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Maximilian Schmidt, gen. Waldschmidt

Geboren am 25. Februar 1832 in Eschlkamm/Bayerischer Wald; gestorben am 3. Dezember 1919 in München.

Der Sohn eines Oberzollverwalters studierte ab 1848 am Polytechnikum in München und schlug 1850 die militärische Laufbahn ein, die er krankheitshalber 1874 als Hauptmann beenden mußte. 1884 ernannte ihn Ludwig II. zum Hofrat; 1898 verlieh ihm Prinzregent Luitpold den erblichen Namenszusatz »genannt Waldschmidt«.

Maximilian Schmidt war ein bekannter Autor des 19. Jahrhunderts; er verfaßte ein umfangreiches Werk aus Volkserzählungen, Humoresken, Skizzen und Theaterstücken.

Im Jahre 1890 gründete Maximilian Schmidt zur Förderung des bis dahin unbedeutenden Tourismus in Bayern den Bayerischen Fremdenverkehrsverband und organisierte 1895 ein großes Volkstrachtenfest anläßlich des Münchener Oktoberfestes, aus welchem sich der jährliche Trachten- und Schützenzug zum Oktoberfest entwickelte.


Der vergangene Auditor

I.

Im Hofbräuhauskeller in München wurde der Genuß der schönen, lauen Sommernacht mit dem Schlage Zwölf vorschriftsgemäß dadurch abgeschnitten, daß der Genuß des Münchener Nektars durch Einschlagen des Spundes für heute ebenfalls seinen Abschluß gefunden, und da die verehrten Stammgäste an dem runden Tische zum Schwärmen allein nicht gekommen, so verabschiedete sich einer nach dem andern, oder sie gingen partieenweise zurück nach der Stadt über die Brücken, unter welchen der schäumende, grüne Bergstrom den Heimkehrenden eine gute Nacht zurauschte. Und eine gute Nacht konnte es werden. Morgen war ja Sonntag – Ruhetag – Ausschlaftag! Der Regimentsauditor, den wir uns als Opfer dieser wahrheitsgetreuen Erzählung ausersehen und welchen wir auf Schritt und Tritt verfolgen werden, sperrte mit solch seligen Gefühlen die Hausthüre seiner Wohnung auf und stolperte infolge tiefer Finsternis über die zwei Treppen hinauf zu seinen Gemächern. Er kam selten zu so später Stunde nach Hause. Dieses mochte auch dem Pudel der im ersten Stocke wohnenden alten Dame auffallen. Der Pudel war ein treues Tier, die Dame aber ebenso zuwider als häßlich, und ein Begegnen mit ihr hielt der Auditor immer für ein böses Omen. Jetzt bellte der Hund, als ob Räuber und Mörder vor der Thüre ständen. Der Auditor hatte inzwischen seine Hagestolzenwohnung erreicht und stolperte – er mußte sich diese Gattung von Fortkommen selbst eingestehen – in sein Zimmer, wo er erst nach Umwerfen einiger Stühle die Streichhölzchen fand. Noch bevor er Licht gemacht, klopfte es schon von unten herauf, daß sein Stubenboden erzitterte. Es war die alte Madame, welche sich die weiteren Störungen ihrer Nachtruhe verbat. Der Auditor lächelte. Dieses Klopfen war ihm nicht mehr fremd und zum Zeichen, daß er davon Notiz genommen, schlug er mit seinem Stiefelzieher gleichfalls dreimal an den Stubenboden, als wären es gleichsam drei Zeichen der heiligen geheimen Feme.

Bald schlief er den Schlaf des Gerechten, wie dies nur immer in der süßen Nacht vom Samstag auf Sonntag möglich ist. Nach einer anstrengenden Woche voll Arbeit wollte er so recht den biblischen Rat befolgen: sechs Tage sollst du arbeiten, aber am siebenten sollst du ruhen. Er ruhte auch köstlich, bis der Tag graute. Dieser graut aber im Sommer schon sehr bald und mit einem etwas verdrießlichen Gesichte blickte er nach dem Plafond seines Zimmers, über welchem die ein Stockwerk höher wohnenden Insassen auf und ab trabten, als wären sie als Krauteintreter angestellt, so daß das ganze Haus erzitterte.

Es währte nicht lange, da klopfte es auch schon wieder von unten herauf. Die so früh aus ihrem Morgenschlummer gestörte Dame mochte glauben, der Auditor mache auch diesen Spektakel, und ihr Klopfen wurde so hitzig, so vielsagend, daß der Auditor, von oben und unten gleichsam in einem Kreuzfeuer, mit beiden Füßen aus seinem Bette sprang, sich in den Schlafrock warf und zum Fenster eilte. Dasselbe öffnend und an der kühlen Morgenluft sich erquickend, sah er alsbald seine Hausgenossen in Gebirgskostüm mit dem Bergstocke bewaffnet, aus dem Hause treten und leichten Schrittes dem Bahnhofe zu eilen. – Der Himmel war wunderschön blau und – ich mache auch eine Landpartie! war der sofortige Entschluß des aus seinen süßen Träumen gestörten Auditors.

Aber wohin? Er nahm seinen Taschengeschäftskalender zur Hand und suchte den heutigen Sonntag, den 8. Juni, der als der letzte Tag auf der Seite verzeichnet stand; er blätterte um und sah mit Vergnügen, daß der nächste Montag als »Benno, Stadt- und Landespatron« ebenfalls rot verzeichnet war. – Er hatte aus Versehen ein Blatt überschlagen und gar nicht darauf geachtet, daß Benno auf den 16. Juni, also gerade um acht Tage später fiel und nicht auf den nächsten Tag, welcher erst der 9. Juni war.

Der Auditor trabte auch bald in seinem Zimmer auf und ab, dieses und jenes zusammensuchend; denn da sein Bedienter gewöhnlich erst um sieben Uhr kam, so hatte der Auditor für seine Toilette selbst zu sorgen.

Die alte Frau klopfte wohl wieder nachdrücklichst; diesesmal konnte er nicht helfen, die Schuld lag an dem Baumeister, warum hatte er so miserabel gebaut.

Alsbald stand auch unser Auditor im bequemsten Kostüm fertig da und mit dem Schlage fünf Uhr verließ er das Haus, um nach dem ziemlich entfernten Bahnhofe zu eilen. Vorsorglich blickte er zu seinem Fenster empor, ob er es zu schließen nicht vergessen – da, Entsetzen! bemerkte er den alten Klopfgeist vom ersten Stock in furienhafter Erscheinung in Miene und Bewegung am offenen Fenster.

»Recht guten Morgen!« rief sie ihm grollend hinab, dann schlug sie das Fenster mit einem unverständlichen Fluche zu und – wanderte wahrscheinlich wieder ins Bett. Der Auditor aber eilte dem Bahnhofe zu und murmelte für sich selbst: »Das ist fatal, der erste Morgengruß von einem bösen, erzürnten alten Weibe: das bedeutet Malheur!« – Sein Reiseplan stand alsbald fest. Mit der Bahn nach Oberaudorf, von dort eine Gebirgspartie nach Bayerisch Zell, da übernachten und andern Tages gemütlich über Schliersee wieder zurück. – Der Bahnzug stand schon zur Abfahrt bereit, – und fort ging es, den blauen Bergen zu.– Es war ein herrlicher Sommermorgen. Die Berge grüßten in scharfen, kantigen Umrissen bis zum Bahnhofe herein. Der Auditor suchte den Wendelstein, auf dessen südlicher Abdachung er noch heute herumkrabbeln sollte, und mit wonnigen Gefühlen zündete er sich eine Zigarre an, die er seinem wohlgefüllten Etui entnahm.

Hie und da in Trautweins »bayerischem Hochland« blätternd, das stets in seinem Reisetäschchen stak, welches er nicht vergessen hatte umzuhängen, dann wieder die näherkommenden Gebirge bewundernd, kürzte er sich die Fahrt nach Rosenheim angenehm ab. Dort angekommen, nahm er ein frugales Frühstück zu sich, aus dessen Materie man hätte schließen können, daß das Taumeln der letzten Nacht nicht infolge eines vorübergehenden Schwindels sondern von einem Kruge zuviel Hofbräuhauskellerbier herkam. »Saure Leber« hieß seine Parole, und der Schoppen Rheinwein schien seinem Magen wieder zu schmeicheln.

Der nach Kufstein abgehende Zug gab sein Signal und schon führte er den Auditor in südlicher Richtung den herrlichen Innstrom entlang, zu beiden Seiten bewaldete Berge, über welche nackte Felshäupter herabblickten und dem Reisenden die frohe Kunde brachten. daß er in das Heiligtum der Bergwelt eingetreten sei. Neubeuern zur Linken, Brannenburg, das Eldorado der Münchener Künstler zur Rechten, kamen in Sicht; dann engt sich das Thal, und nahe dem Strome und der Hochstraße entlang, eingeschlossen von den mächtigen Gebirgsstöcken des hohen Kaisergebirges und dem zum Stocke des Wendelsteins in sanften Terrassen ansteigenden Mittelgebirge, brauste der Zug der tirolischen Grenze zu.

»Oberaudorf!« ruft der Kondukteur und unser Auditor verließ das Coupe. Er atmete frische Bergluft. Dieses Gefühl und das Bewußtsein, zwei Tage frei zu haben, bewirkte, daß unser Tourist mit geradezu elastischen Schritten hineinmarschierte in das schöne Gebirgsdorf, um beim »Hofwirte« sein Ränzchen abzugeben, ein frugales Mittagsmahl zu bestellen und dann die ihm von früher her in angenehmer Erinnerung gebliebenen herrlichen Plätze, den Calvarienberg mit seiner prächtigen Aussicht, die Ruinen Auerberg und den unvermeidlichen »Weber an der Wand« zu besuchen. Nach diesem schönen Spaziergange kehrte er in das Gasthaus zurück und nachdem er zu seiner Zufriedenheit diniert, sehnte er sich, Siesta zu halten, die ihm auf dem Sofa eines hübschen Zimmers auch zu teil ward, ohne daß von oben oder unten geklopft wurde.

Es war vier Uhr nachmittags, als er es an der Zeit hielt, seine Fußtour nach Bayerisch Zell über das Gebirge zu beginnen. Die größte Hitze war vorüber und bald nahm ihn ja die kühle Schlucht des Auerbaches auf, dessen tosenden Wasserfall er von der obern Brücke aus lange bewunderte. Dann stieg er den ihm noch wohlbekannten Weg zum Jagdhaus hinan, und mit der ihm eigenen Orientierungsgabe und Trautweins Kärtchen war er zur Grafenherbergalm emporgestiegen, wo sich ihm eine wundervolle Aussicht eröffnete.

Die hübsche Sennerin grüßte ihn freundlich und lud ihn zu einer »Schalen Kaffee« ein, da eben von einer kleinen Gesellschaft, welche das gleiche Reiseziel mit dem Auditor hatte, ein solcher fabriziert wurde. Dem Auditor war dieses sehr erwünscht, denn der Aufstieg hatte ihm warm gemacht. Er war angenehm überrascht, als er, in die Almhütte eintretend, seine beiden Hausgenossen, die gleich ihm in Oberaudorf den Zug verlassen hatten, in Gesellschaft einer Familie mit zwei Töchtern erblickte. Er erzählte diesen lachend, daß sie die Verantwortung für seine heutige Partie zu tragen hätten, daß er ihnen aber unendlich dankbar sei, ihn unbewußt hiezu bewogen zu haben. Es wurde viel über die alte Madame gelacht, dann wurde gesungen, das herrliche Lied vom »Wendelstoa« und anderes, man schlürfte den Mokka mit frischem Gebirgsrahm vermischt und war überselig.

»O heiliger Benno!« rief da der Auditor, »wie froh will ich morgen deinen Namenstag mitfeiern in Geitau und Schliers!«

»Was?« fragte einer aus der Gesellschaft, »den Bennotag wollen Sie schon morgen feiern? Der ist ja erst morgen über acht Tage.«

»Warum nicht gar,« entgegnete lachend der Auditor, »wissen Sie gar nicht, daß morgen Benno und Feiertag ist? Glauben Sie, ich könnte sonst noch hier auf der Grafenherbergalm sitzen und gemütlich Kaffee trinken?«

»Sie irren sich,« versetzte jetzt ein zweiter. »Morgen ist kein Feiertag, Benno ist am 16. Juni und morgen ist bekanntlich erst der 9. Juni.«

»Merkwürdig!« rief der Auditor, »die Herren Künstler wissen halt nie, wie sie in der Zeit sind. Hätten sie Bureauzwang, wie unser einer, so wüßten sie ganz genau die rotgedruckten Tage im Kalender auswendig, wie ich. Ich will Sie nur überzeugen, daß ich diesesmal recht habe.«

Lächelnd zog er seinen Kalender aus der Tasche und blätterte nach – da, o Schrecken! stand der morgige Tag schwarz auf dem Blatte – der 9. Juni »Primas und Felician« schwarz – und schwarz wurde es vor seinen Augen, denn nebenbei stand: »Kriegsgerichtliche Verhandlung gegen den Soldaten Johann Pangerer wegen Verbrechens gegen die Subordination um 9 Uhr. Geladen zwanzig Zeugen.«

Der Kalender entfiel fast seinen Händen. »Jetzt ist's recht!« stammelte er erblassend.

»Mir scheint, es ist unrecht,« meinte ein anderer; »Sie haben die Woche verwechselt.«

»Alle Teufel!« fuhr der Auditor auf, »so ist's! Ich muß heute noch nach München zurück!«

»Das wird wohl nicht möglich sein,« meinte einer der Herren, »es ist jetzt halb sechs Uhr vorüber und der letzte Zug passiert Oberaudorf kurz nach sieben Uhr.«

»Dann kann es noch gehen!« rief der Auditor. »Es bleibt mir nichts anderes übrig – ich muß nach Audorf zurück. Es wäre entsetzlich, wenn ich das Kriegsgericht versäumte!« Und der Sennerin ein Geldstück reichend, empfahl er sich von der Gesellschaft und eilte auf dem soeben gemachten Herwege zurück. Sobald er aus dem Gesichtskreise der Alm war, begann er einen Dauerlauf die Schlucht des Auerbaches hinab und zwar mit einer solchen Geschwindigkeit, daß er sich kaum mehr halten konnte und beinahe in den Bach selbst gestürzt wäre, wenn er sich nicht noch rechtzeitig an den herabhängenden Ästen einer riesigen Tanne gehalten hätte, wobei er sich den Daumen der rechten Hand blutig riß.

»Wenn nur diesen Johann Pangerer der Teufel holte!« rief er wütend aus. »Nu wart! Dir will ich's entgelten lassen!« setzte er unwillkürlich hinzu. Das ungewohnte Laufen, die Prellung beim Aufhalten, der verwundete Daumen, dies alles bewirkte eine ungewohnte Erregung, er konnte nicht in gleicher Gangart den weiteren Weg verfolgen; den von ihm so viel bewunderten Wasserfall würdigte er jetzt kaum eines Blickes; vorwärts, vorwärts! war seine Parole. Er nahm sich nicht Zeit, nach der Uhr zu sehen; die Sonne stand ziemlich tief, aber die Hoffnung, den Bahnzug noch zu erreichen, gab ihm neue Kraft, und ein Jubelruf ertönte aus seinem Munde, als er endlich das Thal erreicht hatte und Oberaudorf vor ihm lag. Auf dem nächsten Weg schlug er die Richtung zum Bahnhof ein. Aber schon sauste der von Kufstein kommende Zug heran. Noch hoffte er, im Laufschritte die Station erreichen zu können; er winkte, niemand achtete seiner. – Ein Pfiff – und der Zug sauste davon. Unser Auditor kam gerade an, als der letzte Waggon dieselbe verließ. –

Der Expeditor hatte sich bereits in sein Bureau zurückgezogen, ein Halten des Zuges war nicht mehr zu bewerkstelligen. Der Auditor hatte bloß das Nachsehen. Dieses geschah mit einem verzweifelnden Blicke. Was nun beginnen?

II.

Der Expeditor kam dem Auditor zu Hilfe und riet ihm, mit dem morgen früh halb fünf Uhr abgehenden Zuge nach München zu fahren, mit dem er um sieben Uhr vierzig Minuten ankomme. Der Auditor atmete neu auf. Also war noch Hoffnung vorhanden, wenn auch erst morgen, doch noch zum Kriegsgerichte zu kommen. Aber er wollte nicht in Oberaudorf bleiben. Je näher er sich der Hauptstadt wußte, desto beruhigter fühlte er sich; auch war er von dem Laufen so erhitzt, daß es ihm Bedürfnis war, sich noch zu ergehen und er entschloß sich, auf der Landstraße so lange fortzugehen, bis er einen Platz erreiche, von welchem er mit einem Gefährte nach Rosenheim kommen konnte. Er achtete nicht der Nacht, welche ihn bald umgab, rüstig schritt er vorwärts über Flintsberg und Degerndorf und kam gegen zehn Uhr auf der Station Raubling an. Im dortigen Wirtshause machte er Halt.

Da ging es lustig her. Die Veteranen der ganzen Umgegend waren hier zur Fahnenweihe versammelt, im Saale war Musik und Ball, die übrigen Lokale vollgepfropft mit heiteren Gästen.

Ein Übernachten dahier war unmöglich. Der Wirt lachte dem Auditor, als ihn dieser um ein Fuhrwerk nach Rosenheim anging, ins Gesicht.

»Heunt hat neamad Zeit zum Fahr'n,« sagte er lachend, »heunt woll'n ma lusti sei'!«

Ein Zimmer zum Übernachten gab es, wie gesagt, auch nicht, und wenn auch, wer würde ihn rechtzeitig wecken?. Er stärkte sich mit Bier und Fleisch und nahm sich dann vor, in Gottesnamen noch den Weg nach Rosenheim zurückzulegen.

Es war schon sehr spät, als er Pang erreichte. Außerhalb dieses Ortes begegnete ihm ein altes Weib, das ihm freundlichst »Gute Nacht« wünschte.

Es wollte heute schon so sein. Der erste Morgengruß kam von einem alten Weibe, die letzte »Gute Nacht« rief ihm ebenfalls ein solches zu. Doch er dachte, es möchte hier sein wie bei den Spinnen, und wenn der Morgengruß eines alten Weibes Unglück bringt, so konnte ja der Abendgruß vielleicht Glück bringen. Er fragte deshalb die Alte, wo sie noch so spät herkomme.

»Von Rosenheim,« war die Antwort, »über's Pangerfilz; da schneid't ma' a guate Stund ab.«

»Durch's Pangerfilz?« fragte der Auditor. »Kann man sich da bei Nacht nicht vergehen?«

»Bewahr' Gott!« sagte die Alte, »es is ja jetzt glöckelhell und wenn ma's woaß, so is 's der schönst Weg über Brucken und Steg, der Gaster (Gangsteig) laßt eam nöt aus.«

»Und eine Stunde erspart man?« fragte der Auditor abermal.

»No' drüber,« entgegnete die Alte. »Ja, ja, Ös werd's es scho' sehgn. Guate Nacht; a guats Umikemma!« und sie trippelte mit ihrem Korbe auf dem Rücken weiter.

»Wenn es eine »Rauhnacht«, vielleicht die Johannisnacht wäre, könnte man wahrhaftig glauben, das sei die Frau Percht gewesen,« sagte der Auditor lächelnd zu sich selbst. »Wenn es eine Hexe, eine Drud wäre, die mich auf Irrwege leitete! Ein wenig Aberglaube, und das Abenteuer wäre fertig.«

In diese Gedanken vertieft, hatte er bereits das Pangerfilz betreten. Es ging anfangs ganz schön dahin, der Fuß- oder Fahrweg war ziemlich breit; bald aber konnte er nur mehr mit Mühe den Weg von dem schwarzen, moorigen Grunde zu beiden Seiten unterscheiden.

Der Auditor hoffte, daß es bald wieder besser fortginge. Wußte er ja, daß hier die Künstler ihre Studien mit Vorliebe machten und so fürchtete er keine Gefahr. Allmählich wurde aber die Unterlage weicher. Es patschte und quatschte unter seinen Füßen bei jedem Tritt und er war jenen dankbar, welche an den bedenklichsten Stellen Bretter gelegt hatten. Braun wie Kaffeesatz zogen sich die Moorwassergräben durch die Gründe. Jetzt kamen Altwasser, über welche hohe Stege führten, dann ein fast unzugängliches Waldgestrüppe und jetzt – jetzt sah der nächtliche Wanderer weder Weg noch Steg mehr. Wohin? Kein menschliches Wesen weit und breit!

»Die Alte, die mir diesen Weg angeraten, war wahrhaftig eine Hexe,« sagte der Auditor für sich und er überlegte, was nun weiter zu thun. Vorsichtig schritt er nach der Richtung, wo er den Weg verlor, aber Wassertümpel und Pfützen ließen ihn nur langsam vorwärts kommen, und als er jetzt wieder an einem fließenden Altwasser zu sein glaubte, nahm er sich vor, dem Laufe desselben zu folgen.

Da plötzlich, durch ein Gestrüpp getreten, steht vor ihm ein Haus, ein Licht blendet ihn. Es kommt von einer Öllampe, die auf dem Fenstergesimse der untern Stube steht.

Freudig eilte der Auditor herbei. – Da ist sein Fuß wie gefesselt und sein Auge blickt starr nach der Erscheinung, die sich ihm hier darbietet. Vor dem Fenster sitzt ein steinaltes Mütterlein in einem langen, weißen Hemde, die Hände in den Schoß gelegt und den Kopf auf die Brust gesenkt. Sie schläft. Neben ihr steht ein Spinnrad mit Rocken und das Licht beleuchtet ihr altes, runzeliges, vergilbtes Gesicht.

Der Auditor wußte im ersten Augenblicke nicht, was er aus dieser Erscheinung machen sollte. Die alte Spinnerin aus dem Turme in Dornröschens Schloß, Fausts Gretchen in antiker Auflage und weiß der Himmel, was sich das erhitzte Gehirn des Auditors noch vergegenwärtigte; – er kneifte sich in die Nase, ob er nicht träume – aber nein, er wachte, und was er da sah, war Wirklichkeit.

»Heda!« rief er jetzt endlich, ans Fenster tretend. Sofort schreckte die Alte auf, blies das Licht aus und tiefe Finsternis herrschte ringsumher.

»Heda!« rief er wieder. »Ich bitte um Auskunft.«

In diesem Augenblicke hörte er in der Dachluke ober ihm ein Geräusch und deutlich das Knacken eines Flintenhahns. Dem Auditor war es jetzt nicht mehr ganz geheuer. Er fand es für nötig, die weitere Initiative zu ergreifen.

»Ich habe mich verirrt,« sagte er; »kann mir niemand für guten Lohn den Weg nach Rosenheim zeigen?

»Ah so!« ließ sich jetzt eine Mannsstimme aus der Dachluke vernehmen. »Bist nit von der hiesigen Gegend?«

»Nein,« antwortete der Auditor in möglichst freundlicher Weise, »ich bin aus München und will heute noch nach Rosenheim.«

»So, so, aus der Stadt bist. Wer hat di denn bei der Nacht ins Filz einag'hoaßen?«

»Eine alte Frau, die mir bei Pang begegnete, sagte, ich könnte den Weg nicht verfehlen und ich war so ungeschickt, ihr zu glauben,« entgegnete der Auditor.

»Dös war die alt Reiserwab'n,« rief der Mann; »dös Malefizluder hat uns schon mehr solche Leut bei der Nacht g'schickt. Wart, i kimm glei awi.«

Der Auditor setzte sich auf die Bank vor dem Hause und wartete auf den Mann. Es währte lange, lange. Schon glaubte er, der Mann hätte ihn ganz vergessen; doch hörte er im Innern des Hauses auf- und abgehen, Stiefel anziehen; dann erschien in der Wohnstube Lampenlicht und er sah, wie ein großer, kräftiger Bursche, von gedrungener Gestalt der bayerischen Oberländer, mit Hut und Stock vor der alten, nunmehr mit einem Unterrocke bekleideten Frau stand und ihr die Hand zum »Pfüt Gott« reichte. Die Frau weinte wie ein kleines Kind und machte ihm das Zeichen des Kreuzes auf die Stirne.

Der Auditor konnte die Gesichtszüge des Mannes nicht sehen. Er begriff nicht, was der Bursche von der Alten lang Abschied zu nehmen hatte für die kurze Zeit, wo er ihm als Führer diente.

»So, i bin g'richt,« sagte jetzt der Mann aus dem Hause tretend. »Gehn ma halt in Gottsnam!«

»Ich werde schon erkenntlich sein,« entgegnete der Auditor und ging an der Seite des Burschen von dannen. Dieser war sehr schweigsam, der Auditor war aber über dessen vermeintliche Gefälligkeit so entzückt, daß er nicht umhin konnte, ihm seine Dankbarkeit auszusprechen.

»Mein lieber Freund,« sagte er, »Ihr thut mir einen ungeheuren Gefallen, daß Ihr mich aus diesem Labyrinth hinausführt.«

»Dös kann leicht sein,« entgegnete der Bursche. »Woaßt zweg'n dir gaang i um die Stund nit durchs Filz, aber i muaß selm in aller Fruah z' Rosenheim sein, weil i mit 'm Frühzug auf Münka muaß. Es hängt gar viel davon ab, daß i den Zug nöt versäum', drum hat mei' Ahndl wachen woll'n, daß i mi ja nit verschlaf. I bin erst spat vom Raublinger Veteranafest hoamkemma und woaßt, da haut ma' halt diermal a bißl über d' Schnur – i mirk's scho', daß i no' a bißl doarkl (unsicher gehe), aber wenn i a Weil geh, wird's scho' besser wern.«

»O, ich merke gar nichts,« entgegnete der Auditor, »du gehst ja ganz gerade. Gewiß bist du Soldat gewesen, weil du auf dem Veteranenball warst.«

»Freili bin i oana,« erwiderte der Bursche, »leider Gottes! Sonst hättst mi no' nit dahoam troffen. Aber so hoaßt's auf Münka eini. Der Teufel soll die G'schicht hol'n! Gieb acht, iatzt kimmt a schmaler Steg, der nit viel taugt, über an' Altwasser. Schau nur g'rad für di hin, daß d' koan Schwindel kriegst.«

Der Auditor folgte seinem Begleiter etwas ängstlich auf dem hohen schwankenden Gerüste.

»I wünschet mir bloß oans!« rief jetzt der Bursche, auf der Mitte des Steges anhaltend, »daß i den am Kragen hätt', der dran schuld is, daß i heunt auf Münka muaß! Den werfet i eini in Tümpfel, daß er d' Haxen in d' Höh recket. – Der ließ 's Untersuchen bleib'n für Zeit und Ewigkeit.«

»Von wem redst denn?« fragte der Auditor den bei der Erinnerung an seinen Feind erregten Burschen.

»Von an' Auditor red' i, der 's Nörgeln nit aufg'hört hat, bis i weg'n Insubordination heunt vor's Kriegsgericht g'stellt und wahrscheinli verurteilt werd'.«

»Bist du der Johann Pangerer?« fragte der Auditor schnell und unbedachtsam, dabei von einem gelinden Entsetzen erfaßt.

»Du kennst mi?« fragte der Bursche zurück. »Pangerer Hans hoaß i. Wer aber bist denn du?«

Der Auditor wußte nicht sogleich zu antworten. Jetzt hieß es diplomatisch sein, denn er kannte das ihn erwartende Los. Endlich sagte er: »Ich kenne dich nicht, aber das alte Weib bei Pang hat mir gesagt, daß ich dich hier treffen könnte und daß du mir im Notfalle den Weg nach Rosenheim zeigen würdest.«

Man kann sich wohl in die Lage des Auditors hineindenken. Mitten in der Nacht im Pangerfilz allein zu sein mit dem durch vielen Biergenuß rabiaten Burschen, der auf seinen Antrag hin kriegsgerichtlich verhandelt wird. Er verspürte eine Erleichterung, als der Begleiter wieder weiter schritt.

»Dö alte Karnalli!« sagte dieser. »Woaßt, i hon die alten Leut nit ungern, hon ja selm an' alts Großmuatterl; aber die alt Reiserwab'n nimmt alle Nester in die Auen aus und treibt damit an' Handel, so wern die Singvögel alleweil weniger und nix kann mi mehr ärgern, als so an' arma Vögerl sei' Freiheit z' nehma.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung,« stimmte der Auditor bei. »Einsperren soll man solche Leute, und diejenigen dazu, die solche Singvögel kaufen und zeitlebens einkerkern.«

»Wer bist nacha du?« fragte der Bursche abermals.

»Ich?« entgegnete zögernd der Auditor, – »ich bin ein Beamter ans München.«

»Am End aa so a Rechtsverdraaher?« fragte Hans in scharfem Tone.

»O nein!« beeilte sich der Auditor zu erwidern, denn sie betraten soeben wieder einen schwankenden Steg – »ich bin angestellt bei – der Post.«

»Bei der Post?« versetzte Pangerer. »Nu, das laß i mir g'fall'n; aber die Gerichtsherrn mag i nit, nur weg'n dem krummnasigen Auditor, weil der mir gar so aufsässig sein kann.«

»Du thust ihm vielleicht unrecht!« sagte der Auditor in möglichst gutmütigem Tone. »Jeder thut halt seine Pflicht, so gut er's kann.«

»Wenn's d' mir den guat red'st,« rief Hans erregt, »nacha laß i di mitten im Filz da stehn und geh alloa meine Weg!«

»Ja, ich weiß ja gar nichts!« versicherte der Auditor nicht im besten Wohlbehagen.

»Hast koa Zigarrl?« fragte der Bursche. »I will dir nacha alles dazähl'n.«

Der Auditor beeilte sich, dem Führer alle Cigarren anzubieten, welche sich noch in seinem Etui vorfanden.

»O i dank,« sagte der Beschenkte, »es langt oane schon. Aber du hast g'wiß aar a Feuer bei dir?«

»Herzlich gern,« entgegnete der Auditor, seine Wachszündhölzchen hervornehmend; jedoch getraute er sich nicht, dieselben anzuzünden. Er reichte das Schächtelchen dem Burschen und ging voran.

»Ja, die mußt scho' du anzünden,« sagte dieser, »i versteh mi nit d'rauf.«

Der Auditor war in der peinlichsten Lage. Machte er Licht und wurde dadurch sein Gesicht beleuchtet, so erkannte ihn der Begleiter und was daraus folgen konnte, das wußte er.

»Wenn er nur meine gebogene Nase nicht sieht,« dachte er bei sich, »diese könnte mich verraten.«

»Probier's nur,« sagte er zu dem Burschen, »du hast es gleich los.«

»Sei nur du so guat,« meinte der Pangerer Hans. »Bleib nur stehn – i möcht' gar so gern a Zigarrl rauchen.«

Der Auditor konnte jetzt nicht mehr anders, er mußte stehen bleiben und das Wachskerzchen anzünden. Er war in Todesangst. Mit abgewandtem Gesicht strich er das Kerzchen an und überreichte es mit der rechten Hand seinem Begleiter, während er mit der linken sein Gesicht bedeckte.

»Alle Teufel,« rief er, »ist mir der Schwefel in Nase und Mund gefahren!«

»An dem Wachskerzl is ja gar koa Schwefel,« lachte Hans. »Du bist a narrischer Kampl!«

Die Zigarre brannte und nun ging es wieder rüstig vorwärts.

»Woaßt,« fing jetzt der Pangerer Hans an, »du därfst nit glaub'n, daß i a schlechter Mensch bin, weil i zum Kriegsgericht muaß. I bin a fleißiger Arbeiter im Filz und nur diermal am Sonntag siehg i a Bier. Mei' ganz's Verbrech'n is, daß i an' Unteroffizier, Botsch hoaßt der Bazi, kurz vor i in Urlaub ganga bin, a Watschn geb'n hon. Der Feldwebel is zufällig dazua kemma und hat die Sach anzeigt. I hon den Unteroffizier nit unglückli machen woll'n, sonst hätt' i den Sachverhalt klar g'macht. Die Offizier hätt'n si' aa nit so viel draus g'macht, weil den Botsch koana leiden kann; da hat aber der Auditor die Voruntersuchung g'führt, und hat so lang rumg'schnuffelt an der Sach und war mit mir so sekant, daß i eam aa nit die schönsten Antworten geb'n hon. Die Folg' war, daß 's mi wirkli vor a Kriegsgericht stell'n, und wenn's dem Auditor, dem Sakra nachgeht, sperrn's mi an' etli Monat ein, daß alles kracht. Wer sorgt nacha während der Zeit für mei' alts Großmuatterl im Filzlerhäusl? Die paar Groschen, die ihr z'rucklassen hon, san bal verbraucht und nacha verhungert's, wenn ihr nit die Maler, die öfter bei uns zurikehrn, an' Almosen geb'n.«

»Das ist freilich recht traurig,« sagte der Auditor, »aber weißt was, ich geb' dir was für deine Großmutter, das kannst du ihr dann von München aus schicken. Die soll in keine Not kommen, wie's auch mit dir geht.«

»No schau,« rief der Bursche erfreut, »das hon i mir nit denkt, daß die Postbeamten so barmherzige Leut san.«

»Was hast du vorhin damit gemeint, als du sagtest, du wolltest den Unteroffizier nicht unglücklich machen,« fragte der Auditor. »Jeder ist sich doch selbst der Nächste und wenn du einen Milderungsgrund anzugeben weißt, so sollst du es nicht unterlassen.«

»Mein Gott!« erwiderte der Bursche, »i bring nit gern an' andern ins Unglück.«

»Nun, mir kannst du es ja sagen, ich bin ja ein Postbeamter,« meinte der Auditor.

»Ja, ja, dessel scho', bei Enka oan gilt's Postg'heimnis, dös woaß i von unserm Briefträger. Was der woaß, woaß die ganz Welt. I will dir's sag'n, aber du därfst mi nit verraten und aa nit den Unteroffizier. Die Sach is so. Mein Schlafnachbar, 'n Soldaten Friesinger, is von sein Platz weg a silberne Uhr g'stohln worn, und dös hat neamad anders than, als der Unteroffizier Botsch. Der Friesinger hat 'n bei seiner Schlafstell rumschleicha sehgn und die Markedenterin, der er alleweil schuldi g'wesen is, hat er an demseln Tag zahlt. Dafür aber hat er mi in Verdacht bracht, als wär i der Dieb. Er hat si' einbild't, an' armer Filzler laßt si' alles g'falln. Da kimm i amal an an' Sunnta von der Wach ab und leg mi am Nachmittag schlafen. Mei' Uhrl, dös mir mei' Firmgöd amal g'schenkt hat, hängt ober mein Bett. Koa Mensch war im Zimmer. Auf oamal hör i d' Thür aufgehn und es schleicht si' der Unteroffizier zu mir hin. I stell mi als festschlafet, blinzl' aber dennast und sehg, wie der Kampl in mein Bettgang schleicht und mit an' flinken Griff mei' Uhr in der Hand hat und damit Reißaus nehma will. I aber, nit faul, spring auf, reiß eam d' Uhr aus der Hand und gieb eam a Watschen, an die er no' heunt denkt. In dem Augenblick macht der Feldwebel d' Thür auf.

»Um Gotteswill'n,« sagt der Unteroffizier, »mach mi nit unglückli!« Und drauf meld't er dem Feldwebel, er hätt' nit leiden woll'n, daß i schlaf als Zimmertour und i hätt' ihm desweg'n die Watschen geb'n. I hon 'n nit verraten. I bin in Arrest kemma und man hat mei' Ausred, als hätt' i halb im Schlaf g'handelt und den Unteroffizier gar nit glei dakennt, schier gelten lassen; da hat aber der Sakra von dem krummnasigen Auditor so lang einigstiert und im Kreuz und Quer verhört, daß i halt dennast zum Kriegsgericht verwiesen worden bin. Natürli verurteiln's mi. Den Unteroffizier, der mi spater auf die Knie bitt hat, i soll'n nit verraten, woaßt, er is aus a braven Famili, will i nit unglückli machen und für sei' Leb'n schänden, und so muaß i halt in Gottsnam in die hart Nuß beißen – von mir aus – mei' Ehr leid't nit drunter, aber halt mei' alts Ahnl, um die is mir. – Schau, iatzt is mir's Zigarrl ausganga, muaßt ma schon no' amal a Feuer geb'n.«

Der Auditor war in neuer Verlegenheit; er reichte dem Burschen das Feuerzeug hin.

Das geschah wieder mit halb verdecktem Gesichte; der Bursche achtete aber diesmal nicht darauf. Sie kamen jetzt an die Mangfallbrücke und vom Rosenheimer Bahnhof sah man die Gaslichter leuchten.

Der Auditor atmete leichter. Er freute sich schon auf den Augenblick, wo er dem Burschen für seine Begleitung danken konnte. In der Nähe des Bahnhofes angekommen, verabschiedete sich der Filzler, um dort bei einem ihm bekannten Wagenschieber noch einige Stunden auszuruhen.

Der Auditor gab seinem Begleiter einen Thaler, den dieser sich anfangs anzunehmen weigerte, den er aber dann doch für sein Ahnl bestimmen wollte. Ferner sagte ihm der Auditor, daß er ihn noch heute in München sehen werde. Er wolle sich selbst beim Kriegsgericht, das ja öffentlich sei, einfinden und vielleicht, meinte er, könne er ihm dabei nicht ohne Nutzen sein.

»Ja, dös verstehst du nit,« sagte der Filzler, »mit unsern Auditor laßt si' nit red'n, der wenn's Verhör anfangt, nacha wird oan ganz damisch; der fragt schon se z'wider und allemal find' er was raus. Woaßt was, wenn 's d' mir an' G'falln thoa willst, hau ihm amal a rechte Watschen eini; du bist a Postbeamter und wirst nacha nit wegen Subordinationsverbrechen eing'sperrt.«

»Nun, wir sprechen heut noch über die Sache,« erwiderte der Auditor lächelnd. »Also auf Wiedersehen!«

Damit trennte er sich von dem Burschen, der sofort dem Bahnhofe zueilte.

Der Auditor atmete hoch auf. Alle Strapazen dieses Tages und dieser Nacht vergaß er über dem Vergnügen, ein Abenteuer gehabt zu haben, das ihm zeitlebens in lebhafter Erinnerung bleiben mußte und das ihm Gelegenheit gab, im letzten Augenblicke einen wackern Burschen aus böser Lage zu befreien.

Es schlug zwei Uhr, als er im Gasthof zum »Kreiderer« Einlaß begehrte. Der Hausknecht mußte ihm hoch und teuer beschwören, ihn nicht verschlafen zu lassen, sondern ihn rechtzeitig zu wecken zum Münchener Zug. Er bestellte eigens einen Wagen, um zum Bahnhofe zu fahren, damit er um so sicherer darauf rechnen könnte, daß man ihn gehörig wecke. Der Zug ging um fünf Uhr fünfzig Minuten ab, er hoffte also noch drei Stunden schlafen zu können. Aber schon im Bette, ließ es ihm doch keine Ruhe. Er durfte nicht zu spät kommen!

Wie aber wach bleiben? Er erinnerte sich an Mosers »Stiftungsfest«, an die Szene, in welcher der alte Herr die Gießkanne in der Hand hält, um sich vor dem Einschlafen zu sichern, da ihn die fallende Gießkanne stets wieder aufweckte. Die Nutzanwendung dieses Schwankes war jetzt, daß er den großen gläsernen Wasserkrug in die Hand nahm, während er mit der andern Notizen in sein Buch machte, die auf die Erzählung des Filzlers Bezug hatten. Er schrieb lange – aber plötzlich klirrte es doch – der Wasserkrug lag zerbrochen auf dem Boden. Er hatte in der That einschlafen wollen. In dem Nebenzimmer hörte er über diese Nachtruhestörung fluchen.

Jetzt hielt es unser Auditor fürs beste, im Zimmer auf und ab zu gehen. Er vergaß jedoch, seine Stiefel auszuziehen. Zehn Minuten mochte er auf- und abgewandelt sein, da klopfte es an der Nebenthüre.

»Sind Sie des Teufels?« hörte er fragen; »lassen Sie wenigstens die andern Menschenkinder schlafen, wenn Sie das tolle Wandelfieber haben!«

Der Auditor fand, daß der Nachbar recht habe und zog seine Stiefel aus. In Strumpfsocken wandelte er dann weiter, oft mit geschlossenen Augen, aber wenn er an einen Tisch oder Stuhl anrannte, wachte er glücklich wieder auf, und so wandelte er in den grauenden Morgen hinein.

Um vier Uhr ging die Sonne auf und jetzt litt es ihn nicht länger mehr im Gasthofe. Er eilte fort zum Bahnhofe und setzte sich dort in der Restauration I. Klasse ganz versteckt in eine Ecke, damit er ja von seinem nächtlichen Begleiter nicht gesehen werden könne und löste sich ein Billet II. Klasse, um nicht zufällig im Waggon mit diesem zusammen zu treffen. Punkt fünf Uhr fünfzig Minuten ging der Zug ab, und jetzt schlief der vielstrapazierte Auditor, bis der Kondukteur in das Koupe hinein schrie: »München!«

III.

Das Kriegsgericht war Schlag neun Uhr versammelt. Der Auditor in Uniform, den Schiffhut in der Hand, sah auffallend blaß aus und seine Augen waren geschwollen.

»Sie sind krank!« sagte der dem Kriegsgerichte vorstehende Oberstleutnant zu ihm. »Sie sehen ja ganz schrecklich aus!«

»O, mir ist ganz wohl,« entgegnete der Auditor. »Ich habe nur heute nacht viel für die heutige Verhandlung nachzuarbeiten gehabt.«

»Ah bah,« machte der Oberstleutnant, »Sie wären derjenige, der auf die letzten Stunden etwas verschöbe. Wahrhaftig, wenn Sie krank sind, verschiebe ich das Kriegsgericht auf einen andern Tag.«

»Warum nicht gar,« sagte der Auditor. »Denken Sie nur, die vielen Zeugen – die Herren Richter. – Glauben Sie, ich möchte wegen einer kleinen Übernächtigkeit so viele Umstände machen? Nein, nein, wenn es Ihnen gefällig wäre – ich erhielt soeben Meldung, daß sämtliche Zeugen und der Angeschuldigte gegenwärtig sind – so könnten wir beginnen.«

»Wenn Sie aber über den Stuhl hinabfallen?« fragte der Oberstleutnant lächelnd.

»Ich werde fest sitzen,« versicherte der Auditor, »und Sie werden sehen, wie ich meiner Funktion treu und gewissenhaft nachkommen werde.«

Der Vorsitzende und die Richter nahmen ihre Plätze ein. Ersterer hielt eine kurze Ansprache, hierauf erfolgte die Beeidigung, die Zeugen wurden vorgeführt und dann in das Zeugenzimmer verwiesen. Der Angeklagte wurde durch eine Ordonnanz hereingeführt.

Der Auditor konnte sich kaum des Lachens enthalten, als er den robusten Burschen vor sich hintreten sah. Aus dem feindlichen Blicke, den der Filzler auf ihn warf, merkte er, daß dieser kaum eine Ahnung habe, wen er heute nacht durch das Pangerfilz geführt.

Der Auditor begann nun das übliche Verhör. Der Mann blieb bei seiner ersten Aussage, er behauptete, nur im Halbschlaf den Unteroffizier geohrfeigt zu haben. Mehrere Zeugen sagten dann aus, daß Pangerer auf den Unteroffizier schon längere Zeit eine »Pike« gehabt und öfters geäußert habe: »Der kriegt amal oane von mir, daß er an mi denkt!«

Fraglicher Unteroffizier Botsch selbst wurde nicht beeidigt. Er deponierte ebenfalls, wie in der Voruntersuchung, ließ aber in Zweifel, ob Pangerer im Halbschlafe gehandelt habe oder nicht. Das Zeugenverhör ward beendigt, der funktionierende Staatsanwalt begründete die Klage und beantragte eine Schuldigsprechung des Verbrechers gegen die Subordination und eine einjährige Gefängnisstrafe.

Der arme Filzler wurde bei diesem Antrage kreideweiß. Der Auditor wußte, daß er jetzt an seine Großmutter denke. Bevor noch der Verteidiger seine Rede begonnen, bat der Auditor, da sich neue Umstände zum Vorteile des Angeklagten ergeben hatten, noch einige Fragen an den Hauptzeugen, den Unteroffizier Botsch, richten zu dürfen; ebenso an den Soldaten Friesinger.

»Unteroffizier Botsch,« sagte er alsdann zu diesem, »Sie haben den Antrag des Herrn Staatsanwalts gehört. Der Soldat Pangerer soll zu einem Jahr Gefängnis verurteilt werden. Denken Sie darüber nach, ob Ihnen nichts einfällt, was die That dieses Soldaten mildern könnte.«

Der Unteroffizier schüttelte verlegen mit dem Kopfe.

»Nichts?« fragte der Auditor weiter. »Es mag sein, daß Sie irgend eine Schuld Ihrerseits verschweigen, um sich nicht zu kompromittieren und nicht selbst unglücklich zu werden. Aber das ist höchst unmoralisch, das ist im höchsten Grade feig, wenn ein anderer ehrlicher Mann darunter leiden soll, ein Mann, der die einzige Stütze seiner alten Großmutter ist, die ohne seine Hilfe verhungert, der, wie sein Leumund uns sagt, noch keinerlei Strafe erhalten hat und nur als ein »hitziger« Bursche bezeichnet wird, ein Mann, sage ich, der gewiß die Hochachtung aller verdient, wenn man erfährt, daß er sich für einen Unwürdigen aufopfert.«

Der Auditor hatte dieses mit feierlicher Stimme gesprochen, der Pangerer Hans glaubte kaum seinen Ohren trauen zu dürfen. Bei Erwähnung seiner Großmutter konnte er sich der Thränen nicht erwehren.

»Ja, ja,« sagte er, »für die arm Ahnl is 's hart. Wie aber wißt's dös alles – i hab nix g'sagt?«

Im Kriegsgerichte machte sich eine große Unruhe bemerkbar.

»Sie sind doch gesunder, als ich gedacht habe,« sagte der Oberstleutnant leise zu dem neben ihm sitzenden Auditor. »Schießen Sie nur los, wenn Sie etwas wissen. Der Duckmäuser von einem Unteroffizier macht ohnedies einen schlechten Eindruck auf mich.«

Der Auditor nahm zur Stärkung eine Prise Tabak, dann wandte er sich wieder an Botsch und fragte abermals: »Also Sie haben nichts einzugestehen?«

»Nein,« antwortete der Gefragte frech.

»Nun, so will ich Ihnen etwas erzählen,« fuhr der Auditor fort. »Am Lichtmeßtag hat Sie die Marketenderin zur Zahlung einer Schuld geplagt und Ihnen mit Klage beim Herrn Hauptmann gedroht. Sie hatten morgens kein Geld, nachmittags aber bezahlten Sie die Frau. Wo nahmen Sie das Geld her?«

»Von meinen Verwandten,« antwortete der Unteroffizier.

»Ich weiß es besser,« sagte der Auditor; »Sie verkauften eine Uhr.«

Der Unteroffizier wurde jetzt bleich bis in den Mund hinein.

»Warum werden Sie so bleich?« rief der Oberstleutnant. »Gestehen Sie ein, es ist so.«

»Ja«, sagte der Unteroffizier, »ich verkaufte meine Uhr.«

»Also haben wir Sie schon auf einer Unwahrheit ertappt,« fuhr der Auditor fort. »Erst sagten Sie, Sie hätten das Geld von Ihren Verwandten bekommen, jetzt gestehen Sie ein, daß Sie Ihre Uhr verkauften. Ich weiß aber, daß die Uhr nicht Ihr Eigentum war. Sie haben dieselbe dem Soldaten Friesinger weggenommen, wenn Sie wollen, gestohlen.«

»Auf Ehr und Seligkeit, ja so is's!« rief Friesinger.

»Und weiters wollten Sie Ihre verwerfliche Industrie bei dem Angeklagten hier versuchen. Während Sie ihn schlafend glaubten, schlichen Sie sich an sein Bett, nahmen die Uhr von der Wand, und sie wäre gleich derjenigen Friesingers versilbert worden, wenn nicht Pangerer Sie gepackt und Lynchjustiz an Ihnen geübt hätte. Ist es nicht so?«

Der Unteroffizier konnte kein Wort erwidern, er wankte, man mußte ihn zum Stuhle führen.

»Gestehen Sie!« rief jetzt der Oberstleutnant. »Es kann Ihre Sache nur mildern, wenn Sie ein offenes Bekenntnis ablegen. Ist es so?«

»Ja,« sagte der Unteroffizier mit gebrochener Stimme, dann mußte er aus dem Saale geführt werden. Der Auditor beantragte dessen Verbringung in Untersuchungshaft.

Pangerer sah den Auditor mit unendlich dankbaren Blicken an. Auf seinem Gesichte las man die Frage: »Woher weiß denn der alles?«

Der Staatsanwalt bat wieder ums Wort und motivierte seinen Antrag dahin, daß er wegen mildernder Umstände die Strafe des Angeklagten auf einen Monat reduziere. Der Verteidiger aber nahm den Gedanken des Auditors auf und stellte den Charakter des Pangerer so schön und rührend hin, daß es gar nicht wunder nahm, als bei der Abstimmung über Schuldig oder Unschuldig die weitaus meisten Stimmen das letztere verlangten und der Oberstleutnant dieses dem Pangerer feierlich und freudig verkündete.

Der überglückliche Bursche trat jetzt zu dem Auditor hin und wollte ihm die Hand küssen.

»Sagt's mir doch, woher's alles a so guat g'wußt habt's?« fragte er.

»Woher?« entgegnete der Auditor lachend. »Von dir selbst.«

»Von mir? I hab zu Enk und zu neamad a Sterbenswörtl g'schnauft –«

»Zu gar niemanden?« fragte der Auditor. »Ich hab' es erst heute nacht erzählen hören.«

»Heunt nacht? Wo?« fragte der Bursche, den Auditor scharf ansehend.

»Im Pangerfilz,« erwiderte dieser.

»Ja, dös is wahr,« entgegnete überrascht der Bursche. »I hab's an' Postbeamten anvertraut und schau, er hat mir's so g'wiß versprochen, daß er nixi plauscht.«

»Er hat mir's ja nur als Postgeheimnis anvertraut,« lachte der Auditor. »Wär' ich mit meiner krummen Nase bei dir gewesen, du hättest mich wahrscheinlich in deiner Wut in einen Tümpel geworfen.«

»Jesses!« rief jetzt Hans sich vergessend, »der Postbeamte seid's Ös selm g'wesen! Ja, ja, die krumme Nasen is mir heunt nacht schon aufg'falln! Verzeiht's mir halt! Daß 's Ös a solchener braver Mann sein könnt's, dös hätt' i von an' Auditor nit denkt und der Pangerer Hans und sei' Ahnl wern mit Dank und Freudigkeit an Enk denken.«

Der Auditor reichte ihm die Hand. Sämtliche Offiziere, voran der Oberstleutnant, welche diese Unterhaltung höchlich ergötzte und die dann durch den Auditor noch das Nähere erfuhren, steuerten zusammen, damit Hans seiner Ahnl einen Zehrpfennig heimbringen könne. Dann verließ er mit Thränen in den Augen, dem Auditor nochmals die Hand drückend, den Saal.

»Also von einer mißglückten Landpartie kommt Ihrn schlechtes Aussehen her?« sagte lachend der Oberstleutnant zum Auditor. »Da kommen Sie nur gleich mit zu »Eckel« (Weinrestauration), damit Sie bald wieder zu Kräften kommen.«

»Mißglückt nennen Sie die Landpartie?« antwortete der Auditor. »Es war die glücklichste Partie, die ich in meinem Leben gemacht; ich konnte einem ehrlichen, braven Menschen Hilfe bringen und um diesen Preis riskierte ich noch manche Wanderung in das Pangerfilz!« –

Der Pangerer Hans wurde kurz darauf auf Verwendung des Auditors bei der Eisenbahn angestellt, wo er sich so viel verdiente, daß er um seine alte Großmutter nicht mehr in Sorge zu sein brauchte. Oft äußerte er: »Bei mir is 's Glück im Schlaf kemma und bracht hat mir's oana, den i niemals hab leiden könna, für den i aber iatzt jede Stund mei' Leb'n lasset – der »vergangene« Auditor!«

*

Aus: »Humor.Lustige Geschichten. Erschienen ca. 1900.

 

 


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