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14

»Hast du die Morgenzeitung gelesen, Williams?« lautete Ringes Gruß, als er kurz vor neun Uhr das Büro betrat.

»Nein, ich bin heute noch nicht dazu gekommen. Es wurde ein bißchen spät gestern nacht durch meine kleine Expedition zum Schiffsfriedhof. Und später hatte ich eine ganze Masse im Laboratorium zu tun. Steht in der Zeitung etwas über den Mord am Torsplatz?«

Ringe zog einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche und entfaltete ihn.

»Hier«, sagte er und reichte Williams den Ausschnitt. »Das fand ich unter den Morgennotizen. Lies selbst!«

Williams nahm den Ausschnitt und las. Es war eine gewöhnliche Notiz von der Art, die man in der Redaktionssprache Füllsel nennt, kaum mehr als dreißig Zeilen. Williams las:

 

Wieder Einbruch in einem Dynamithäuschen!

In der Nacht zum Montag wurde wieder ein Einbruch in ein Dynamithäuschen in der Umgebung Stockholms verübt, bereits der fünfte im Verlauf einer Woche. Als die bei dem neuen Straßenbau auf Tyresö beschäftigten Arbeiter sich am Montagmorgen an ihrer Arbeitsstelle einfanden, entdeckten sie, daß in der Nacht Diebe dem Gebäude, in dem die Sprengkörper aufbewahrt wurden, einen Besuch abgestattet hatten. Mit Hilfe einer starken Eisenschere oder eines ähnlichen Werkzeugs hatten die Diebe das Schloß herausgeschnitten und waren in das Gebäude eingedrungen, wo sie den gesamten Sprengkörpervorrat, neunundvierzig Kilogramm Extra-Dynamit, entwendeten. Die Zündhüte und Zündschnüre haben sie zurückgelassen. Die Diebe scheinen in der gleichen Weise zu Werke gegangen zu sein wie bei den ersten vier Einbrüchen. Bei der Untersuchung, die die Polizei an Ort und Stelle vornahm, wurden frische Autospuren gefunden. Man hat festgestellt, daß die Abdrücke dieser Autoreifen genau übereinstimmen mit denen, die man vor einer Woche bei dem Einbruch in das Sprengkörperhäuschen bei Ulriksdal entdeckte. Daraus geht klar hervor, daß die Diebe bei ihren Ausflügen dasselbe Auto benutzt haben. Bisher wurden im ganzen zweihundertvierzig Kilogramm Sprengstoff gestohlen.

 

Williams legte den Zeitungsausschnitt zur Seite und sah seinen Mitarbeiter an.

»Und diese kleine Notiz hier hat dich so erregt, mein Lieber?« fragte er lachend. »Hast du Angst, daß du in die Luft gesprengt wirst?«

»Nein, das ist es nicht, was mich erbost«, antwortete Ringe. »Aber ich finde es wirklich unerhört, daß verbrecherische Elemente so wirtschaften können.«

»Vielleicht hast du recht, Ringe, aber ich finde, wir haben im Augenblick an wichtigere Dinge zu denken«, sagte Williams. »Ich glaube, wir lassen diese Sache mal in Ruhe, bis wir das Geheimnis des Schiffsfriedhofes aufgeklärt haben. Das ist ein bedeutend interessanteres Problem. Weißt du, was ich entdeckt habe?«

»Nein. Erzähle.«

»Ich werde dir in kurzen Zügen berichten, was sich ereignet hat«, begann Williams. »Wie du weißt, ruderte ich gestern abend in die Bucht hinaus, wo die Schiffswracks liegen. Ich hatte Glück, denn Chauffeur Smith hatte heute nacht gerade ein Stelldichein mit einem Unbekannten an Bord des der Villa am nächsten liegenden Schiffes. ›Gamba‹ heißt es. Ich sah den Chauffeur dahin rudern und an Bord verschwinden, und gleich darauf folgte ein anderes Boot, auch mit einem Chauffeur bemannt. Was sie da drüben für Pläne geschmiedet haben, weiß ich nicht; ich konnte nur feststellen, daß sie im Achtersalon Champagner getrunken und Zigaretten geraucht haben. Ihr Gespräch zu belauschen, war unmöglich. Ich mußte deshalb warten, bis sie ihre Unterredung beendet und sich davongemacht hatten. Aber dann nahm ich eine gründliche Untersuchung des Achtersalons vor.

Das Interessanteste, was ich fand, war eine in einem Schrank eingeschlossene Schreibmaschine. Eine ganz gewöhnliche kleine Underwood-Reiseschreibmaschine, aber nach meiner Ansicht doch eine etwas ungewöhnliche. Ich nahm eine Tabulaturprobe und schlug jedes einzelne Schriftzeichen, das sich auf den Tangenten befand, an. Schon die Tatsache an sich, daß an Bord des alten Fahrzeuges eine Schreibmaschine versteckt war, war ja eine Entdeckung, über die man sich freuen mußte. Denn wer setzt sich wohl auf so einen alten Kahn und schreibt Maschine, wenn er nicht dunkle Zwecke damit verbindet? Ein Vergleich der Maschinenschriftprobe mit dem Drohbrief ergab eine Übereinstimmung der Typen. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Ein Teil der Typen der Underwood hatte Defekte, und diese fanden sich auch bei den entsprechenden Buchstaben in dem Brief. Ein l mit einem verstümmelten Oberteil, ein a, das schräg steht, ein g, dessen obere Schlinge ganz mit Schmutz gefüllt war, waren stumme Zeugen dafür, daß der Drohbrief auf dieser Maschine zustandegekommen war, also in Rantens engster Umgebung. Der Brief ist absichtlich zerrissen in den Papierkorb in der Bibliothek gelegt worden. Deshalb habe ich auch vergebens nach dem Umschlag gesucht, der zu dem Brief gehört hätte. – Wer hat diesen Brief geschrieben? Und wer hat ihn in den Papierkorb gelegt?

Auf diese Fragen müssen wir eine Antwort finden.

Daß der Chauffeur Smith seine Hand im Spiele gehabt hat, steht fest. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß er Rantens Mörder ist. Fräulein Rantens Fingerabdrücke erschweren die Aufklärung der Angelegenheit.«

»Du glaubst doch wohl nicht, daß sie diesen entsetzlichen Brief geschrieben hat?« fragte Ringe verzweifelt.

»Nein. Es macht nur einen merkwürdigen Eindruck, daß wir erst ihre Fingerabdrücke auf diesem Brief hier finden und dann auf dem leeren Bogen, der in dem Umschlag lag, in dem wir Rantens Testament zu finden erwarteten. Aber höre weiter: Als ich die Kissen, die auf einem der Sofas im Achterdeck lagen, untersuchte, fand ich ein langes, dunkles Frauenhaar. Das braucht nun nicht unbedingt zu bedeuten, daß eine Frau an Bord der ›Gamba‹ gewesen ist, denn es ist ja denkbar, daß das Haar sich schon auf dem Kissen befunden hat, als dieses mit an Bord genommen wurde. Das Kissen scheint nämlich nicht zur Einrichtung des Schiffes zu gehören, sondern sieht mehr so aus, als ob es aus dem Zimmer einer Frau stammt. Es war ein wundervolles weiches Kissen aus gelber Seide, mit einem schwachen Parfümduft.

Aber jetzt komme ich zu einem wichtigen Beweisstück, daß wirklich eine Frau auf der ›Gamba‹ gewesen ist. Auf einem Aschenbecher fand ich einige Zigarettenstummel, Reste von den Zigaretten, die der Chauffeur und sein Begleiter während ihres Aufenthaltes im Salon geraucht hatten. Es war nicht schwer festzustellen, welche Zigaretten Smith und welche sein Begleiter zwischen den Lippen gehabt hat. Von den letzteren nahm ich einen Rest mit nach Hause, um ihn etwas näher zu untersuchen. An drei Zigarettenresten fand ich nämlich einige kleine rote Flecke, die wie Blutflecke aussahen. Ich untersuchte sie genau und stellte fest, daß es sich keineswegs um Blut handelt.«

»Um was dann?«

Williams machte eine Pause und sah seinen Freund an.

»Ganz einfach um Lippenschminke«, sagte Williams ruhig.

»Lippenschminke?« wiederholte Ringe ungläubig.

»Begreifst du, was das bedeutet? Der Mann in der Chauffeursuniform, der zur ›Gamba‹ hinausruderte, um Smith zu treffen, war gar kein Mann. Es war eine verkleidete Frau, die ein Stelldichein mit Smith hatte!«

Ringe fuhr jäh von seinem Stuhl auf.

»Eine Frau in Chauffeurkleidung und mit geschminkten Lippen. Gott sei Dank! Du nimmst mir eine Last von der Seele! Das kann nicht Annie gewesen sein. Ich war so oft mit ihr zusammen, aber niemals habe ich bemerkt, daß sie Puder oder Schminke anwendet. Sie gehört zu den Frauen, die keine solchen Verschönerungsmittel benutzen. Und weshalb sollte sie sich gerade die Lippen schminken, wenn sie sich in eine Chauffeursuniform kleidet? Nein, mein lieber Freund, wenn du glaubst, daß Annie Ranten zusammen mit dem Chauffeur Smith im Salon der ›Gamba‹ saß und Zigaretten rauchte, dann irrst du dich gewaltig, besonders da Annie niemals eine Zigarette zwischen ihren entzückenden Lippen gehabt hat. Schon als ich das erste Mal mit ihr zusammen war, bot ich ihr eine Zigarette an, aber sie dankte und sagte, daß sie sich dieses Laster niemals angewöhnen würde.«

 

»Du scheinst deiner Sache sehr sicher zu sein. Die Frau in der Chauffeursuniform kann also deine Annie nicht gewesen sein. Wer war es dann?«

»Erinnerst du dich, was Annie Ranten eines Nachts sah?« fragte Ringe.

Williams wurde mit einem Male sehr ernst.

Er erhob sich und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Dann blieb er vor Ringe stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Die Fäden fangen an sich zu entwirren«, sagte er leise. »Aber noch bleibt viel zu tun, ehe man wagen darf, jemanden anzuklagen. Was Annie Ranten in der Nacht sah! Einen Chauffeur, der sich aus Frau Rantens Zimmer schlich. Einen Mann mit einem merkwürdigen Gegenstand in der Hand.

Das stimmt, so muß es sein«, murmelte er vor sich hin. »Der Glassplitter auf dem Führersitz … und …«

Williams hielt inne.

»Peng«, rief er laut und hieb mit dem rechten Arm durch die Luft, als ob er etwas zerschlagen wollte. »Jetzt, Ringe, fahren wir in die Zentralgarage, und dann werden wir uns den Tiergarten mal etwas näher ansehen. Finden wir da, was wir suchen, so haben wir ein weiteres Glied in der Kette und noch dazu ein sehr wichtiges.

Ich muß vorher einen Augenblick ins Labor. Willst du inzwischen den Motor ankurbeln? Sieh auch nach, ob wir genügend Benzin haben. Es wird keine lange Fahrt, wenn wir Glück haben!«


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