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Welches ist der gottloseste Gedanke?

Es standen zwei Wanderer an der Umzäunung eines Dorfkirchhofes, und der Aeltere sprach: »Es ist ein Zeichen von der Verwilderung unseres Lebens, daß die Dorfkirchhöfe in der Regel nur einen wüsten ordnungslosen Eindruck machen. Man hat die Kirchhöfe außerhalb des Dorfes verlegt, und sie sollten den wohlthuendsten Anblick des Naturfriedens gewähren, durch geordnete Wege, durch Baumpflanzungen und Blumen; aber freilich, die meisten Ortsvorsteher denken nur an die Grasnutzung vom Grabe ihrer Angehörigen.«

Der Jüngere schien anderen Gedanken nachzuhängen, sein Blick war wehmuthsvoll und er sprach endlich tief aufathmend: »Diese Gräber, wer weiß welches Leben sie decken, wie viele hier vermodern und sind in ihrem Dasein nie das geworden, wozu die Kraft in ihnen lag. Dort sind die Gebeine eines armen Taglöhners, der vielleicht ein volkbeglückender Regent; dort Einer, der ein weisheitspendender Lehrer, und wiederum Andere, die hätten Denker, Dichter, Künstler, Erfinder, Feldherren und große Männer aller Art werden können, wenn nicht das Schicksal ihnen diese Gelegenheit versagt, wenn nicht bedrückende Verhältnisse sie eingeengt hätten, so daß sie nie das wurden, was sie zu werden bestimmt waren.«

»Was sie zu werden bestimmt waren! An dieses Wort von dir knüpfe ich an,« erwiederte der Aeltere, »und sage dir daß dein Ausspruch der gottloseste ist, der sich denken und kundgeben läßt. Die Klage und Wehmuth über das, was man untergegangene oder erstickte Größe nennt, ist eitel. Jedes wird in der Welt das, was es zu werden die wirkliche Macht hatte; läßt es sich durch Hindernisse und Störungen beeinträchtigen oder gar zerstören, so hat es eben nicht die volle Kraft gehabt zu dem, was es sich selbst einredete oder was Andere ihm zumutheten. Es giebt keine erstickte Macht in der Welt; läßt sie sich ersticken, so ist sie eben keine. Wäre das anders, so wäre die Welt, das Schicksal der Völker und der einzelnen Menschen ein bloßes Gaukelspiel. Der auf Erkenntniß gegründete Glaube an die Weisheit und Gerechtigkeit der Weltordnung ist Eins mit dem Glauben an die unzerstörbare Kraft des menschlichen Willens und seiner im letzten Grunde festgestellten Unabhängigkeit von äußeren Bedingungen. Die Fähigkeit durch redliche Arbeit sich zu vervollkommnen, fehlt in keiner Lebenslage. Aeußerliche Verhältnisse können den Gegenstand ändern, mit dem ein Mensch zufrieden und glücklich ist, aber die innere Zufriedenheit, die Glückseligkeit in sich, die reine Gemüthsverfassung, wird dadurch nicht geändert. Du hast insofern Recht: es können hier die Hüllen großer Geister begraben sein; aber besteht denn die Größe allein in der Breite und Weite des Gebietes, das man mit seinen Gedanken und Thaten beherrscht? Die Art und die innere Seele dessen was man thut, ist die eigentliche Größe, nicht die Zahl, nicht das Gebiet, denen die That zu gute kommt. Das was den eigentlichen und echten Werth des Menschen ausmacht, ist überall das Gleiche. Allenthalben ist Gelegenheit gegeben, sich als rechtschaffen und tapfer, als dienstwillig und hülfreich gegen Andre zu bewähren, und das ist das Beste, was der Mensch kann, ob er nun als Minister, als Gelehrter, oder als Ackerknecht und Fabrikarbeiter seinen Menschenberuf erfülle. Wer seine gegebenen Verhältnisse wahrhaft zu erfüllen sucht mir Nachdenken, mit Fleiß und Liebe, der hat dem Besten genügt. Besseres kann Niemand thun. Alle Sehnsucht nach Bethätigung in anderen Verhältnissen ist gestillt, wenn man bedenkt, daß sich damit nur die Erscheinungsart verändert, keineswegs aber die innere Tugend, die überall die gleiche ist. Hier hört alle Eifersucht und alles ungestillte Verlangen auf. Immerhin mag Jener dort Beruf und Fähigkeit zum Staatsmann gehabt haben, und war dieß, so hat er sein gerechtes Bemessen gewiß in kleinen Verhältnissen geübt und der in ihn gelegten Kraft Genüge gethan; daß er es nicht weiter that, war eben weil seine Kraft dazu nicht ausreichte oder weil im Haushalt der Welt Manches sich zu scheinbar Kleinem verwenden lassen muß. Jener dort mag nach innerer Befähigung ein weiser Lehrer, die Anderen mögen Denker, Dichter, Künstler, Erfinder, Heerführer gewesen sein, und sie haben das gewiß nach Maßgabe ihrer Naturkraft nach außen erfüllt und ihr Geist lebt fort in Anderen, denen sie eine kleine Anregung gegeben, und wir können die Zuversicht festhalten, daß er einst auf anderer Stätte, in anderem Boden seine volle und durch neue Zuthaten vermehrte Kraft und gemeinnützige Größe entfalten wird. Es ist ein hoher Spruch der Weisheit, der die Welt verstehen lehrt, wenn es 1. Kor. 12, 4-6. heißt: Es sind mancherlei Gaben, Aemter, Kräfte, aber es ist Ein Geist, Ein Herr, ein Gott der da wirket Alles in Allem.

Und ein gutes Sprüchwort sagt: nicht der ist arm, der wenig hat, sondern wer viel begehrt! Aber hätten diese Alle auch einsiedlerisch in sich versunken gelebt und nie, auch nur in der kleinsten Weise, zur äußeren Geltung und Wirkung gebracht was in ihnen war, so waren sie es für sich, und das war ihre Erfüllung. Es blühen tausend Blumen im verborgenen Waldesgrund, die Niemand sieht, es reifen tausend Früchte, die Niemand genießt; daß sie aber für sich zu Blumen, zu Früchten geworden, das ist ihre Erfüllung in sich, die göttliche Vollendung ihrer Naturbestimmung. Und die Natur ist so reich, daß sie nicht Alles unseren Augen sichtbar und mit Händen greifbar zur Verwendung und zum Verbrauche bringt. Zu denken aber, daß Etwas in der Welt durch zufällige Verhältnisse seine Naturbestimmung verfehlt habe, das ist der gottloseste Gedanke von allen, die sich denken lassen.

Der Jüngere drückte dem Aelteren still die Hand, und sie gingen getrosten Muthes in gleichem Schritte von dannen.


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