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»Man könnte sich krank ärgern über alle diese Schreibereien in den Zeitungen wegen des Mordes am Torsplatz. Dieses ewige Geschimpfe auf die Polizei! ›Schläft der Polizeipräsident? Sind die Leiter der Fahndungsabteilung ihrer Aufgabe nicht gewachsen?‹ Ich möchte nur wissen, wie die Herren Kriminalreporter sich benehmen würden, wenn man sie auf einen so trostlosen Fall wie den Mord an Frau Save losließe!«

Advokat Sigurd Williams warf die Abendzeitung mit solcher Kraft auf den Tisch, daß sie auf den Boden flog. Dann stand er mit einem Ruck auf und begann mit kurzen, schnellen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen. Sein treuer Gehilfe, Gustav Ringe, an den diese Rede gerichtet war, verkroch sich noch tiefer in den bequemen Ledersessel und verfolgte mit ziemlich lahmem Interesse die Wanderung seines Freundes.

Williams und Ringe waren jetzt fast zehn Jahre zusammen. Das Advokaten- und Privatdetektivbüro, das der erstere gegründet und in das er Ringe aufgenommen hatte, hatte sich allmählich zu einem der angesehensten in Stockholm entwickelt. An Arbeit herrschte kein Mangel. Zivilprozesse gab es täglich mehrere, und außerdem wurde Williams oft als Strafverteidiger in Anspruch genommen, da er es verstand, mit Geschick und Erfolg die Sache seiner Klienten zu führen.

Übrigens hatte ihn eine Strafsache mit Ringe zusammengebracht. Mehr als zwölf Jahre war es jetzt her, daß der junge Jurastudent und Amateurmeister im Schwergewichtsboxen vor dem Amtsgericht stand, angeklagt wegen eines Raubüberfalles im Tiergarten. Ein paar berittene Polizisten hatten Ringe vor einem schwermißhandelten Manne auf den Knien liegend gefunden, dessen Brieftasche er in der Hand hielt. Der Mann war im Krankenhaus gestorben, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Niemand wollte Ringe Glauben schenken, als er beteuerte, daß er Hilferufe gehört habe und auf diese hin zum Tatort geeilt sei, ebenso daß er die Brieftasche des Mannes nur genommen habe, um dessen Identität festzustellen. Ringe wurde verhaftet und angeklagt. Seine Lage sah trostlos aus. Williams – seinerzeit noch ein junger, vorwärtsstrebender Jurist – hatte seine Verteidigung übernommen, und nicht genug damit, mit unendlicher Mühe war es ihm gelungen, den wirklichen Mörder zu ermitteln.

Ringe wurde freigesprochen und vollauf rehabiliert. Er bestand mit Glanz sein juristisches Examen und landete schließlich als Gehilfe bei seinem Verteidiger. Einen besseren und unermüdlicheren Mitarbeiter hätte Williams niemals bekommen können. Ringe sah seine Dankesschuld für so groß an, daß er glaubte, sie niemals abtragen zu können. Die Jahre vergingen, und das Freundschaftsband zwischen den beiden Männern wurde immer fester. Es waren auch nicht wenige Abenteuer, die sie zusammen erlebt hatten, sowohl hier in Schweden als auch im Auslande. Und viele schwierige Kriminalfälle hatten dank der Firma Williams & Ringe ihre Lösung gefunden.

Ringe streckte seine langen Beine weit von sich und faltete die kräftigen Hände über dem Leib. Er blinzelte seinem umherwandernden Freunde zu, wobei ein Lächeln sein offenes, breites Gesicht überzog. Bewunderung lag in dem Blick des blonden Riesen, mit dem er Williams' Wanderung durch das Zimmer folgte.

»Worüber regst du dich eigentlich so auf, verehrter Chef und Freund?« sagte er und streckte seine Hand nach der am Boden liegenden Zeitung aus.

Williams drehte sich und blieb mitten im Zimmer stehen. »Es ist nicht so sehr wegen der Schreibereien hier in der Zeitung, sondern vielmehr, weil ich es selbst nicht lassen kann, mich mit diesem Mord zu beschäftigen, mit dem ich ja eigentlich gar nichts zu tun habe. Die Kriminalpolizei möchte solche Sachen am liebsten ganz allein bearbeiten, ohne Privatdetektiv. Wie du weißt, habe ich ja nicht einmal Einblick in das Untersuchungsmaterial nehmen dürfen. Aber ich will der Polizei deshalb keine Vorwürfe machen. Sie hat ihre Grundsätze und pflegt von ihnen – außer im dringendsten Notfall – nicht abzuweichen. Und hier liegt offenbar ihrer Ansicht nach ein solcher nicht vor.«

»Aber es ist doch wirklich merkwürdig, daß man noch nicht einen einzigen Anhaltspunkt gefunden hat, der auf die Spur des Mörders am Torsplatz führt«, sagte Ringe und erhob sich, um sich vom Rauchtisch eine Zigarette zu holen.

Er zündete sie an, nahm einen langen Zug und ließ den Rauch langsam durch Mund und Nase ausströmen.

»Man müßte doch wenigstens so viel wissen«, fuhr er fort, »daß man gewisse Schlüsse ziehen könnte.«

»Nein, man weiß eben nichts«, erwiderte Williams, und klopfte, seine Worte unterstreichend, mit den Fingerknöchlein auf die Tischplatte. »Man weiß überhaupt nichts in diesem Fall, trotzdem das Motiv ziemlich klar liegt. Lustmord gibt die Polizei an. Die Umstände, unter denen die Frau angetroffen wurde, deuten darauf hin. Ja, es kann schon so sein. Dennoch bin ich nicht völlig sicher, daß sie wirklich einem Lustmörder zum Opfer fiel. Aber selbst, wenn der Schluß, zu dem man, das Motiv betreffend, gekommen ist, richtig ist, so löst man doch einen Mordfall nicht nur dadurch, daß das Motiv klar liegt. Die Deutschen haben recht, wenn sie von den sieben ›goldenen W‹ des Kriminalisten sprechen. Das bedeutet, wie du vielleicht weißt, daß man, um einen Mordfall glücklich aufklären zu können, auf sieben bestimmte Fragen eine Antwort haben muß. Was? Wer? Wann? Wo? Wie? Womit? Weshalb?, fragt sich der deutsche Kriminalist, wenn er an die Untersuchung eines Mordfalles geht. Hier hast du seine sieben ›goldenen W‹. Nehmen wir also an, daß, wie in diesem Falle da am Torsplatz, eine Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden wird, so fragt man sich zuerst: Was ist geschehen? Mord, Selbstmord, Tod durch Unglücksfall oder Krankheit? Was die Angelegenheit am Torsplatz betrifft, lautet die Antwort: Mord. Darüber herrscht nicht der geringste Zweifel.

Gehen wir zur nächsten Frage über: Wer? Wer ist der Ermordete? Jetzt wird die Sache schon schwieriger. Man kann natürlich antworten, daß die Tote Gunhild Maria Save ist, wohnhaft in einer kleinen Zweizimmerwohnung im Hause Torsplatz vier, in der sie ermordet aufgefunden wurde, laut amtlichen Papieren am dreiundzwanzigsten August achtzehnhundertneunundneunzig in irgendeinem Kirchspiel in Westgötland geboren, im Alter von zweiundzwanzig Jahren nach Amerika ausgewandert und vor etwa drei Jahren nach Schweden zurückgekehrt. Anscheinend hat sie ein paar Sparpfennige gehabt, denn während ihres Aufenthaltes in der Heimat hat sie nicht gearbeitet. Hie und da wurde sie mit verschiedenen Herren in Lokalen gesehen, und wenn man gewissen Redereien Glauben schenken will, so ist ihre Lebensführung nicht ganz einwandfrei gewesen. Aber das ist auch alles. Ohne Zweifel gibt es mehrere dunkle Punkte in ihrem Leben, und die müssen aufgeklärt werden, ehe man die Frage nach ihrer Identität als vollauf zufriedenstellend beantwortet betrachten kann.

Die nächste Frage hingegen: Wann? Wann geschah es? ist leichter zu beantworten. Die Ärzte vermochten ja den Zeitpunkt des Ablebens ziemlich genau zu bestimmen. Man hat feststellen können, wann Frau Save zuletzt von ihren Nachbarn gesehen worden ist, so daß dieser Punkt der Polizei kein besonderes Kopfzerbrechen zu verursachen brauchte, ebenso wenig wie die nächste Frage: Wo? Wo geschah es? Die Antwort hierauf ist ganz klar, denn Frau Save wurde in ihrer Wohnung ermordet. Das ist unumstößliche Gewißheit. Alle Anzeichen am Tatort deuten darauf hin.

Wie geschah es? Wie? Hier hast du die nächste Frage, und auch diese glaubt man zufriedenstellend beantworten zu können. Ich für meinen Teil allerdings finde, daß vieles darauf hindeutet, als ob von seiten des Mörders gewisse Arrangements getroffen worden sind. Nach meiner Auffassung hat er den Anschein erwecken wollen, als ob die Sache sich anders verhielte, als sie es in Wirklichkeit tut. Diese Frage hängt indessen eng mit der siebenten zusammen: Weshalb? Weshalb geschah es? Mit dem Motiv also. Und das liegt nicht so offen auf der Hand, wie die Herren Kriminalisten anzunehmen scheinen.

Auf die sechste Frage: Womit? Womit geschah es? gibt es überhaupt keine Antwort, da das Mordinstrument in der Wohnung nicht gefunden wurde. Ein stumpfer Gegenstand, der die Hirnschale zertrümmert hat, wenn man dem ärztlichen Befund folgen will. Wieviele stumpfe Gegenstände gibt es nicht, die derartige Wunden verursachen, wenn man mit ihnen auf die schwache Hirnschale einer Frau einschlägt! Man hat auf die verschiedensten Objekte getippt, auch auf eine schwere Kristallvase in der Wohnung – die Vase müßte dann nach der Tat gesäubert worden sein –, aber ich glaube nicht recht an diese Mutmaßung. Der Mörder nahm das Mordinstrument mit, als er ging. Hätte er es zurückgelassen, so wären wir zweifelsohne der Aufklärung des Falles ein gutes Stück näher gekommen.

Du siehst also selbst, Ringe, wie unvollständig die Antworten auf die sieben zur Lösung eines Mordfalles notwendigen Fragen sind. Eine von ihnen ist überhaupt nicht geklärt. Es ist daher nicht zu verwundern, daß es der Polizei bisher nicht gelang, Licht in das Dunkel um den Tod der Frau Save zu bringen und eine Spur ihres Mörders zu finden. Weiß der Himmel, dieser Mord geht mir nicht aus dem Kopf, und hätten wir in unserer Praxis gerade jetzt im Augenblick nicht so ungeheuer viel zu tun, würde ich bestimmt auf eigene Faust in dieser Sache weiterforschen. Doch ich weiß, wieviel Zeit man braucht, wenn man sich ganz einer Sache widmen will, besonders wenn sie so trostlos aussieht wie diese hier.

Entschuldige – ich bin ganz trocken im Hals von dem vielen Reden. Was hältst du von einem kleinen Whisky, ehe Elsie zu Tisch ruft? So etwas pflegt ja den Appetit anzuregen. Ich meine natürlich den Whisky. Daß Elsies Mittagstisch appetitanregend ist, versteht sich von selbst, oder wie, alter Knabe?«

»Ja, das will ich meinen«, antwortete Ringe. »Und was den Whisky betrifft, der kann wohl nichts schaden, wenn er nicht zu stark ist.«

Williams drückte auf die Klingelleitung, ein Mädchen kam herein, erhielt Auftrag, und bald darauf stand das Gewünschte vor den beiden Herren. Unter Stillschweigen erhoben die Freunde ihr Glas und tranken. Williams zündete sich seine Pfeife an und ließ sich in dem bequemen Sessel neben Ringe nieder.

»Um auf den Fall Save zurückzukommen«, begann er, »so würde ich, wenn ich Polizeipräsident wäre, die ganze Fahndungsarbeit darauf konzentrieren, soviel wie möglich aus der Vergangenheit der Toten zu erfahren. Ich würde einen tüchtigen Kriminalisten in das westgotländische Kirchspiel schicken, in dem Frau Save geboren ist. Der müßte in jede Hütte und in jedes Haus hineingehen und mit jedem Menschen, den er trifft, über Frau Save sprechen, um das Leben der kleinen Schwedisch-Amerikanerin zu durchforschen. Die amerikanischen Polizeibehörden sind wahrscheinlich nicht allzu sehr an der Aufklärung eines Verbrechens interessiert, das außerhalb ihrer Grenzen begangen wurde. Sie haben genug mit ihren eigenen Mördern zu tun. Da unsere Polizei recht knappe Geldmittel zur Verfügung hat, müßte man natürlich auch nach Amerika einen begabten Kriminalisten senden, der Nachforschungen nach dem Tun und Lassen der Frau Save da drüben anstellt. An irgend etwas, das für die Nachforschungen hier bei uns in Schweden nützlich ist, wird er drüben schon stoßen. Und dann bekäme man vielleicht eine ausführlichere Antwort auf die Frage: Wer ist die Ermordete? und vielleicht auch auf die Frage: Warum wurde sie ermordet?«

Die Flügeltüren öffneten sich, und Elsie Williams erschien in der Türöffnung.

 

»Es ist angerichtet, meine Herren«, verkündete sie lächelnd und trat ins Zimmer. »Darf ich bitten.« Gerade als sie Williams und Ringe den Arm bot, um sie ins Eßzimmer zu geleiten, erscholl vom Tischtelephon her ein starkes, anhaltendes Klingeln.

»Einen Augenblick bitte, Elsie«, sagte Williams. »Ich will nur hören, was man schon wieder von mir will. Du kannst Ringe inzwischen zu Tische führen.«

Williams griff nach dem Hörer; Ringe nahm Elsie Williams' Arm und verschwand mit ihr im Eßzimmer.

»Beeile dich, sonst wird alles kalt«, rief Elsie ihm noch zu.

»Advokat Williams«, hörte man seine Stimme. »Ach, bist du es, Cederqvist? Wie geht's – ein Unglücksfall? – Ranten ist mit seinem Wagen verunglückt – am Blockhauskap –? Wie furchtbar. – Ja, ich bin zuweilen als Anwalt für ihn tätig gewesen. Du weißt das? – Selbstverständlich komme ich – ist natürlich eine unangenehme Aufgabe. – Ja, ich verspreche dir, sie aufzusuchen. Wir sind in zehn Minuten da.«

Williams legte den Hörer auf und eilte ins Eßzimmer.

»Es hat sich leider ein trauriger Unglücksfall ereignet, Elsie, wir müssen uns sofort auf den Weg machen. Du läßt am besten unser Essen warm stellen. David Ranten, der Schwedisch-Amerikaner, ihr wißt, der die große Villa draußen in der Waldemarsbucht im Tiergarten hat, ist verunglückt. Er ist am Blockhauskap mit dem Auto ins Wasser gefahren, wahrscheinlich in der Nacht. Jetzt am Nachmittag wurde es erst entdeckt. Als die Bergungsmannschaft das Auto soweit aus dem Wasser hatte, daß man sehen konnte, wem es gehört, rief Kommissar Cederqvist mich an, weil er wußte, daß ich geschäftlich mit Ranten zu tun hatte. Nun will er, daß ich umgehend zum Unglücksplatz komme – anscheinend saß nur Ranten im Auto –, um dann so schonend wie möglich Frau und Tochter von dem Unglück in Kenntnis zu setzen. Wir müssen das Mittagessen noch etwas hinausschieben. Du kommst wohl mit, Ringe?«

Der große, kräftige Mann hatte sich bereits erhoben, während Williams sprach. Sein sonst so frisches und leicht gerötetes Gesicht war schneeweiß.

»Annie Rantens Vater«, stieß er hervor. »Das ist ja entsetzlich! Arme, kleine Annie! Ob sie wohl so einem harten Schlage standhalten kann? Sie ist ja so schwach und empfindsam.«

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, als ob er alle unangenehmen Gefühle abschütteln wollte.

»Selbstverständlich komme ich mit, Chef«, sagte er. »Ich kenne Annie Ranten, seit sie ein kleines Mädchen war. Vielleicht kann ich ihr irgendwie behilflich sein.«

»Elsie, du mußt entschuldigen, daß wir im Augenblick deinen leckeren Gerichten keine Ehre antun können«, sagte Williams und legte den Arm um seine Frau. »Ich versprach Kommissar Cederqvist, in zehn Minuten dort zu sein. Wenn wir zurückkommen, wirst du ein paar hungrige Wölfe sehen, die alles verschlingen, was du ihnen vorsetzest. Auf Wiedersehen, Liebling. Beeil dich, Ringe!«

Eine Minute später waren die beiden Freunde in Williams' Auto auf dem Wege zum Blockhauskap.


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