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11

Williams setzte sich ans Steuer seines Wagens und fuhr langsam in die Stadt zurück. Was er von dem Diener Gustafsson erfahren hatte, gab ihm zu denken.

Der Chauffeur Smith pflegte oft Ruderfahrten zu den stillgelegten Schiffen zu unternehmen. Das ging deutlich aus Gustafssons Bericht hervor. Im übrigen hatte er ja auch selbst gesehen, daß Smith sich dort hinaus begab. Über den Zweck dieser Fahrten war sich Williams noch nicht ganz klar. Vielleicht hatte es gar keinen Sinn, Gustafssons Beobachtungen an dem Abend vor vierzehn Tagen Beachtung zu schenken. Es konnte ja möglich sein, daß der Alte viel länger in seinem Zimmer umhergekramt hatte, als er selbst glaubte, und daß Smith demzufolge genügend Zeit gehabt hatte, zum Strand zurück und wieder ein Stück hinaus zu rudern. Aber wenn dem so war, weshalb ruderte Smith zu den Schiffen hinaus und kam gleich darauf zurück? Das war die Frage, auf die eine Antwort gefunden werden mußte.

Als Williams in sein Büro zurückkam, saß Ringe dort ohne Beschäftigung. Er war dabei, auf einen leeren Bogen Männchen zu zeichnen.

»Wo bist du gewesen?« fragte er und gab sich den Anschein, so uninteressiert wie möglich zu sein. Aber man hörte es seiner Stimme an, daß er vor Neugierde brannte, was für Neuigkeiten Williams mitbrachte.

»Ich war in der Tiergartenvilla und habe Fräulein Ranten besucht.« Williams ließ sich in den Sessel nieder und begann, seine geliebte Pfeife zu stopfen.

Das war eine umständliche Prozedur, die mehrere Minuten in Anspruch nahm. Während dieser Zeit wurde kein Wort gewechselt. Williams schien sich nur für die Pfeife zu interessieren, und Ringe folgte dem Tun seines Freundes ohne besonderes Interesse.

Als Williams endlich seine Pfeife in Brand gesetzt hatte, sah er zu Ringe hinüber und lachte.

»Du scheinst doch nicht so neugierig zu sein, wie ich glaubte«, sagte er. »Nach einer solchen Mitteilung hatte ich von meinem Mitarbeiter eine ganz andere Miene erwartet. Fräulein Ranten schien heute nicht in bester Stimmung zu sein.«

»Sie hat es wohl nicht gut, nach dem Tode ihres Vaters. Ihre Stiefmutter und sie scheinen nicht besonders miteinander zu stehen, und das wundert mich auch nicht. Annie und sie sind sich ja so ungleich.«

»Auf jeden Fall habe ich mir von beiden Fingerabdrücke verschafft, ohne daß sie eine Ahnung davon haben, daß ich an ihren Fingerspitzen so interessiert bin«, sagte Williams und tat ein paar tiefe Züge aus seiner Pfeife.

»Wie hast du denn das gemacht? Das möchte ich wirklich gern wissen«, sagte Ringe.

»Wenn du mitkommst ins Laboratorium und mir ein wenig hilfst, wirst du das erfahren und noch ein wenig mehr«, antwortete Williams und erhob sich. »Es haben sich tatsächlich große Dinge heute ereignet. Es handelt sich anscheinend nicht nur darum, einen geheimnisvollen Mordfall zu lösen, sondern wir werden auch noch über andere Probleme zu grübeln haben. Aber komm jetzt.«

Im Laboratorium zog Williams sich ein Paar dünne, schwarze Seidenhandschuhe über.

»Es ist unnötig, auf dieses Papier hier noch mehr Fingerabdrücke zu setzen«, sagte er und zog den Briefumschlag aus der Rocktasche.

Er untersuchte ihn lange und eingehend mit einem starken Vergrößerungsglas.

»Just das, was ich dachte«, sagte er und sah seinen Freund an. »Dieser Briefumschlag war schon geöffnet, ehe ich ihn heute aufbrach, nachdem Herr Ranten seine fünf Siegel auf die Rückseite gedrückt hatte. Aber es ist vielleicht am besten, ich erzähle dir von Anfang an.

Dieser Umschlag hier hat einmal Herrn Rantens Testament enthalten, daran herrscht kein Zweifel. Es ist seine Schrift auf der Vorderseite, und der Namenszug ist bestimmt echt. Auch die Siegel sind echt. Trotzdem enthielt der Umschlag, als ich ihn vor einigen Stunden im Beisein der Witwe und Tochter aufbrach, nur einen Bogen unbeschriebenes Papier, und zwar einen Bogen von derselben Sorte wie der, auf dem der Drohbrief geschrieben war. Außerdem war Fräulein Rantens Brief an dich auch auf dem gleichen Briefpapier geschrieben.

Einen versiegelten Umschlag aufzumachen, ist ja, wie du weißt, keine besondere Kunst. Und was diesen hier anbelangt, so sind drei von den Siegeln vorsichtig mit einem dünnen Federmesser fortgenommen worden. Den geklebten Verschluß dann über Dampf aufzulösen, geht in einem Hui, das wird ja überall da gemacht, wo es eine heimliche Briefzensur gibt. Dann hat man nur den Inhalt herauszunehmen, ihn durch ein weniger wertvolles Papier zu ersetzen und den Umschlag wieder zuzukleben. Die Siegel werden an ihrem alten Platz festgeklebt, und das Ganze sieht dann ebenso fein und ordentlich aus wie vorher. Nimmt man aber ein Vergrößerungsglas zur Hand, ist es nicht schwer, Gummispuren an den Rändern der Siegel zu entdecken. Ein besonderer Experte im Brieföffnen scheint hier nicht an der Arbeit gewesen zu sein. Ein Fachmann würde bedeutend bessere Arbeit geleistet haben.

 

Nun gilt es, festzustellen, ob Herrn Rantens Finger überhaupt diesen Umschlag berührt haben. Sei so freundlich und suche die Photographien heraus, die wir von seinem Abdruck, von den Abdrücken auf dem Drohbrief und auf Fräulein Rantens Brief an dich gemacht haben. Ich werde unterdessen den Umschlag präparieren.«

Williams begann mit seiner Arbeit, und bald darauf hatte er ein paar Fingerabdrücke fixiert, die bei einem Vergleich mit den Photographien bewiesen, daß es sich um Herrn Rantens Finger handelte.

»Die Sache scheint also klar zu sein. Herr Ranten hat diesen Briefumschlag hier in Händen gehabt, und da kann man es auch als eine Tatsache ansehen, daß er sein Testament hineingelegt hat, ehe er den Umschlag in den Tresor einschloß«, sagte Williams und blies das schwarze Pulver vom Umschlag fort.

»Jetzt kommen wir zu dem interessanteren Teil unserer Untersuchung: dem Inhalt des Umschlags, dem leeren Bogen, den jemand, wer es nun auch sein mag, an Stelle des gestohlenen Testamentes in das Kuvert gelegt hat.« Williams nahm den Bogen vorsichtig zwischen seine seidenumkleideten Fingerspitzen.

»In der Ecke hier oben werden wir Fräulein Rantens Fingerabdruck finden, und etwas weiter unten habe ich Frau Ranten sich verewigen lassen.«

Er legte den Bogen auf den Tisch und begann die Oberseite mit einem schwarzen Pulver zu präparieren. Ringe stand über ihn gebeugt und verfolgte mit Interesse die Arbeit.

»Ja, hier ist genau dasselbe Muster wie auf den Abdrücken, die wir auf den beiden in unserem Besitz befindlichen Briefen gefunden haben«, sagte er, indem er die eine Ecke des Bogens genau untersuchte.

»Das ist Fräulein Rantens Daumen. Bei diesen charakteristischen Menorlinien ist keine Täuschung möglich. Also hat sie aus dem einen oder anderen Grunde den Drohbrief in Händen gehabt. Ob sie ihn gelesen hat, ist eine andere Frage.«

»Ich glaube nicht, daß sie das getan hat«, antwortete Ringe. »Sie wirkte völlig unwissend, was den Brief anbelangt, als ich sie nach Hause brachte.«

 

»Verlaßt euch nicht auf die Frauen«, deklamierte Williams, während er fortfuhr, den Brief mit dem Vergrößerungsglas zu untersuchen. »Ja, und hier ist die kleine Fingerspitze Frau Rantens. Sie hat ein einfaches Zeltbogenmuster und unterscheidet sich deutlich von Fräulein Rantens. Aber was ist denn das hier? Es scheint noch mehrere Daumenabdrücke auf dem Bogen hier zu geben, mein Lieber.«

Williams legte das Vergrößerungsglas aus der Hand und sah seinen Freund und Teilhaber an.

»Weißt du, Ringe«, sagte er, und seine Stimme klang ernster als gewöhnlich. »Das war auf jeden Fall die größte Überraschung heute. Kannst du dir denken, was ich auf dem leeren Bogen gefunden habe?«

Ringe sah seinen Freund fragend an und schüttelte den Kopf.

»Ja.« Williams machte eine Pause und nahm das Vergrößerungsglas wieder zur Hand. »Auf dem Briefbogen hier habe ich nicht weniger als vier Abdrücke von Fräulein Rantens Daumen entdeckt. Daß ich einen finden würde, habe ich gewußt, denn ich habe sie selbst dazu gebracht, ihn dahin zu setzen. Aber die anderen drei, die sich hier weiter unten am linken Rand befinden – du kannst selbst feststellen, daß sie mit dem vierten vollkommen übereinstimmen – die müssen schon früher dahin gekommen sein. Begreifst du, was das bedeutet?«

»Das kann doch nicht möglich sein. Sollte Annie …? Nein, ich will das einfach nicht glauben, Sigurd«, antwortete Ringe mit tonloser Stimme.

»Das bedeutet«, fuhr Williams unbarmherzig fort, »daß Fräulein Ranten den Bogen in der Hand gehabt haben muß, ehe er in den Umschlag hineingelegt wurde, um als Testament zu gelten. Man könnte also die Schlußfolgerung ziehen, daß sie und kein anderer beim Verschwinden des Testaments ihre Finger im Spiel gehabt hat. Handelte es sich hier um Testamentsunterschlagung und käme die Sache vor Gericht, würde kein Richter der Welt Fräulein Ranten freisprechen. Das Vorhandensein der Fingerabdrücke würde als Beweis angesehen werden, daß sie das Testament gestohlen hat. Zuverlässigere Indizien könnte man sich kaum denken.«

»Annie, die für mich die edelste und beste Frau ist, sollte eine gewöhnliche Diebin sein? Nein, Sigurd, ich kann, ich will es nicht glauben. Wir müssen den Beweis bringen, daß sie unschuldig ist. Die Sache muß sich doch irgendwie aufklären, glaubst du nicht?«

Williams saß, den Kopf in beide Hände gestützt, und starrte zum Fenster hinaus. Auch für ihn, den erfahrenen und scharfsinnigen Detektiv, war das eine ziemliche Überraschung. Er hatte ja Annie Ranten gebeten, das Papier in die Hand zu nehmen, um einen Fingerabdruck von ihr zu bekommen und etwas zum Vergleichen bei der Identifizierung der Abdrücke auf dem Drohbrief und auf ihrem Brief an Ringe zu haben. Diese Abdrücke waren vollkommen gleich, weshalb es auf der Hand lag, anzunehmen, daß sie von ihren Fingern herrührten. Aber erst, nachdem er einen Abdruck bekommen hatte, der in seiner Gegenwart zustande gekommen war, konnte er die Tatsache als wirklich sicher ansehen.

Er stand nun vor einem neuen Problem. Es war sicher, daß Fräulein Rantens Fingerabdrücke sich auf dem leeren Bogen befunden hatten, bevor Williams ihn in die Hände bekam. Aber war das ein Beweis, daß sie auch das Testament gestohlen hatte? Konnten die Fingerabdrücke nicht auf eine andere Weise auf das Papier gekommen sein?

 

Williams erhob sich und begann im Laboratorium auf und ab zu gehen. Ringe nahm das Vergrößerungsglas, setzte sich und fing an, die Fingerabdrücke auf das genaueste zu untersuchen. Er machte das gründlich und methodisch und verweilte bei jedem Abdruck längere Zeit.

»Während du nachdenkst, werde ich eine Photographie von dem Bogen machen«, sagte Ringe, indem er sich erhob und mit der Kamera zu hantieren begann. Nachdem er die Aufnahme gemacht hatte, verschwand er in der Dunkelkammer. Nach einigen Minuten kam er mit der noch feuchten Platte in der Hand zurück und stellte den elektrischen Ventilator an.

»Na, geglückt?« fragte Williams, ohne seine Wanderung zu unterbrechen.

»Abwarten.« Wieder verschwand Ringe in der Dunkelkammer.

Diesmal blieb er bedeutend länger.

Als er wieder herauskam, strahlte sein Gesicht vor Zufriedenheit. Es war ihm deutlich anzusehen, daß er glaubte, eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben.

Nachdem er die nach Spiritus riechenden Kopien vor dem Ventilator getrocknet hatte, reichte er sie Williams mit den Worten:

»Hast du vielleicht dieselbe Entdeckung gemacht wie ich?«

Williams nahm die Kopien und sah seinen Freund an.

»Ich glaube zu wissen, was du meinst«, sagte er und blieb stehen. »Mein lieber Ringe, ich freue mich wirklich, daß du ein so scharfer Beobachter geworden bist. Es dauert sicher nicht mehr lange, bis du deinen alten Freund und Lehrmeister überholt hast. Laß hören, was du auf dem Herzen hast.«

»Vielleicht ist es ganz bedeutungslos«, antwortete Ringe, »aber ich finde es recht merkwürdig, daß sich diese drei Daumenabdrücke – ich spreche nicht von dem, den Annie Ranten in deiner Gegenwart hingesetzt hat – in gleichem Abstand vom Rande des Briefbogens und parallel zueinander befinden. Die Mittellinien der Abdrücke bilden genau den gleichen Winkel zum Rand des Bogens. Die gleiche Beobachtung habe ich bei den Abdrücken auf dem Drohbrief gemacht, aber damals habe ich mir nicht viel dabei gedacht.«

»Du hast ganz recht, Ringe«, antwortete Williams. »Gerade darüber denke ich auch nach. Diese Abdrücke sind wirklich rätselhaft. Tatsache, sie stammen von Fräulein Rantens Fingern. Aber ist es so sicher, daß sie sie selbst auch dahingesetzt hat?«

»Verdächtigst du jemand?« fragte Ringe.

»Verdächtigen kann man ja immer, doch Beweise haben wir nicht. Ich werde aber inzwischen ein Telegramm an Woods Detektivbüro in New York schicken und um eine bestimmte Auskunft bitten. Es dauert vielleicht einige Tage, bis die Antwort kommt. Unterdessen werde ich mir mal den Schiffsfriedhof etwas näher ansehen. Die Ruderfahrten des Chauffeurs Smith interessieren mich wirklich.«


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