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Fritz Müller-Partenkirchen

(Fritz Zürcher; eigentl.: Fritz Müller)

Geboren am 24. Februar 1875 in München; gestorben am 4. Februar 1942 in Hundham/Obb.

Der Sohn eines Spediteurs arbeitete nach einer kaufmännischen Ausbildung als Buchhändler, Auslandskorrespondent und Sekretär bei einer Münchner Handelsfirma. Er war dann Geschäftsführer einer Immobiliengesellschaft in Partenkirchen, später Leiter der Höheren Handelsschule in Dortmund. 1908-1912 hielt er sich in Südostasien, Nordamerika und Bolivien auf. In Zürich studierte er einige Semester Volkswirtschaft und Jura, ließ sich dann dort als freier Schriftsteller nieder. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs kehrte er nach Partenkirchen zurück und unterrichtete an der Realschule.


Der Schäfflertanz

Der Schäfflertanz ist ein Stück von München. »Ein Kernstück bitt' ich mir aus, Herr Viertelmaier, und net wieder was von der Wamp'n!« sagen sie in München zum Schlächter.

München ohne Schäfflertanz ist ein Ochs ohne Kernstück. Krieg, Verlust und Not hatten den Schäfflertanz um die Ecke gebracht. Jetzt ist er wieder auferstanden. Weiß die Strümpfe, rot die Röcke, grün die Reifen Grau, du hast verspielt.

Als die schwarze Pest die Stadt zutiefst gebeugt, sprang dieser Tanz aus einem Leib voll Grauen in den hellen Tag: »Da bin ich, Kinder, dadadam...« Die Melodie ist unauslöschlich. Es gibt Münchner, die können irgend ein Lied anstimmen es wird immer wieder der Schäfflertanz daraus.

Mir ist der Schäfflertanz die früheste Erinnerung. Daß ich nicht lüge, der Schäfflertanz und das Zahnweh.

»Das Geplärr von dem wehleidigen Zahnwehdeppen kann man ja nimmer anhören,« sagte mein großer Bruder.

»Arm's Büaberl,« kraute mich die Tante, »gehst heut' nachmittag in d' Sendlingerstraß', gell?«

»Unsinn,« knurrte mein Vater, »erstens der Zug! und zweitens überhaupt!«

»Und drittens hat der alte Tieglmaier keine Kraft mehr,« sagte Onkel.

»Und veraltet ist er.«

»Zahnweh ist ja auch nichts Neues,« verteidigte ihn die Mutter, »übrigens soll er Assistenten haben.«

»Arm's Büaberl,« kraute mich die Tante, »soll ich mitgehen?«

»Unsinn,« knurrte Vater, »erstens überhaupt und zweitens tut es grad so weh.«

Dann saß ich in der Sendlingerstraße in einem roten Plüschstuhl. Erst kam die alte Frau Tieglmaier herein, legte mir die Hand auf meine sieben Jahre und blies sanft an meine Schläfe: »Heila, heila Katzendreck Bis d' heiratst, ist es alles weg.«

Dann kam der alte Herr Tieglmaier selber und klopfte mich auf den Backen: »Heila, heila Segen Morgen gibt es Regen Übermorgen Schnee Dann tut es nimmer weh.«

»Zur Sache!« sagte ein energischer junger Mann, »mach den Mund auf, Bub!«

Ich machte den Mund auf. Darauf sagte der Assistent was Lateinisches. Dann riß er an dem Zahn herum. Schließlich sagte er wieder etwas Lateinisches, schüttelte den Kopf und ging.

Brüllend saß ich im roten Plüschstuhl und sah mich im Spiegel jämmerlich bluten.

»Zur Sache!« schrie ein zweiter Assistent und blickte mir in den heulenden Rachen: »Aha, ich dachte mir's, die Wurzel allen Übels.« Darauf riß er an dem Zahn herum.

»Heila, heila Katzendreck!« streichelte mir dabei Frau Tieglmaier die Hand.

»Heila, heila Segen!« nickte der alte Zahnarzt vom Fenster her.

»Zur Sache!« schrie der erste Assistent.

»Jaja, ich dachte mir's, die Wurzel allen Übels!« wiederholte der zweite Assistent und riß und riß. Im Spiegel sah ich's rosenrötlich weiterrinnen. Ich plärrte ohne Pause. Weil ich damit alle andren Laute der Umwelt abschloß, kam's mir plötzlich still vor. Darüber erschrak ich und setzte einen Atemzug mit Plärren aus.

»Dadadadam, dadadam!« erklirrten leis die Scheiben. Des alten Tieglmaiers Finger trommelten mit. Sein Sammetkäppchen wiegte sich beglückt.

»Zur Sache!« schrie der Assistent.

»Aber Herr Assistent,« sagte Frau Tieglmaier, »wo er doch nur alle sieben Jahr ist, und wo ihn das Büaberl überhaupt noch nie gesehn hat, seitdem er auf der Welt ist komm, Büaberl, komm.«

Ich rührte mich nicht auf meinem roten Folterstuhle.

»Bravo,« sagte der Assistent, »der Bub ist gescheiter, als«

»Weil i anbunden bin!« brüllte ich.

»Arm's Büaberl, o mei', o mei', so an arm's Büaberl...!«

Ich wurde losgebunden. Ich wurde ans Fenster geführt. Ich durfte hinunterschaun. Ich wurde von hinten auf den Kopf geklopft: »Das hat er sich verdient schaug nur, armes Hascherl, schaug...«

Ich schaute, daß mir die Augen übergingen. Weiß die Strümpfe, rot die Röcke, grün die Reifen auf einem Fasse stand ein Obertänzer in einem offenen Reifen schwang er ein gefülltes Weinglas in seltsamen Schlangenkreisen dadadam, dadadam...

Neben mir stand der Alte: »Gell, Büaberl, da schaust?«

Und seine Frau streichelte mich: »Nur alle sieb'n Jahr, Büaberl, nur alle sieb'n Jahr.«

In dem anderen Fenster lagen stumm die Assistenten. Zahnweh, was war das doch? Ich konnte mich nicht mehr besinnen. Dadadam, dadadam – golden gleißte die Welt. »Komm herunter, halt's Faß!«

»Jesses,« sagte Frau Tieglmaier stolz, »das Faßl darf er halten, dem Oberschäffler sein Faßl darf er halten.«

Und dann hielt ich inmitten einer buntbewegten Menge das Faß, vielleicht stundenlang, vielleicht tagelang. Und in dem offnen Reifen schwang unaufhörlich kunstvoll das gefüllte Rotweinglas mit zauberischen Schlangenkreisen vielleicht jahrelang.

»I schaug schon den ganzen Tag zu,« sagte ein Bürger, »kein Tropfen hat er noch verschütt't.«

»Kein Tropfen? Lassen S' mir aus,« sagte höhnisch eine andre Stimme, »was is' nacha des, was auf dem Buam sei Mäul 'runtertropft is, ha?«

Betroffen schauten sie mich an. Betroffen hielt der Oberschäffler ein mit Schwingen. Dadadam, tropfte die Musik ins Leere. Noch drei Sekunden und der ganze Schäfflertanz ging aus dem Leim.

Ich fühlte mich als Mittelpunkt. Ich mit meinen sieben Jahren hatte den Schäfflertanz in der Hand, den Schäfflertanz von allen sieben Jahren.

»Is ja gar nix wahr,« schrie ich, »des is ja gar kei Wein, des is ja Blut!«

»Des könnt a jeder sag'n.«

»Schaugt's her!« riß ich den Mund auf.

Das Publikum nickte. Der Oberschäffler lächelte sieghaft. Dadadam, dadadam, schwang der Reifen wieder seine roten Feuerkreise.

»Ziehn hast dir'n lassen,« zischelte es neben mir, »aber Bua, du hast'n ja noch drin!«

Dadadam, überschwoll sein Zischen die Musik.

*

Ich habe ihn heute noch drin. Er ist mein bester Zahn. Ohne den Schäfflertanz hätte ich ihn nicht mehr drin.

Damals war es nur ein Zahn. Heute ist es mehr. Heute sehe ich den Zusammenhang. Der alte Tieglmaier hatte recht, nicht seine Assistenten. »Dachte mir's,« doktern dir und reißen dir die Sachverständigen herum an deinem Leben, »Wurzel allen Übels schwieriger Fall«

Dadadam, dadadam, erklirren leis die Scheiben.

»Zur Sache!«

Dadadam, dadadam –

Mensch, bitte deinen Gott, daß er dir einen Tieglmaier schickt, einen, dessen Sammetkäppchen leis im Takt sich wiegt; einen, der das Fenster lächelnd aufmacht: »Erst der Schäfflertanz, das andere wird sich finden.« Es findet sich, verlaß dich drauf, der Alte behält recht und du behältst die Zähne.


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