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Der Nelkenstock.

Bemerkungen aus dem Tagebuch eines Einsamen.

(Bei allen Dingen kommt es hauptsächlich darauf an, was man dabei denkt und fühlt, das macht sie groß oder klein, glücklich oder unglücklich; darum theile ich hier diese Beobachtungen mit. Der sie gemacht hat, ist der Schulmeister Adolph Lederer, auch Lauterbacher genannt, den du, freundlicher Leser, vielleicht noch von anders woher kennst; er war damals noch Unterlehrer im Waisenhaus zu G. Es hat aber auch nichts zu sagen, wenn du ihn nicht kennst, es ist eben einer jener Menschen, denen die ganze Natur ein Sinnbild, ein Fingerzeig zum Geiste hin ist, die mit unzerstörbarer Andacht die Welt betrachten, wenn sie auch nicht immer von Gott sprechen. Sieh zu, was daran echt ist, und ob du nicht auch manchmal auf solcherlei Betrachtungen kommen kannst oder willst.)

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Es war eine wohlbedachte Aufmerksamkeit meines Freundes, daß er mir heute einen Nelkenstock schickte; noch sieht fast alles daran wie Gras aus (in der Pfalz nennt man auch die Nelken Grasblumen), aber schon sind einzelne Halme aufgeschossen, und oben prangt die grüne Knospe, und birgt Farbenpracht und Blüthenduft in ihrem Behälter. Nein, erst was wahrhaft ans Tageslicht gedrungen ist, gewinnt schimmernde Farbe und erquickenden Duft. Jetzt ruht Alles noch farblos und duftlos im Schooß der Knospe. Wohl dem, was ans Tageslicht zu dringen vermag, und das wird was es sein soll. –

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Ich hatte mir eigentlich einen blühenden Nelkenstock gewünscht, aber es ist besser so, ich soll still zuwarten und fürsorgen. Auch von Gott bekommen wir die Gaben in uns nur im Keime geschenkt, wir müssen vertrauensvoll zuwarten, sie hegen und stärken, bis sie gedeihen. Wolle nie, daß dir etwas sogleich in der Blüthe geschenkt werde.

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Ich liebe die Nelken besonders. Die meinigen sollen schöne gefüllte sein, die Farbe weiß man noch nicht. Ich liebe die Nelken noch von meiner Kindheit her. Auf dem Lande bekränzen Nelken, Gelbveigelein und Rosen das Haus, und schauen hinein in die Fenster, und wieder hinaus in den Himmel. In der Stadt lieben sie allerlei fremde Blumen, bald ist diese, bald jene in der Mode. Warum nur so viele Menschen das Fremde lieben? Ja, da will immer Jeder etwas Besonderes haben, und er meint, das wäre viel schöner, weil er allein oder nur Wenige es haben. Auch das bezeichnet recht die Genußsucht der heutigen Reichen und Vornehmen: sie lassen von ihren Kunstgärtnern alle paar Wochen Blumen und Gewächse auf ihren Söllern wechseln, sie wollen nicht warten, bis die Blüthe aufbricht, und wollen dann das Welkende schnell aus den Augen haben, immer nur Blüthen um sich sehen, die sie nicht selbst gepflegt.

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Ich freue mich innig, daß ich nun doch ein Leben um mich her habe; der Tisch, die Stühle, der Schrank, die Bücher, alles das ist todt und hat kein Wachsthum und kein Leben; nun habe ich doch etwas aus der Natur, etwas Lebendiges. Die Gräser sind heute schon ein wenig gewachsen.

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Ich muß mich vor zu vielem und zu starkem Begießen hüten. Wenn man von einem Kind, einem Baum, einer Pflanze etwas hofft, wird man gar leicht zu ungeduldig, und gießt immer darauf; man muß aber auch manchmal den Boden austrocknen lassen. – Es giebt freilich auch Sumpfpflanzen, die immer im Wasser stehen müssen, sie werden oft schön, aber ihr Leben ist gar gebrechlich und hinfällig.

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Die Halme mehren und vergrößern sich. Wunderbare, geheimnißvolle Macht der Natur! In dem dunkeln Erdreiche ruhen still verborgen Säfte und Kräfte, eine höhere Hand pflanzt das Samenkorn oder einen Setzling hinein, Regen und Sonnenschein lassen die Säfte aufsteigen und zur Blume, zum Baum werden. In dieser Handvoll Erde halte ich das ganze Geheimniß der Welt und der Allmacht Gottes! Ein anderes Samenkorn, ein anderer Setzling in diese Erde gesenkt, und dieselben Säfte werden zu anderen Gebilden. Dieselben Säfte? In dem kleinsten Erdenstäubchen mag wohl eine unendliche Fülle und Mannigfaltigkeit der Kräfte liegen, die geweckt, aufgeregt werden können; schickt die Nelke die saugende Wurzel hinab, so ruhen die andern Kräfte, die der Rose, der Lilie der Kresse u. s. w. dienen könnten, einstweilen still. Glücklich! wenn sie nicht ganz sterben. Auch bei dem Menschen ist es so. Drum pflanzet Gutes und Edles hinein.

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Aus den Zwischengelenken der Halme steigen neue Halme mit neuen Knospen auf. Wohl treibt Alles dahin, das Endziel des Halmes, die oberste Knospe zu füllen und zu entwickeln, aber die eine Blüthe ist nicht alleiniger Zweck des Halmes; auf den Zwischengelenken setzt sich auch ein eigenes Leben fest. Laß dir das auch zur Lehre im Leben sein: strebe nach Einem Ziele, aber auf den Zwischenstationen, in allen Abschnitten deines Daseins laß neue Blüthen sich ansetzen. – Zu beiden Seiten der Zwischengelenke ragen Deckblätter hervor, aber immer nur aus Einer Seite und nie aus beiden zugleich sprießt die neue Blüthenknospe. Merke dir das. Auch nicht am untersten Gelenke, nicht am untersten Absatze, sondern erst am dritten oder vierten Gliede schießt die neue Knospe hervor. Der erste Abschnitt des Lebens ist nichts für sich, und dient einzig und allein dem höheren.

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Eine Knospe ist weit voran, daraus wird die erste Blume steigen.

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Dieser Blumenstock ist mir ein Sinnbild meines eigenen Daseins: wenig Erde in einem Topfe läßt sich bald da- bald dorthin stellen, und das Eingepflanzte wächst weiter. Andere Blumen, die draußen in der weiten Erde stehen, gehalten von der ganzen Macht des Erdenrundes, zu denen sich die Schwestern und Brüder neigen, die wachsen wohl fröhlicher; andere Menschen, die in Familien leben, von Schwestern und Brüdern umgeben, wie fröhlich mögen sie gedeihen, gehalten von den sichtbaren Händen der Menschheit, die sie umfassen. Und habe ich auch ein abgeschnittenes Stück Leben ... wenn ich nur immer so viel Boden habe, um still darin wachsen zu können. –

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Ich möchte einmal eine Pflanze athmen sehen oder hören; – ja freilich, das hieße das Gras wachsen hören. Immer ist ein Schwirren in der Luft, ist das das Athmen der Erde und der Pflanzen? Am heißen Mittag aber ist's, als ob alles das aufgehört habe.

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Heute hat eine kleine Spinne ihr Gewebe zwischen den Gräsern ausgespannt. Alles in der Welt wird doch alsbald zur Unterlage für etwas Anderes; diese Gräser, in denen die Säfte hin- und herfließen, sind jetzt die Säulen und Tragbalken für das flüchtige Haus des Thierchens. So laß an dein Leben sich friedlich ein fremdes anbauen. Woher nur die Spinne wußte, daß hier ein Nelkenstock sei? woher sie kam?

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Farbe und Duft machen die Blumen zu Lieblingen des Menschen, aber noch mehr: sie sind es, in denen er sich, abgeschlossen in steinernen Gemächern und getrennt vom Schaffen und Wirken in der freien Erde, das reine Naturleben nahe bringen kann. Könnt ihr nicht draußen unter freiem Himmel leben, so umstellt euch mit Blumen; das sind Mittler zwischen euch und der Mutter Natur; aber sperrt die Blumen nicht als Sklaven ein in eure Gemächer, laßt sie wenigstens von den Fenstersimsen den Himmel schauen und das Sonnenlicht trinken. Laßt auch die Vorübergehenden sie freudig schauen. Was ihr durch Kunst erzeugt, das mögt ihr in Gemächern halten, aber was die Erde hervorbringt, muß in den Himmel schauen und gehört allen Menschen, daß sie, die Schönheit betrachtend, es genießen.

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Nicht die Knospe, von der ich es erwartet, sondern eine andere beginnt aufzubrechen, ein dunkelrothes Zünglein ist seitwärts aus der Verhüllung geschlüpft. Ich freue mich der glühenden Blätterfülle, die da kommen wird, und sehe nun wieder, daß nicht immer von da die Blüthe kommt, wo wir sie erwartet haben.

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Die Halme beugten sich nieder, ich mußte sie an einem Stäbchen aufbinden. Was für sich selber kein Leben mehr hat und keine Nahrung mehr braucht, was aber stark geworden ist, da es noch lebte, das dient schwachen Ranken zur Aufrechthaltung. Mit großen Männern und kleinen Menschen ist es auch so.

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Ein Halm – der, von dem ich die erste Blüthe erwartete, ist, ich weiß nicht wie, abgebrochen, gerade am zweiten Gelenke, aber noch hängt er an einigen Fasern und grünt. Vielleicht mag auch noch ein gebrochenes Leben fortbestehen und zur Blüthe gelangen.

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Immer mehr werden der aufbrechenden Knospen, sie wollen keiner einzelnen den Vorrang lassen. Der geknickte Halm ist ganz abgebrochen, ich habe ihn zum Spaß geschindelt, ich glaube nicht, daß er wieder aufkommt.

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Drei Nelken sind heute früh aufgebrochen, es sind einblätterige, gezackte. Also getäuscht! Die Freude, diese lang ersehnten Blumen zu sehen, war sehr gedämpft, weil ich gefüllte erwartet hatte; ja ich war so böse, daß ich sie weggeschenkt hätte, wenn Jemand dagewesen wäre: aber die Blumen sahen mich so freundlich an, und ich freute mich ihrer endlich innig. Wird auch die Blüthe meines Lebens keine gefüllte, sondern eine schlichte einfache sein, ich will mich daran erfreuen, und die Menschen mögen sie freundlich hinnehmen. – Eine einfache Nelke ist eigentlich viel schöner als eine gefüllte, Griffel und Staubfäden treten bei der einfachen besser heraus, und man kann ihr bis ins Herz hineinschauen.

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Der geknickte Halm ist ganz verwelkt. Ja, selten kommt ein Leben in allen seinen Theilen zur glücklichen Entfaltung, der Tod verlangt seinen Zoll. Mag der Tod seinen Zoll verlangen, ich will mich des schönen Daseins der Blüthen erfreuen.

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Ich war gestern verreist. Als ich heute nach meinem Nelkenstock sah, war er welk und abgestanden, die Halme fast geknickt und weißlich gelb. Der Boden war fast ausgetrocknet. Ich bin nicht gewohnt, daß, wenn ich weggehe, zu Hause noch etwas zu versorgen bleibt. – Gewöhne dich daran, daß diejenigen, welche deiner Pflege bedürfen, nach deinem Ausgange aus dem Haus oder aus dem Leben frisch fortgrünen können: versorge sie.

Der Nelkenstock ist durch Begießen wieder erfrischt und belebt.

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Es kommen keine andern Knospen als solche, die bereits da waren, bevor die erste Blüthe aufging. Die absterbende Blume, die ihre Blätter wieder zusammenlegt, sieht fast wieder aus wie die aufbrechende Knospe. Entspricht das nicht dem Kindischwerden im Greisenalter?

Die spätern Halme treiben nur eine einzige Blume.

Alles das ist auch sinnbildlich.

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Ich wünschte, daß es eine Geschichte der Blumen gäbe, d. h. eine Erzählung von ihrer Herkunft, ihrer Verbreitung über die Länder und ihrer Aufnahme in den verschiedenen Ständen. Wenn man sieht und erfährt, was die Menschen hegen und pflegen, lernt man ihr innerstes Wesen am besten kennen. So ist heutigen Tages die seifensteife Kamelie die Lieblingsblume der sogenannten Vornehmen geworden, wie ehedem die Tulpe, die man mit Recht den Pfau unter den Blumen nannte. Rose, Goldlack, Rosmarin und Reseda sind Lieblingsblumen des Volkes, vor allen aber die Nelke; sie ist bescheiden, nimmt mit einem alten Scherben und wenig Pflege vorlieb und ist dabei doch charaktervoll, farbenprächtig und gewürzduftig. Habe ich Unrecht, wenn ich sie die Lerche unter den Blumen nennen möchte?

Es ist mir gelungen, in einem alten Blatt etwas von der Geschichte der Nelke zu erfahren. Auch ihre Geschichte verliert sich zuletzt in die Sage. Ludwig der Heilige soll im Jahr 1270 die erste Gartennelke aus Tunis nach Europa gebracht haben. In der Ritterzeit war sie schon allgemeiner bekannt, und man findet sie auf vielen Bildern von damals, namentlich in Frauenhand. Die Niederländer, die eifrigen Blumenzüchter, setzten die Nelke bald über die mit fast lächerlicher Liebhaberei betriebene Tulpenzucht. Im Jahre 1600 gab der große General Condé ein Buch heraus, betitelt: »Vorschriften zur Erziehung schöner Nelken,« und es sollen außerdem viele Bücher über die Nelken geschrieben worden sein. Vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts an wurde die Nelke allgemeine Lieblingsblume des Volkes, von da an hörte sie aber auch auf, bei den Vornehmen in Ansehen zu stehen.

Liegt darin nicht wieder ein Stück allgemeine Geschichte des Menschengeschlechts, wie das, was ehedem nur Liebhaberei einzelner Bevorzugter war, doch endlich zum Gemeingute wird?

Wird es nicht auch einmal mit den Blumen der Erkenntniß, mit der Geistesbildung so werden? ...


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