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6

Sigurd Williams ging in das Laboratorium. Dort vertauschte er sein Jackett gegen einen weißen, langen Arbeitskittel. In eine Ecke hatte Ringe die aus Rantens Auto mitgenommene Gummimatte gestellt. Williams legte sie auf den Tisch und rollte sie vorsichtig auf, um die Oberseite mit einem starken Vergrößerungsglas zu untersuchen. Die Matte war in ein kleinkariertes Muster gegossen, die Kanten der Quadrate waren etwas erhöht.

Eine Stelle der Matte erregte sein besonderes Interesse. Die Ecken eines Vierkants schienen etwas dunkler zu sein als die übrigen auf der Matte. Mit einem haarscharfen Messer schabte Williams vorsichtig ein Eckchen nach dem andern sauber und sog den feinen dunkelbraunen Staub, den er von den Ecken gelöst hatte, mittels eines mit Mundstück versehenen Gummiballs auf, worauf er ihn in einen mit Filterpapier bedeckten Glastrichter blies. Als er alle vier Ecken des Quadrates abgeschabt hatte, hatte er ein ansehnliches Häufchen Pulver in dem Glastrichter. Er goß einige Tropfen destilliertes Wasser darüber und entnahm seinem Chemikalienschrank einige Flaschen. In einer Proberöhre mischte er vorsichtig einige Säuren, löste dann vorsichtig das Filterpapier von dem Trichter und schüttelte die Reste des fortgeschabten Staubes ab. Dann breitete er das feuchte Papier auf einer Platte aus und ließ einige Tropfen aus dem Proberohr auf die feuchte Stelle niederfallen. Bei jedem Tropfen wurde die betreffende Stelle des Papiers blau.

»Die Benzidin-Probe genügt anscheinend«, murmelte Williams, als er die Gerätschaften zusammenpackte. »Ich wäre sonst gezwungen gewesen, eine Spektral-Probe zu machen, und das ist immer eine umständliche Geschichte. Nun sind bloß noch die Fingerabdrücke zu photographieren, und dann ist Schluß für heute. Ach nein, das Glasstückchen hätte ich ja beinahe vergessen!«

Er ging an sein Jackett und nahm das Glasstückchen heraus, das er unbemerkt hatte verschwinden lassen, als er und Kommissar Cederqvist den verunglückten Delage untersucht hatten.

Als er die Glasscheibe unter dem Vergrößerungsglas hatte, ließ er einen lauten Pfiff ertönen. Das Glasstückchen wies die Form eines Triangels mit zwei fast gleichschenkligen Seiten und einer etwas kürzeren auf. Besonders die Spitze an der kürzeren Seite war sehr scharf und konnte ohne Zweifel schwere Schnittwunden hervorrufen. Williams untersuchte sie auf das genaueste mit seinem Spezialmikroskop, ohne jedoch etwas Besonderes zu entdecken. Mit einem kleinen Seufzer legte er die Glasscheibe beiseite und begann mit dem Photographieren der Fingerabdrücke. Er arbeitete schnell, und nach einer halben Stunde hatte er vorzügliche Vergrößerungen sämtlicher Abdrücke.

Williams war gerade mit seiner Arbeit fertig und stand über die Abdrücke gebeugt, um sie noch einmal zu überprüfen, als Ringe hereinstürmte.

»Hier hast du Rantens Fingerabdrücke«, rief er und zog ein Papier aus der Tasche, auf dem sich zehn Fingerspitzen in schwarzer Farbe abhoben. »Vergleiche sie, und du wirst sehen, daß unser Verdacht sich bewahrheitet, Ranten hat diesen Brief niemals in Händen gehalten, es sei denn, er hat Handschuhe angehabt. Aber daß einer Handschuhe trägt, wenn er in seiner eigenen Wohnung einen Brief liest, ist doch wohl kaum anzunehmen.«

»Vielleicht war er im Begriffe auszugehen, als der Brief kam«, antwortete Williams und nahm das Papier mit den Fingerabdrücken. »Hier hast du die Vergrößerungen der Abdrücke auf dem Brief, falls es dir Spaß macht, sie dir etwas näher anzusehen. Aber ich glaube kaum, daß das nötig ist. Die Sache scheint klar zu sein. Von Ranten rühren diese Fingerabdrücke bestimmt nicht her. Er hat ein deutliches und klares Zeltbogenmuster, während unser Unbekannter auf dem Brief mit recht effektvollen Ulnarlinien versehen ist. Der Fall Ranten scheint bedeutend interessanter zu werden, als wir zuerst dachten, da wir vor einigen Stunden zum Blockhauskap hinausfuhren. Am besten ist, wir gehen jetzt ins Arbeitszimmer hinüber. Ich möchte dir in Ruhe die Schlußsätze klarlegen, zu denen ich gekommen bin. Sie sind immerhin überraschend.«

Als Williams und Ringe sich in den bequemen Sesseln der gemütlichen Bibliothek niedergelassen und ihre Pfeifen angezündet hatten, begann Williams zu sprechen.

»Ich glaube, daß hinter Rantens Tod ein entsetzliches Verbrechen liegt. Als wir zum Unglücksplatz am Blockhauskap kamen und alle Einzelheiten über Rantens Tod erfuhren, waren wir beide davon überzeugt, daß Selbstmord vorläge. Die Art und Weise, wie das Auto ins Wasser gesteuert wurde, sprach dafür. Wie unvorsichtig und rücksichtslos man auch fährt, niemals könnte man diese scharfe Wendung auf die Brücke zu machen, wenn nicht in der festen Absicht, den Wagen in die Tiefe sausen zu lassen.

Ich habe deshalb auch nichts Besonderes erwartet, als das Auto aus dem Wasser gehoben wurde. Ohne großes Interesse stellte ich fest, daß die Scheibe an der Seite des Führersitzes entzweigeschlagen war, und als ich Rantens zerschundene Hände sah, zog ich natürlich den Schluß, daß er trotz seiner Lebensmüdigkeit in einem Anfall von Selbsterhaltungstrieb verzweifelt darum gekämpft hat, sich zu befreien. Sein friedliches Antlitz indessen sprach dafür, daß er schließlich resignierte und sich in sein Schicksal fand. Wir standen also vor einem Selbstmörder, wie ich mit aller Bestimmtheit annahm. Als ich das Glasstückchen, das ich auf dem Führersitz fand, in die Tasche steckte, geschah das eigentlich mehr mechanisch. Aber für alle Fälle nahm ich noch die Gummimatte mit. Es hätten sich ja dort noch kleine Glassplitter finden können, die erst nach eingehenderer Untersuchung zu entdecken waren. Dann fiel mir der merkwürdige Brief in die Hände, der das furchtbare Geheimnis enthüllte, das Ranten mit sich herumgetragen und ihn zu dem verzweiflungsvollen Schritt getrieben hatte. Damit sah ich die ganze Angelegenheit als erledigt an. Das Rätsel schien seine Lösung gefunden zu haben. Ranten hat sein Leben für jenes hingeben müssen, das er genommen hatte. Eine derartige Annahme lag ja nahezu auf der Hand.

Aber jemand, der einen Selbstmord begeht, will gern den Anschein geben, als ob es sich um einen Unglücksfall handle. Ja, in der Kriminalgeschichte gibt es sogar Belege dafür, daß ein Selbstmörder seinen Freitod so vorbereitete, daß es aussah, als ob er einem Mörder zum Opfer gefallen wäre. Generalkonsul Barckhausen in Berlin zum Beispiel hat es so gemacht. Er hatte eine Lebensversicherung auf zweihunderttausend Mark aufgenommen, um seine Familie vor Not zu bewahren. Aber da die Lebensversicherung nicht im Falle von Selbstmord galt, mußte er seinem Tode den Anschein von Mord geben. Alles war so vorbereitet, daß es so aussehen sollte, als ob Barckhausen in der Nacht von Einbrechern an seinem Schreibtisch überrascht worden wäre, die durchs Fenster eingestiegen waren. Man fand ihn mit einer Schußwunde im Kopf, die rechte Hand krampfhaft um einen Totschläger und eine zerrissene Krawatte geballt. Alles im Zimmer deutete auf einen furchtbaren Kampf hin. Die Kriminalpolizei stellte indessen fest, daß Barckhausen unmöglich mit einer Waffe in der Hand einem andern die Krawatte abgerissen haben konnte, ohne daß ihm die Waffe aus der Hand geglitten wäre. Man fand es auch merkwürdig, daß er – anscheinend beim Schreiben überrascht – noch Zeit gefunden haben sollte, seinen Füllfederhalter ordentlich zuzuschrauben. Daß der Mord fingiert war, zeigte sich schon am Tage darauf, da ein Postbeamter der Polizei Barckhausens leere Brieftasche überbrachte, die er in einem Briefkasten in der Nähe der Wohnung des Generalkonsuls gefunden hatte. Da bewiesen werden konnte, daß Barckhausen zu dem Zeitpunkt, als der Briefkasten geleert wurde, noch gelebt hatte, lag der Betrug auf der Hand.

Du wunderst dich vielleicht darüber, daß ich dir diese Geschichte im Zusammenhang mit Rantens Tod erzähle, aber das hat seine Gründe, wie du gleich hören wirst.

Was glaubst du, Ringe, habe ich auf der Gummimatte des Delage gefunden?«

Williams machte eine Pause und zog an seiner Pfeife. Dann fuhr er fort:

»Blut, mein Lieber, Blutflecke. Sie sind natürlich nicht allzu deutlich, aber das ist ja nicht zu verwundern, da das Auto immerhin längere Zeit im Wasser gelegen hat. Daß sie ziemlich frisch sind, habe ich bereits festgestellt.

Ranten war, wie wir bereits wissen, an den Händen verletzt, was auf ein Zerschlagen der Fensterscheibe hindeuten würde. Aber wenn er die Autoscheibe unter dem Wasser zerschlagen und seine Hände dabei verletzt hätte, würde das Blut sich sofort mit dem Wasser vermischt und keine Flecken hinterlassen haben. Und doch befinden sich Blutreste auf der Gummimatte. Kannst du das erklären?

Es gibt nur eine einzige Erklärung«, fuhr Williams fort, nachdem er sich sorgfältig eine neue Pfeife gestopft hatte, »und das ist die folgende: Die Verletzungen an Rantens Händen sind lange vorher entstanden, ehe er den Wagen ins Wasser steuerte. Das Blut braucht eine gewisse Zeit, um zu gerinnen, und in dem vorliegenden Falle, wo es auf die ziemlich warme Gummimatte niedergetropft ist und sich in den kleinen quadratförmigen Vertiefungen gesammelt hat, braucht es zumindest einige Stunden. Wäre die Matte glatt gewesen, würde man bestimmt nicht mehr die kleinste Blutspur gefunden haben. Nun hat das Wasser nicht alles Blut auflösen können, sondern unbedeutende Reste sind in den Ecken der kleinen Quadrate zurückgeblieben, die der Einwirkung des Wassers am wenigsten ausgesetzt waren.

Schlußfolgerung: Ranten befand sich um halb elf in seinem Arbeitszimmer. Dafür haben wir Zeugen. Der Diener Gustafsson hat uns gesagt, daß er den Whisky zu diesem Zeitpunkt hineingebracht hätte. Etwas später kam Frau Ranten aus der Oper zurück und mischte selbst den Whisky für ihren Gatten. Daß Rantens Hände zu diesem Zeitpunkt noch unverletzt waren, kann also bezeugt werden.

Kaum eine halbe Stunde später kommt Ranten in die Garage, um mit dem Delage fortzufahren. So behauptet wenigstens der Chauffeur Smith, der außerdem angibt, daß er den Wagen bei Bellmansro verlassen habe. Nach seiner Aussage war es genau elf Uhr. Rantens Uhr stand auf elf Uhr vierzig. Also in diesen vierzig Minuten soll Ranten seine Handverletzungen erhalten haben, soll das Blut auf die Gummimatte niedergetropft sein und Zeit zum Gerinnen gehabt haben, und außerdem soll das Auto zum Blockhauskap – ins Wasser – gefahren sein. Das ist ganz unmöglich, mein Lieber. Die Blutreste sprechen dagegen.

Man könnte auch annehmen, daß Ranten sich die Verletzungen zugefügt hat, zum Blockhauskap gefahren ist, aber nicht gewagt hat, seine Absicht auszuführen, sondern noch einige Stunden spazieren gefahren ist, um dann schließlich doch seine verzweiflungsvolle Tat zu begehen. Aber seine Uhr weist auf elf Uhr vierzig. In diesem Falle müßte er sie ein paar Stunden zurückgedreht haben. Aber was sollte er für einen Grund gehabt haben, die genaue Zeit seiner Tat zu verbergen? Es würde auf den Gang der Ereignisse doch keinen Einfluß haben, ob er sich das Leben um elf Uhr vierzig oder um ein Uhr vierzig nimmt. Das ist wirklich rätselhaft. Und noch rätselhafter wird die Sache, wenn man sie in Verbindung mit dem Brief bringt, auf dem man eigentlich Rantens Fingerabdrücke hätte finden müssen. Aber die fehlen, und statt dessen entdecken wir die Abdrücke eines Unbekannten. Diese können vom Absender des Briefes herrühren oder jemand anderem. Von jedem Menschen, nur nicht von Ranten. Das haben wir festgestellt.

 

Dann haben wir die zerbrochene Autoscheibe. Wie genau ich auch die Gummimatte untersucht habe, – außer der scharfkantigen Glasscherbe, die ich vom Führersitz an mich nahm, war kein einziges Stück Glas zu finden. Aber wenn in einem Auto, das drei bis vier Meter unter der Wasseroberfläche liegt, eine Scheibe zertrümmert wird, so müßten doch durch den Wasserdruck, denke ich, Scherben in das Auto hineingepreßt werden. Da im Wagen keine weiteren Glassplitter vorhanden waren, müßten sich an dem Platz, wo das Auto sank, welche finden. Und darüber will ich mich mal vergewissern. Ich werde morgen beizeiten einen Taucher niedersenden und eine genaue Untersuchung des Meeresbodens vor der Brücke vornehmen lassen. Findet er dort nicht ein Glasstückchen, das zu der zertrümmerten Scheibe gehört, dann steht fest, daß sie an einem anderen Platz zertrümmert worden ist.«

»Wenn es so ist, dann glaube ich, daß Ranten seinen Abschied vom Leben bedeutend besser vorbereitet hat als Generalkonsul Barckhausen«, fiel Ringe ein.

»Ja, man könnte sagen allzu gut, um einen Selbstmord als einen Unglücksfall erscheinen zu lassen«, antwortete Williams. »Wenn sich nicht als Glied in der Kette jener Brief angefunden hätte, würde ich mit dieser Theorie einverstanden sein. Aber dank diesem bin ich geneigt, an etwas zu glauben, was die Betreffenden mit ihren Maßnahmen gerne vertuschen wollten.«

»An was?« fragte Ringe.

»An Mord«, antwortete Williams.


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