen aus wie Tintenkleckse in der Natur, aber auch aus ihnen schreibt sich eine helle Erneuerung der Welt.

Ich stand auf hohem Berge
Und schaut' ins tiefe Thal.

Ja, Bruder, davon kann ich auch ein Lied singen. Ich war auf dem Schloßberg, und unter mir Nebel, und die Nacht kam, und mein Herz fragte zitternd: soll's Nacht werden und Nacht bleiben so lange du lebst? Da wurde hier und dort ein Licht angezündet. In der Nacht hat Jeder sein Licht für sich, und diese Lichter sind wie Sprühfunken aus einer großen Urflamme, und da sprach es in mir: bewahret, ja bewahret das Feuer und das Licht, bis daß der helle Tag anbricht! Und dieser Tag ist angebrochen in aller Weise.

Wir Deutschen wissen jetzt, daß wir nicht schlimmer, ja daß wir in mancherlei besser dran sind als die gebildeten Völker rings um uns her. Es ist vorbei mit dem Ausschauen nach Frankreich, nach England, ja nicht einmal Amerika ist mehr für uns das Land der Sehnsucht; wir kennen die großen Gaunereien, die dort auch an der Tagesordnung sind, und daß die Freiheit noch nicht die Rechtschaffenheit pflanzt; wir wissen jetzt mehr als je, was wir für uns haben und was uns noch fehlt, und daß wir dieses Beides wissen, das soll uns muthig und zuversichtlich machen.

Es giebt leichtfertige Naturen, die da glauben, alles Glück bestehe nur im Lachen und in der lauten Freude. Es giebt aber eine innere Andacht, die noch weit glücklicher macht, und ich gebe meine Zuversicht, mein Vertrauen und mein emsiges Denken auf das Heil des Vaterlands für keine rauschende Freude hin; und damit verbleibe ich dein Bruder

Ernst.

Fertig!

ruft der Schaffner an der Eisenbahn. Nur wenig Minuten Aufenthalt und der Bahnzug braust dahin. Gieb Acht, hast auch nur wenig Minuten Aufenthalt auf der Lebensstation: gieb Acht, daß du dich nicht versäumst, Manches vergessen habest, wenn der große Schaffner sein Fertig! ruft, und die große Locomotive, Tod genannt, vorgespannt ist.

Aber – und das sagt der Gevattersmann dir und sich selber – fertig werden wir doch nie; und sei auf eine einzelne Arbeit oder auf die ganze Lebensarbeit noch so bedacht, fertig wird sie nie, und was noch fehlt, weiß Niemand besser als der redliche Arbeiter selber. Unser Leben ist Stückwerk; seien wir Gesellen, die auf Stück- oder auf Zeitlohn arbeiten. Hast Mühen und Denken aufgewendet, mußt zuletzt doch bekennen: der Preis der Vollkommenheit, den du in Gedanken dir vorgesetzt, du hast ihn nicht erreicht!

Es hat noch keinen redlich wirkenden Menschen gegeben, der am Ende seiner Tage sich bekennen mochte: »Es ist genug, ich habe vollauf Genüge gethan!« – Die tapfersten Befreier und Wohlthäter der Menschheit haben in letzter Stunde noch gewünscht ihr Werk befestigen, erhalten, weiter führen zu können. Nicht Liebe zum Leben und zu seinen Genüssen, sondern Liebe zur heiligen Lebensarbeit hat diese schmerzliche Sehnsucht erweckt Wer nicht diesen Schmerz empfindet, wenn er Geschaffenes aus den Händen giebt, oder gar wenn er selber scheiden muß aus dem Kreislauf der Neigungen und Pflichten und ihrer Bethätigung: der hat nie das Reine und Vollkommene gewollt, nie den Gedanken Gottes geliebt. Wer aber mit diesem Schmerze die Welt läßt, hat das Vollkommene gewollt, und ist selig in ihm. Und Ein Trost ist bei allem Scheiden von einer Thätigkeit, daß Andere ihre erneute Arbeit damit vollbringen. Genug, wenn in unserem Thun ein gesundes Korn zur Aussaat, eine feste Handhabe zum Angriff für Andere sich findet.

Mit diesem Gedanken rufe ich Euch und mir zu: Fertig!

Möge dieser Gedanke in uns leben, wenn es dereinst heißt: Fertig!


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