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Josef Ruederer

Geboren am 15. Oktober 1861 in München; gestorben am 20.10.1915 ebendort.

Ruederers Vater war Großaktionär und portugiesischer Generalkonsul, seine Mutter stammte aus einer reichen Bierbrauerfamilie. Nach Bankvolontariat und Militärzeit lebte er in München als freier Schriftsteller.


Das Grab des Herrn Schefbeck

Eine Münchner Geschichte

 

 

Frau Hanna Rüdinger geb. Vogl
zu eigen

 

 

Der Herr Michael Karl Borromäus Schefbeck war gerade dreiundfünfzig Jahre, vier Monate und einen Tag alt, als ihn an einem schönen Oktobernachmittag ein Schlaganfall aus diesem Leben abrief. Mitten in voller Kraft und bei segensreicher Tätigkeit ereilte es ihn. Im Kaffeehaus, in Gesellschaft seiner drei besten Freunde, beim Tarock. Er hatte eine Zigarre im Munde, das schönste Herzsolo in der Hand, da plötzlich sah er, wie seine Spielgenossen leichenblaß wurden, wie sie ihn anstarrten, und wie sie die Karten wegwarfen. Er wollte noch schimpfen, weil ihn das schöne Spiel reute, da fiel ihm die Zigarre aus dem Munde, er wollte noch die Aß trumpfen, da machte er eine Bewegung nach rückwärts, er wollte sich noch dagegen stemmen, da fiel er unter den Tisch.

»Au weh! Sakra! Den hat's!« So tönte es aufgeregt an sein Ohr. Und in das unverfälschte Münchnerisch der Freunde und Kaffeehausbesucher mischte sich aus den höheren Sphären das tadellose Hochdeutsch der singenden Engel und Cherubime.

Herumgeschleudert zwischen uferlosem Schrecken und schweißtreibender Angst, glaubte Herr Schefbeck jeden Augenblick sein Urteil zu vernehmen. Er sah sein ungeheures Schuldbuch aufgeschlagen, alles sauber notiert, jede Lüge, jede Völlerei, jede Unkeuschheit, vom ersten Tage bis heute. Doch auch von unten, tief aus der Erde, kamen sonderbare Geräusche. Der eben Entschlafene meinte in angemessenen Zwischenpausen das Fegefeuer prasseln zu hören, ja, einmal war's ihm sogar, als schlüge der Teufel mit einem Schürhakl vielsagend auf die eisernen Bratkessel der Hölle. Dazwischen, und das war das Tollste, hörte er dann wieder die Stimmen der Gäste, des Wirtes und der eilig herbeigeholten Mannschaft der Sanitätskolonne. Er merkte deutlich, wie man künstliche Atmungsversuche mit ihm anstellte, wie man ihn zur Ader ließ, und wie man ihn, als schließlich auch noch ein Arzt im Namen der Wissenschaft mit Achselzucken den sicheren Tod konstatiert hatte, in den höchst simplen Leichenwagen für Unglücksfälle lud.

Ein ganz verrückter Zustand. Und doch nicht mehr so neu. Herr Schefbeck hatte früher manchmal recht lebhaft geträumt. Vom Tode, vom Nimmererwachen, vom Starrkrampf und Lebendig-begraben-werden. Trotzdem hatte er dabei alles beobachtet, was um ihn vorging. Jetzt war er mit seinen Empfindungen genau so festgelegt und so gebunden, nur gab es diesmal nicht das große, befreiende Erwachen aus dem drückenden Schlafe, nicht den tiefen, erquickenden Atemzug, der am Morgen alles Blendwerk von dannen scheucht. Diesmal war er tot, wirklich tot. Und die liebe Menschheit hielt ihm vom Kaffeehaus weg über den Bürgersteig die herrlichste Leichenrede.

An der Spitze die drei Tarockbrüder mit erschütterten Mienen.

»Was wird sei' Frau sag'n?« flüsterte der eine.

»Die tröst' sich scho' wieder,« sagte der andere.

»Hat sich so wie so scho' manchmal tröst',« meinte der dritte.

Und sie nickten alle drei mit den Köpfen, ja, es war Herrn Schefbeck in seinem Verschlage, als lachten sie dabei so laut, wie es der feierliche Ernst solch tragischer Situation und die angesammelte Menschenmenge erlaubte.

Darüber empfand er eine fürchterliche Wut. Er hatte niemals Philosophie studiert, aber so viel Erkenntnistheoretiker war er doch, daß er sich fragte, was dieses Erdenleben wert sei. Kaum war er kalt, da warfen die Leute, die sich immer seine Freunde genannt hatten, den ersten Stein auf seine wehrlose Gattin. Mit Grund? Nimmermehr. Zwar hatte Herr Schefbeck im Laufe seiner fünfjährigen Ehe so manchen Verdacht gehegt; eifersüchtig war er schon öfter gewesen, sogar erst vor kurzem. Auf einen ungarischen Grafen, einen bildsauberen Burschen. Aber da war nichts dahinter. Der junge Mensch verkehrte bei ihm, allerdings. Er war auch mit ihm und Frau Schefbeck einen Winter in Monte Carlo gewesen, in Monte Carlo, wohin Herr Schefbeck immer so gerne ging. Hatte sie Beide spielen gelehrt und in München auf zwei bis drei Bal parés begleitet. Aber es verkehrten doch auch andere Herrschaften im Hause, es machten doch auch dritte Frau Olly den Hof. Hohe Adlige aus Rumänien und Serbien. Ja, auch Münchner, erbeingesessene, erste Münchner Herren aus tadellosen Familien.

Herr Schefbeck zählte sie der Reihe nach auf, während der Wagen im langsamen Tempo dahinrollte. Ueber den Marienplatz weg, die Kaufinger-, die Neuhauserstraße, dann über den Karlsplatz, die Sonnenstraße geradewegs zum alten, südlichen Friedhof, zur Säulenhalle des sogenannten Camposanto. Dort lag neben vielen Anderen in Ehren und Würden der Senatspräsident und Reichsrat Dr. Ritter von Firneusel. Unter einem großen Marmorbaldachin lag er, den der König eigens gestiftet hatte. Denn der Verstorbene war sein Erzieher gewesen; er galt als einer der ersten Männer des Landes, als großer Jurist, als großer Verwaltungsbeamter. Und sein Sohn, der Hofrat Dr. Firneusel, war langjähriger Hausarzt bei Herrn Schefbeck. Staatskonkurs: Note Eins, Schwiegersohn eines Universitätsprofessors, alle drei Wochen zur Königlichen Tafel gezogen, jeden Spätsommer im Allerhöchsten Jagdgefolge. Der ging bei ihm aus und ein, der machte Frau Olly so anmutige Komplimente, so recht zuckersüße, münchnerische, daß Herr Schefbeck seine helle Freude dran hatte. Leider konnte man ihn nie dazu bewegen, seine Frau mitzubringen. Aber das hatte seinen besonderen, wohlberechtigten Grund. Der Herr Hofrat war nämlich selber einmal mit Frau Schefbeck verlobt gewesen als junger, unbedeutender Doktor. Zwei bis drei Jahre, ohne Aussicht auf die materielle Möglichkeit einer Verehelichung, ohne Aussicht auf spätere Praxis.

Ging man nun in Gedanken ein paar Gräber noch weiter, vom alten Firneusel weg, dann ruhte im selben Rechteck der gleichen Säulenhalle der Präsident des Städtischen Spitals, der Obermedizinalrat Dr. Ritter von Klemperer. Der Genius des Todes senkte, in Bronze gegossen, einen ungeheuren Kranz über die Marmorgruft hernieder, die zwei Kandelaber flankierten. Das alles hatte die Gemeindeverwaltung gespendet. Denn der Verstorbene war einer der größten Wohltäter der Menschheit, ein Kinderfreund, wie man ihn selten findet. Und sein Enkel, der Justizrat Klemperer, war der Anwalt des Herrn Schefbeck, wie der Firneusel der Doktor war. Schlich ebenfalls um Frau Olly herum, wenn er sich auch noch intensiver an den raffinierten Weinkeller des Hauses hielt. Mit einer Frau gab es da keine Etikettenfragen. Der Herr Justizrat hatte die seine vor Jahren verloren, und auf seine beiden Schwestern, diese alten, verhutzelten Jungfern, die den ganzen Tag in der Kirche herumrutschten, die Gebetbücher in der Hand, die Gummizugstiefel an den Füßen, verzichtete Herr Schefbeck von vornherein.

Schmerzlich aber hatte er immer den Gatten der Frau von Börnerau vermißt, den Generalleutnant und Divisionskommandeur, Exzellenz Freiherrn Karl von Börnerau. Sie, die Generalin, verkehrte bei ihm, das heißt, bei Frau Olly, ihrer Institutsfreundin, nicht bei Herrn Schefbeck, wie sie ausdrücklich betonte. Diese sehr resolute Dame mit der Stimme eines Korporals und dem Schnurrbart eines achtzehnjährigen Studenten, sehr stolz, sehr von oben herab und doch ohne Vorurteile, ließ sich nieder, wo es ihr paßte. Wohnte außerdem seit undenklichen Jahren im Hause des Herrn Schefbeck. Also auch Jugendbeziehungen, mit denen man gelegentlich renommieren konnte, wie bei Firneusel, nur mit dem Unterschiede: der brachte seine Frau, sie ihren Mann nicht mit. Und das Komische, die ganze Geschichte kam heraus wie verabredet zwischen guten Freunden; auch mit dem Fernbleiben der Schwestern des Klemperer. Feste Verbindung seit Jahren, dicke, ergiebige Freundschaft nach innen und außen. Freilich, die Familiengruft der Frau von Börnerau lag nicht im Camposanto selbst, inmitten der guten Bekannten, sondern im offenen Viereck unter freiem Himmel. Auf Rufweite zu erreichen, mit dem schönen Obelisken auch leicht zu erspähen, aber halt doch nicht drinnen, wo die anderen paradierten, wo auch Reichsgrafen, Prälaten, Minister ihre Namen blinken ließen und daneben Herr Schefbeck.

Jawohl, Herr Schefbeck. Auch er hatte sein Grab dort errichtet. Zu einer Zeit, wo er noch gar nicht ans Sterben dachte, wo er aussah, so frisch, so blühend, wie auf dem Ölgemälde, das im Zimmer der Gattin hing, dicht vor dem seidenen Sofa, in voller Lebensgröße im schwarzen Salonrock, in grauer Weste, mit der breiten, goldenen Uhrkette. Die wasserblauen, gutmütigen Augen lächelten freundlich, die Backen hingen herab, und spiegelglatt glänzte der rundliche Schädel mit der Glatze. Das alles trat plastisch und deutlich hervor. Am deutlichsten der Mund, dieser breite, aufnahmefähige Münchner Mund mit der wulstigen Oberlippe und dem abgezupften Schnurrbärtchen. Er wollte ihn öffnen, den Mund, er wollte reden, denn er fühlte deutlich, daß er bald in dem Leichenwagen, bald in dem Bilde war, daß seine Phantasie herumeilte, vom Friedhof zu seiner Wohnung, daß ihm alles allgegenwärtig schien, was da, was dort passierte, und doch riß es ihn dann immer wieder zu seiner Grabstätte.

Die war weit und breit berühmt ob ihrer Schönheit. Eine ungeheure schwarze Marmorplatte, eingelassen in eines der Felder, gab die Rückwand ab. Darauf ein Engel mit weitentfalteten Flügeln. Oben verkündeten große, goldene Lettern, daß das die Ruhestätte der Familie Schefbeck; unter ihm, wo die wuchtige Granitplatte sich schwer in den Boden senkte, prangte, umgeben von zwei mächtigen Schalen, in noch größeren Buchstaben, dicht über dem schmiedeeisernen Weihwasserkessel das eine vielsagende Wort: »Excelsior«.

Was das hieß, wußte der stolze Bauherr heute noch nicht. Er hatte die gutklingende Inschrift ein paar Felder weiter entdeckt auf dem Grab eines Bürgermeisters von München, der vor hundert oder noch mehr sagenhaften Jahren sein Leben für die Entwicklung der Stadt verbraucht haben sollte. Und weil sie ihm gefiel, übernahm er sie ohne allzugroße Gewissensbisse. Auch der Engel war eine getreue Nachbildung, richtiger noch eine Vergrößerung. Er stammte von der Gruft eines jener hochverdienten Männer, die Bayern achtzehnhundertsechsundsechzig zum Kriege geraten hatten. So blieb eigentlich nur noch der Weihwasserkessel mit den Schalen. Doch auch die waren fremden Ideen entlehnt. Die Schalen dem ersten Direktor der Staatsbank, während der Weihwasserkessel vom Grabe eines großen katholischen Gelehrten stammte.

Und in diese Blüte des Landes zog Herr Schefbeck jetzt durch das hohe Portal als neuer Bewohner. Der weite Weg vom Kaffeehaus war im ödesten Schritte durchmessen, nun winkte von drüben die ewige Ruhestatt. Zunächst freilich ging's noch nicht direkt in die Gruft, sondern in andere Räume. Zur Erledigung der unerläßlichen Formalitäten, zur Anlegung der letzten Toilette. Doch übermorgen da schwebte er hinüber. Im feierlichen Kondukte erster Klasse, wie er es bestimmt hatte. Voran die Posaunenbläser, dann der Kirchenchor, die gesamte Pfarrei im goldverbrämten Ornat, alles zusammen zwölfhundert Mark Kosten. Ein Musikchor nicht mitgerechnet, das, vierzig Mann stark, den Trauermarsch von Chopin spielen mußte. Auch die Leichenrede nicht inbegriffen. Die sollte sehr eingehend sein, alles aufzählen, alle Lebensdaten, alle Verdienste. Dann vielleicht noch ein Freund, der ein paar Worte sprach, nicht zu lang, nicht zu kurz, ein letzter Scheidegruß, und dann, ja dann war's aus. Wirklich aus?

Nein, dann sollte es erst richtig anfangen! Dann wollte er sich freuen, daß er's erreicht hatte. Einen gottverdammten Stolz wollte er da empfinden. Denn er war da, er wollte dableiben bis zum Tag des Gerichtes. Sein war die Gruft, niemand konnte ihn herausschmeißen. Auch die Frau von Börnerau nicht. Obwohl sie's gedroht hatte. Allen Ernstes. Dem Hofrat Firneusel hatte sie's prophezeit, und der hatte es wieder erzählt. Nicht nur in seiner Clique, nein, Frau Olly mit dürren Worten: Daß der Tag kommen werde, wo sie dem ungebetenen Eindringling die Flügel auf die Schultern klebe, wo sie ihn fortwiese wie der Engel Adam und Eva, kurz und gut, wo sie ihn regelrecht hinausschmisse. Denn die Frau von Börnerau wollte selbst herein in die Säulenhalle: für ihr Töchterchen, das, wie sie immer behauptete, seit zehn Jahren draußen unter Kreti und Pleti zu ruhen verdammt war, verlangte sie die vielumworbene Gruft. Sie tat dies mit dem ihrem Temperament entsprechenden Eifer, ja, mit offener Rücksichtslosigkeit, da sie selber am besten wußte, daß die Gräber im Camposanto sonst völlig besetzt waren. Nur der Zufall, daß eine Familie auf immer die Stadt verließ und ihre Toten mit sich nahm, hatte diesmal was frei gemacht. So rannte denn die scharfe Konkurrentin des Herrn Schefbeck ohne Zögern zum älteren Fräulein von Klemperer, das Fräulein von Klemperer rannte zu ihrem Bruder, dem Justizrat von Klemperer, der Justizrat von Klemperer zum Hofrat Firneusel und der Hofrat Firneusel zum Bürgermeister. Der Bürgermeister aber, der die Gräber da draußen zu vergeben hatte, fragte den einschlägigen Rechtsrat. Und der meinte, das viele Spezltum da draußen habe böses Blut gemacht in der Bürgerschaft, deshalb müsse man schon einmal in so vornehme Überspannung mit dem Kaiblwagen dazwischen fahren.

War diese Bezeichnung auch nicht sehr schmeichelhaft für Herrn Schefbeck, er war doch der Sieger geblieben. Und über alle Kaiblwagen, über Adlige und Halbadlige hinweg wollte er eben einen letzten Sprung machen, als ihm etwas in den Sinn kam, woran er im ersten Trubel der Abreise gar nicht gedacht hatte: das Geschäft. Eine ausgedehnte Wurstfabrikation mit einer Unmasse Filialen in der Stadt. Das heißt, um es richtig zu sagen: Herr Schefbeck hatte diese Goldgrube vor zwanzig Jahren von seinem Vater geerbt. Vor zehn oder noch etwas früher ließ er sie durch ein Konsortium wohlhabender Münchner in eine G.m.b.H. verwandeln. Er selbst tat nicht mehr mit, sondern zog sich mit allem Behagen sowie mit dem Titel Kommerzienrat ins Privatleben zurück. Und mit einem großen Brocken Geld noch dazu. Mit sieben Millionen, sagten die Münchner, mit drei Millionen, sagte Herr Schefbeck. Und er lächelte, wenn er das sagte. Als ob er's selber für mehr hielte. Jetzt aber, auf dieser letzten Fahrt, gab's keine Täuschung mehr. Da wuchsen die Zahlen unverschiebbar aus dem Dunkel der Todesnacht. Vierhundertvierzigtausend Mark dreieinhalbprozentige Eisenbahnanleihe mit Coupons per Januar und Juli. Brauerei- und Stahl-Industrie etwa zweihunderttausend Stammkapital, zweihundertzwanzigtausend zum damaligen Kurse. Dazu noch das schöne Zinshaus in der Briennerstraße, sowie die Anteilscheine am Geschäft, etwa siebzigtausend Mark. Von drei Millionen also gar keine Rede, von sieben nicht die leiseste Spur. Weder zur Zeit der Geschäftsübernahme, noch heute. Heute? Mit Entsetzen fuhr es Herrn Schefbeck durch die absterbenden Knochen. Ein paar Tage noch, dann würde seine Gattin die Depots auf der Bank öffnen. Dann würde sie die großen Mappen hin und her wenden, dann würde sie blättern, wie in der Bibel. Der liebenswürdige Beamte am Schalter aber würde lächeln, immer wieder lächeln, oder verbindlich die Achsel zucken. Neun bis zehntausend Mark nicht mehr. Die Papiere, die Anteilscheine alle verklopft, auf dem Zinshaus drei Hypotheken, so gewaltig, daß sie den Dachstuhl fast eindrückten, vor dem bronzenen Portale der nahe, unvermeidliche Bankerott. Eine nette Bilanz, eine famose Ueberraschung.

Eine Ueberraschung? Nein. Wenn Frau Schefbeck nur ein bißchen ehrlich gegen sich selbst war, dann wußte sie's jetzt schon, genau so wie er selber. Nie, niemals hatte sie mit ihm darüber gesprochen, ob's auch reichen würde, das Geld, aber sie duldete, ja, sie wollte es, daß er in einem Automobil neuesten Systems in der Stadt herumkutschierte, daß er zehnmal so verschwenderisch lebte, wie einst vor seiner Ehe mit ihr, und daß er richtig, die Hauptsache hätte er bald vergessen: Das Patent, die große Erfindung! Da lag das Meiste begraben. Zirka zweihunderttausend Mark. Es war ja sicher, totsicher. Ausgedehnte Waldungen unten in Ungarn oder Galizien sollten zu Gummi gepreßt werden. Eine riesige Sache mit den größten Perspektiven. Nur Geduld müßte man haben, viel Geduld, wie der Herr Grellinger fortwährend meinte, Herr Grellinger, der Erfinder, der frühere Offizier, der jetzige Ingenieur und

Unwillkürlich wollte Herr Schefbeck in diesem Augenblick eine Bewegung machen. Herr Grellinger war ein bedeutender Techniker, ohne Frage. Er war ein Genie, wenn man so wollte. Nebenbei war er aber auch einmal der Liebhaber von Frau Olly gewesen. Das wußte die ganze Stadt, das pfiffen die Spatzen von den Dächern, das hatte Frau Schefbeck ihrem Gatten selber gestanden. Noch vor ihrer Verheiratung in aller Offenheit. Oh, er sah sie heute noch vor sich mit dem feingeschnittenen Gesichte, mit den leichtgeblähten Nüstern und den schmalen, vornehmen Lippen. Aber erst die Augen, diese ausdrucksvollen, braunen Augen! Wie die hervorsprangen unter dem leichtgefärbten Hellblond der Haare. Wie die lachten, als sie's ganz harmlos sagte, wie die natürlichste Sache von der Welt. Selbstverständlich, sie hatte mit Grellinger ein Jahr zusammengelebt, ja, sie hatte ein Kind von ihm gehabt, ein liebes, süßes, herrliches Kind. Vor drei Jahren war es dahingegangen, aber vergessen konnte sie's nicht, wenn sie noch so alt werden sollte. Und lieb behalten würde sie's, unehelich, wie es war. Sie pfiff überhaupt auf die ganze Konvention, sie tat, was sie wollte. Ein Belagerungsspiel, ein Schachbrett, so sah sie die ganze Gesellschaft, so hatte sie's mal in einem Romane gelesen, so stellte sie Bleisoldaten, Bauern, Türme, Könige auf Beine und Schlachtfelder, wie's eben paßte. Und tanzten die etwa nicht nach ihrer Pfeife, wollten sie anders, als sie selbst disponierte, dann warf sie den ganzen Krempel über den Haufen. Der Knecht, der seiner Herrin nicht diente, flog an die Wand wie die ausgepreßte Zitrone. Möglich, daß das sehr hart klang, besser aber, man wußte, wie man mit ihr dran war. Als Schulmädel sah sie freilich noch andere Himmel, vielleicht auch noch als Braut, als der Hofrat aber sich drückte, war's aus damit. Denn Herr Schefbeck sollte es nur wissen: der Firneusel hatte sich wirklich gedrückt, er hatte sie sitzen lassen, in perfider, niederträchtiger Weise. Jahrelang verkehrte er im Hause ihrer Eltern, und eines Tages schrieb er, es sei ihm zu brenzlich.

Olly trocknete sich die Tränen und redete lange nichts mehr; sie sah ihre Jugend vor sich im grellen Lichte der Wirklichkeit, ohne Schminke, ohne Retouche. Ihr Vater, ein großer Gelehrter, ein Stubenhocker, ein Weltfremder, der Probleme ausarbeitete, verrückter noch als das Perpetuum mobile. Die Mutter, eine Weltdame, eine eitle Frau und ihre Salons ein großer, offener Taubenschlag. Darin ging es zu wie im ewigen Leben. Jeden Abend fast eine Gesellschaft, jeden Nachmittag ein Tee. Was man damit erreichen wollte? Einen vornehmen Freier, einen Grafen, womöglich gar einen Prinzen. Jedenfalls etwas Besonderes. Oh, der gräßliche Zustand, als dann die Enttäuschungen kamen, die entsetzlichen Jahre, die Vorwürfe na, wie's auch war mit dem Grellinger, was sie in seine Arme getrieben hatte: jetzt war's aus damit, für immer aus. Uebrigens könnte Herr Schefbeck darüber umsoweniger böse sein, als er ja selbst, wie ganz München behaupte, sein redlich Teil auf dem Gewissen habe, sie beide also vollkommen quitt seien.

Worauf sie anspielte, war die Tatsache, daß die erste Gattin des Herrn Kommerzienrats vor fünfzehn Jahren auf einmal ins Wasser ging. Nach einer furchtbaren Szene, vom Mittagessen weg, ohne Adieu zu sagen. Warum? Mein Gott, sie war ein simples Bürgermädel, Tochter des ersten Maschinisten im Geschäft des Herrn Schefbeck, aus Gnade geheiratet. Wie man halt heiratet in der Jugend. Dumm und blöd. Und so war das arme Annerl selber. Beschränkt bis dahinaus, nur fähig, den Strickstrumpf zu halten. Und eifersüchtig! Wollte es absolut nicht verstehen, daß Herr Schefbeck gelegentlich auch Hübscheres suchte. Als es nun gar mit einer rundlichen Ladnerin mal was Junges absetzte, war's aus. Das konnte das unbedeutende Geschöpf, das selbst keine Kinder zur Welt brachte, nicht verwinden. Exaltation, Hysterie, Isarwasser. Böse, böse Geschichte! Man nahm sie Herrn Schefbeck sehr übel. Der Tod wäre ihm vielleicht noch verziehen worden. Aber er ließ die arme Frau in aller Stille niederträchtig bestatten. Draußen auf dem östlichen Friedhof in den gelben, nüchternen Sandreihen der Armenabteilung Serie sieben, Grab Nummer zweihundertundzwanzig. Und das verzieh man ihm nicht.

»Sie sind in München für immer unmöglich«, sagte damals der Hofrat Firneusel zu ihm. Und er zog sich am selben Tage zurück. Fiel ihm auch gar nicht ein, ins Haus zu gehen, als Herr Schefbeck telefonierte, er habe die Lungenentzündung. Aus, für immer aus. So stand's in einer Karte zu lesen. Und der Justizrat Klemperer sandte die Prozeßakten nicht minder patzig zurück. Ja, er grüßte Herrn Schefbeck kaum mehr auf der Straße. Am tollsten aber trieb es Frau von Börnerau. Ohne ihren Gatten lange zu fragen, sagte sie einfach die Wohnung im Hause des Herrn Schefbeck auf, ja, nicht einmal bis zum nächsten Ziele wollte sie bleiben, sofort wollte sie wandern, mit außerordentlicher Kündigung.

»Sehen Sie, ich weiß auch was«, meinte seine Angebetete. Aber nein, sie kannte ihn noch nicht. Denn jetzt wollte er ihr gestehen, daß er sie schon immer beobachtet hatte, lange, lange, bevor er das dumme Annerl an den Traualtar führte. Auf der Straße und vor allem im Theater. Herrgott, wenn er sich erinnerte, was er damals für Rosinen im Kopfe hatte. So oft es ihn traf, saß er im dritten Rang, Vorderplatz, zweite Abonnementsabteilung und hörte den Tristan, den Holländer und den Lohengrin. Eiskalt lief es ihm dabei über den Rücken. Kam er heim, dann fuchtelte er mit den Armen in der Luft herum wie ein Kapellmeister. Manchmal bis zum frühen Morgen, wo ihn die Dampfpfeife oder ein Schimpfwort des Alten in die Kuttelei rief. Er spielte kein Instrument, er zischte nur Melodien der Reihe nach herunter, er gab Zeichen nach rechts und links wie zum Einsatz, er hielt die Primadonna im Takte, er sah mit seiner lebhaften Phantasie in den Zuschauerraum. Ob man ihn beobachtete, ob man ihm zunickte.

Denn dort saßen die vornehmen Damen, in der ersten Reihe die süße, kleine Olly, dies Prachtmädel von fünfzehn Jahren, dies Gewebe aus Tüll und Duft mit den seidenen Strümpfen und den Lackschuhen einer Kinderpuppe. Die winkte ihm zwar nicht zu; fiel ihr ja gar nicht ein, die kokettierte mit Leutnants und Staatsanwälten. Hätte sich wohl auch schief gelacht, wäre ihr der fast zwanzig Jahre ältere Wurstkramer mit solchen Händen, solchen Backen zu Gesicht gekommen. Ueberhaupt saß sie gar nicht da vorne, sondern tief unter ihm, auf der sogenannten Galerie noble, dem Platze der ganz Gewappelten, der höchst Raffinierten, der Firneusels der Klemperers und der Börneraus. Auf jenem Platze, den ein gewöhnlicher Sterblicher niemals erreichen konnte. Allerdings, man brauchte ihn ja nur an der Kasse zu kaufen. Er war feil wie ein Grab im Camposanto. Acht Mark so ein Fauteuil, zehntausend so eine Gruft. Fragte sich nur, ob man hineinpaßte. In die Galerie noble ging es schlecht; man saß da auf dem Präsentierteller. Schlürfte man eine Tasse Eis und goß die rote Sauce über das gestärkte Brusthemd, dann fiel das auf, ebenso wenn man frisch verzehrtes Konfekt in voller Vergeßlichkeit mit den Fingern aus den Zähnen herausholte. Da konnte man aus dem Camposanto draußen schon besser aufdrehen in Bronze und Marmor, ohne daß man gesehen wurde. O, er ging lange und häufig spazieren an stillen Nachmittagen in den ganz verlassenen Säulenhallen. Seine Schritte widerhallten von den großen Platten an den Wänden, seine Augen eilten hinauf zu den steineren Statuen, die starr und unbeweglich standen, wie eine recht fade, vornehme Gesellschaft. Aber er mußte hinein, kostete es, was es wollte, denn er wünschte heimzuzahlen, ins Gesicht springen wollte er all den Puppen und Larven und zwar am liebsten mit jenem Körperteil, den man mit Umschreibung gern als den rundesten bezeichnet. Darum suchte er, der Herr Schefbeck, er suchte, und suchte. Auf die Südseite mochte er nicht; da lagen die Großindustriellen, die Seifensieder, die Bierbrauer, er wollte zum Westen hinüber, mitten hinein in die miserable Bagage, die ihn boykottiert hatte. Grad extra. Und weil's nicht gleich war.

»Mein Gott,« sagte Olly, »ich finde das affrös. Wie kann man sich nur bei Lebzeiten sein eigenes Grab kaufen? Und noch dazu neben dieser Gesellschaft! Die darf man doch nicht so tragisch nehmen, die muß man ganz anders fassen, die muß man auslachen. Schauen Sie mich an, lieber Herr Schefbeck; von mir wollte vor ein paar Jahren kein Hund mehr ein Stück Brot annehmen. Und heute? Hab' ich nicht alles schön dirigiert? Hab' ich die Herren nicht alle am Bandl, und wenn's nottut die Weiber dazu? Geduld und Ruhe, das braucht man in unserer lieben Stadt. Erst schreit man wie besessen, man führt sich auf, wie auf dem Theater, man möchte meinen, der Himmel fällt ein, plötzlich ist alles wieder beim Alten, die Herrschaften verkehren in gewohnter Gemütlichkeit. Warten Sie nur, den Firneusel, den Klemperer und auch die Börnerau, wenn Ihnen gar so viel daran liegt, die bring' ich Ihnen zurück, alle miteinander: auf dem Teebrett will ich sie Ihnen servieren. Darum war es wirklich überflüssig und nebenbei auch eine recht unnötige Ausgabe, daß Sie da draußen auf dem Friedhof so viel Trara gemacht haben.«

Und um schnell von dem Thema hinwegzukommen, stellte sie einige recht geschäftsmäßige Fragen. Nach Vermögen und Einkünften, nach der Höhe seiner Bezüge. Denn jetzt wollte sie klar sehen. Sie war kein Kind mehr, sie war dreiunddreißig Jahre alt; nun sollte das Leben sie entschädigen für alles, was sie durchgemacht hatte. Auch ein Testament verlangte sie. Herr Schefbeck könnte ja morgen sterben ein häßlicher Gedanke, gewiß, und sie war die erste, die ihm ein langes Leben wünschte, schon deshalb, weil er sie aus dem Elend zog. Immerhin, er war so und so viel älter; es war also möglich, und sie durfte nicht wieder auf die Mutter angewiesen sein, wie nach dem Fall mit dem Grellinger. Sicher mußte sie dastehen, und weil ihr Herr Schefbeck dazu die Hand bot, erlaubte sie ihm jetzt einen ersten, schüchternen Kuß auf die Stirne.

Der vor Seligkeit völlig Trunkene nickte in diesem Augenblicke zu allem. Er hatte für das Reale jedes Verständnis verloren, er hörte nur noch das Knistern der seidenen Juponage, er atmete nur noch das feine Heliotrop, das ihrer Robe entströmte. So faselte er das Blaue vom Himmel herunter, von Zahlen und Bildern. Aber bei aller Begeisterung war er ein scharfer Rechner; er wollte ihr ziffermäßige Sicherheit geben, beim Notar, mit Unterschrift, Siegel und Protokoll.

»Kennen Sie den berühmten Nationalökonomen, meinen Freund ach, er besucht mich fast alle Wochen, den Professor Schwartzkogel?« fragte er mit der Miene eines Menschen, dem plötzlich ein erlösender Gedanke kommt. Dieser bedeutende Mann legte Herrn Schefbeck seit Jahren mit beispielloser Ausdauer nahe, die Mittel für eine segensreiche Einrichtung aufzubringen, die er einmal auf einer seiner umfassenden Studienreisen in Norddeutschland kennen gelernt hatte: für großartige Arbeiterwohnungen. Hübsche, behagliche Häuschen sollten sich auf einem weiten Felde erstrecken, aber nicht militärisch ausgerichtet, eins neben dem andern, nicht kasernenmäßig aus roten Ziegeln erbaut, sondern jedes eine Sache, ein kleines Wunder für sich, jedes im Biedermeierstil mit hohem Dache, mit Springbrunnen und Garten. Und die Innenräume sollten mit Bildern geziert werden, mit Reproduktionen bester, moderner Meister, mit Blumen auf Fenster- und Erkergesimsen, mit einem nach Entwürfen angesehener Künstler gearbeiteten Klavier oder Harmonium, auf daß die Psyche des Mannes mit der schwieligen Faust nach getaner Arbeit, sowie des Sonntags Erholung und innere Sammlung finden könne für neue Mühen und Kämpfe.

Ein Projekt von unerhörter Bedeutung nach der sozialen wie nach der künstlerischen Seite, in jedem Falle würdig der mächtig aufstrebenden Stadt. Wollte der Witwer trotz eifrigstem Zureden des Herrn Professors erst nicht recht heran der werdende Ehemann nahm es jetzt umso heftiger auf. Beste Grundstücke im Werte von Millionen, die ihm gerade noch zur günstigen Zeit einer seiner Freunde beim Tarockspiel verkauft hatte, wollte er umgehend der Stadt vermachen, und die wieder sollte nach Errichtung der ganzen Anlage als Entschädigung dafür eine dreieinhalbpronzentige Rente aus dem höchst respektablen Restbetrag seiner Gattin auf Lebensdauer alljährlich auszahlen.

Die ewige Verkettung des eigenen Namens mit einer so außerordentlichen Sache, die Rückeroberung des einst verlorenen Ansehens, sowie die dauernde Versorgung der schönsten Witwe zugleich ob das seiner künftigen Gattin fürs Erste genüge? Ob sie glaube, damit durchzukommen, wo doch außerdem noch ein Barvermögen da war? Auch noch das Patent, von dem sie ja selber sprach? Ei freilich, sie mußte es ja glauben: Geld wie Heu und der Himmel voller Baßgeigen! Aber wäre es auch nicht so gewesen, Herr Schefbeck hätte doch genickt und immer wieder genickt zu Allem, was sie sagte. Denn jetzt, jetzt kam der größte Moment, den er niemals zu hoffen gewagt hatte: sie gab ihm die zarte Liebkosung mit freundlichem Lächeln zurück. Ach, welch eine unerhörte, unvergeßliche Stunde!

»Ollerl«, hatte er damals geflüstert, rot wie ein Puter, vom Halskragen bis zum Ende der riesigen Glatze.

»Ollerl«, meinte er auch heute wieder zu flüstern draußen auf dem Paradebette, wo er aufgebahrt lag, in derselben Toilette wie in der Stunde der Werbung, im Frack, steifen Hemd und weißer Binde. Denn er fühlte auf einmal, seine Frau kam, sie kam zu ihm. Nach allen Richtungen hatte das Telephon gespielt, der Hofrat war herbeigeholt worden, die Frau von Börnerau hatte man die Treppe heruntergehetzt, und der Justizrat Klemperer wollte auch nicht zurückbleiben. Ein Schreien, ein Hin- und Herrennen, ein Stürzen und Toben. Dann endlich ins Automobil, Frau von Börnerau und Olly. Ein Rasen durch die Stadt und jetzt, jetzt waren sie da, alle beide in der Leichenhalle. Frau von Börnerau in mattem Hellgrau, Frau Olly in schnell zusammengesuchter Trauer. Die erste diskret im Hintergrunde, zwischen den Blattpflanzen und Kerzen, die zweite beim Sarg, das feine Batisttuch krampfhaft um die Finger geschlungen. Immer näher und näher kam Frau Schefbeck, jetzt stand sie dicht bei dem Gatten, und da, nein es war keine Täuschung, da hielt sie das Tuch an die Augen und weinte, weinte wirkliche, bittere Tränen.

Herr Michael Karl Borromäus Schefbeck war vom Augenblick seines Hingangs an ununterbrochen von widersprechenden Gefühlen gepeitscht worden; jetzt aber steigerten sich alle diese Empfindungen zu ungeheurer Höhe. Ein namenloser Kummer über den Abschied war es doch das letztemal, daß sie sich sahen eine namenlose Freude über Ollys Tränen hatte er ihr doch solch tiefen Schmerz nimmermehr zugetraut eine heillose Angst fragte er sich doch im selben Augenblicke, ob dieser Jammer, diese Hilflosigkeit auch ihm galt. Wie? Wenn sie's wirklich schon wußte? Wenn sie heulte, weil's nur noch so viel und nicht mehr war? Eine entsetzliche Spannung, wie im letzten Augenblicke vor der Verkündigung eines Urteils. Und da, da kam es. Die Stimme ließ alles erraten. Frau Schefbeck war sich noch nicht im klaren; sie liebte ihn immer noch. »Karl«, sagte sie zärtlich.

Den Michel hatte sie nie leiden mögen, schon vom ersten Tag der Verlobung an nicht.

»Karl«, wiederholte sie und rang die schönen Hände. Dann richtete sie sich hoch auf. Mit einem gewissen Trotz, einer inneren Klarheit, einem sicheren Lebenswillen. Ja, sie war keine Heuchlerin , sie hatte sich diese Stunde ausgemalt an so manchen stillen Abenden, wenn Herr Schefbeck in seiner Kneipe saß oder Kegel spielte. Ohne sie etwa herbeizusehnen bei Gott nicht, sowas fand sie brutal, unanständig, das wollte sie überhaupt garnicht erwägen. Und doch, im dämmerigen, halben Bewußtsein müden, jahrelangen Hinbrütens hatte sie's immer wieder leise angeschlagen, dasselbe Thema: daß sie mit Schefbeck wohl nimmer ihr Leben beschließen werde, daß sie noch etwas darüber hoffe von riesigem Glanze, von riesigen Taten, von riesigen Zeiten.

Und damit hatte sie's ausgesprochen. Riesig. Das war das entscheidende Wort, das Olly beständig im Munde führte. Riesig war immer alles gewesen, was in ihren Bannkreis trat. Riesig die eigene Schönheit, riesig das letzte Amusement, riesig die Zahl ihrer Verehrer. Ein Rest von der überschwenglichen Sprache, die im Hause ihrer Mutter regierte. Dort himmelte man nur in den höchsten Tönen, man himmelte, man sah durch ein Vergrößerungsglas. Jeden Rechtspraktikanten als Amtsrichter, jeden Fähnrich als Leutnant, jeden Freiherrn als Grafen, jeden Grafen als Fürsten; Orden, Titel und sonstige Ehrenzeichen in der vierten Dimension. Und das Geld in der fünften. Vor allem das Geld des Herrn Schefbeck. Das war der Stolz, das war der Balsam, die Entschädigung für die Mesalliance mit dem Wurstfabrikanten, das war die riesige Hoffnung und nun die riesige Erfüllung! Olly war frei, sie war reich, sie war jung, na, ja, wenigstens so ziemlich; jedenfalls konnte sie leben, sie konnte genießen. Und das versöhnte sie mit allem, was sie in der Ehe darunter gelitten hatte, daß ihr Gatte am liebsten in Hemdärmeln zu essen pflegte, daß er dabei die Ellenbogen auf den Tisch legte, daß er's nicht anders tat, als in einem Zimmer mit ihr zu schlafen. Eine friedliche Stimmung kam über sie, ein großes Verstehen, ein unsagbares Mitleid, das ihr warme Tränen entlockte.

»Er war ein edler Charakter«, sagte sie zu ihrer Begleiterin, »für seine Mitmenschen hat er gesorgt und für mich am besten.«

Dann ging sie von dannen. Dem einsam zurückbleibenden Herrn Schefbeck aber wurde es noch schwüler in seinem Verschlage zu mute als zuerst. Hätte Olly geschrien, hätte sie getobt, gekratzt oder gebissen, wie manchmal, wenn sie in der Ehe ihre besonderen Launen aufmarschieren ließ und Herrn Schefbeck einen Proleten nannte, dann wäre ein für allemal Klarheit gewesen, während diese ausgeglichene Gemütsruhe die finsteren Gedanken ihres Gatten weiter hinausführte zu den einsamen Feldern, die der Stadt verschrieben waren, damit aus ihrem Erlöse die Arbeiterhäuschen erstünden zum Ruhme des edelmütigen Stifters, zum Ruhme des weitblickenden Nationalökonomen. Öde und verlassen ruhten sie, diese Spekulationsobjekte; nichts lag auf ihnen außer grauen Massen von Schutthaufen. Darauf zerbrochene Waschschüsseln, durchlöcherte Kochtöpfe, zerrissene Stiefel, deren Leder schon ins Bläuliche spielte, sowie, dem Auge freilich nicht sichtbar, dem Bewußtsein des Kontrahenten aber umso greifbarer, riesige Hypothekenforderungen mit großen, alljährlichen Zinsen. Denn die Entwicklung der Stadt war trotz der schönen Versprechungen, die der Tarockbruder Herrn Schefbeck gemacht hatte, gerade nach der entgegengesetzten Richtung erfolgt, als man damals erwarten konnte. Ob die Gemeinde solch zweifelhafte Erbschaft annehmen, ob sie im Ernste so dumm sein würde?

Die Anwort auf diese bange Frage sollte achtundvierzig Stunden später von keinem geringeren als vom Bürgermeister selber erteilt werden; am offenen Grabe, an der Spitze des Leichenkonduktes. Dort stand der joviale, immer liebenswürdige Herr, umgeben vom städtischen Ehrengeleite, von Flambeauträgern und der Geistlichkeit, dicht über dem jetzt fest verschlossenen Sarge, und redete bewegliche Worte. Von hohem Bürgersinn, von leuchtendem Vorbild, von Liebe zur Heimat. Ihm aber riß ein Anderer das Wort aus dem Munde, der im schwarzen Zylinder ungeduldig daneben gewartet hatte, der Professor Schwartzkogel. Der nannte den Verstorbenen im besten Sinne des Wortes sozial. Dann hielt er einen Vortrag über Volkswirtschaft, er sprach zu seinen Studenten, die er mit an das Grab befohlen hatte wie im Seminar, wenn er, wie jedesmal zu Beginn des Semesters, seine Arbeiterhäuser empfahl, und schloß damit, daß er in gutgewähltem Bilde diesen Traum seiner Jugend aus der Asche dieses Grabes ersteigen ließ. Im selben Augenblick setzte der städtische Gesangschor mit ergreifenden Tönen ein. »Über den Sternen ist Ruh«, so hallte es in die Gruft hinab als Schluß der imposanten Trauerkundgebung.

Herr Schefbeck hatte in seinem abwechslungsreichen Leben vieles für möglich gehalten dieses Leichenbegängnis überstieg seine kühnsten Erwartungen. Hätte er noch tiefer in die Erde sinken können, als er schon lag, er würde es getan haben, teils aus Freude, weil ihm soviel Ehren erwiesen wurden, teils aus Scham, weil sie in der Tat so gänzlich unverdient waren. Was besaß er denn noch außer den lumpigen Barmitteln? Als ehemaliger Kaufmann und Fabrikant, als treubesorgter Gatte nahm er in Gedanken auch das letzte Inventar auf, von der Haustüre an bis zur hintersten Mädchenkammer: Ein Eßzimmer mit einer altdeutschen Einrichtung, die schon vor 30 Jahren gefertigt war, ein paar Boulemöbel im Boudoir seiner Frau, eine Standuhr in Rokoko in seinem Studio, wie er sein Arbeitszimmer zu nennen pflegte, ein Nymphenburger Porzellanservice, ein Ölbild von Bodenhausen, das ein Märchen, eines von Kiesel, das eine Odaliske, eines von Grützner, das betrunkene Mönche darstellte. Mit den Vorhängen, der Wäsche und mit allem, was sonst noch herumlagerte, machte es höchstens zweitausend Mark. Dazu noch der Weinkeller, der allerdings erst zur Hälfte bezahlt, der neue Züst, von dem kaum ein Drittel gedeckt war, und dafür sang, blies und redete die Leichengesellschaft da oben mit vollen Backen! Nun denn, wenns ihr genug war, wenn sie dafür Olly die festgesetzte Rente auszahlte, ihm konnte es recht sein. Ein Grundstück besaß er ja doch, auf dem keine Hypothek lag, das war solider als die andern, schuttbedeckten da draußen, das war eine unveräußerliche Immobile, deren Wert gar nicht hoch genug eingeschätzt werden konnte: das Grab. Und da glaubte er sich immer breiter zu machen, mit dem sicheren Gefühl, daß er nie vertrieben werden konnte, auch wenns die Börnerau gedroht hatte, auch wenn sie wieder zum Bürgermeister lief, auch wenn sie ...

Plötzlich hielt er ein in seinen Gedanken, die er ausgesponnen hatte, er wußte selber nicht mehr wie lange. Das war das Tolle und doch zugleich wieder das Begreifliche in seiner jetzigen schier unglaublichen Situation, daß er jedes Gefühl für Raum und Zeit allmählich verlor. Droben die Trauergesellschaft hatte sich verzogen; der erhebende Gesang war in alle Winde verweht, man hörte nur, wie dann und wann ein Besucher des Camposanto über die mächtigen Platten der Gruft hinwegstolperte, daß es tief unten widerhallte wie das Echo eines Schusses in den Bergen. Herr Schefbeck sann schärfer nach. Tage, ja Wochen mußten vergangen sein, und doch hatte er noch immer nicht den einen Satz ausgesprochen, in den sich die Frau von Börnerau auf einmal geschlichen hatte wie ein Seidenwurm, unhörbar, unheimlich, daß ihm die wenigen Haare, die er noch hatte, zu Berge zu stehen schienen. Wie war das gekommen? Richtig, jetzt wußte er's ! Aus weiter Ferne war ein Ton heruntergedrungen, ein heller, seltsamer Ton. Doch der kam keineswegs von seiner Feindin, nein, der war von Olly. Nicht der tobende war's, den er sich erst gewünscht hatte, als sie ihm auf immer Lebewohl sagte, nein, es war so ein ganz besonderer, merkwürdiger Klang. Herr Schefbeck kannte ihn nur zu gut. Und liebte ihn gar nicht. Mit ihm könne man Tote erwecken, so hatte er einmal gesagt, und war zum Zimmer hinausgelaufen, als sie's wieder 'mal hören ließ, dies gellende, minutenwährende Aaaah, das sie immer ausstieß, wenn sie nicht gleich bekam, was sie verlangte. Und diese schrille Dissonanz bohrte sich immer tiefer, immer unbarmherziger in die einsame Gruft, um so grausamer, als Herr Schefbeck sich diesmal nicht die Ohren zuhalten konnte, sondern geduldig zuhören mußte, harrend der Dinge, die da noch kommen sollten.

Sie aber, die so klagte, stand wie festgewurzelt, minutenlang, so wie man manchmal auf der Straße steht, ratlos und hilflos, weil man nicht vorwärts und rückwärts kann vor Menschen und Wagen. Ein einziger Schritt die Menge erdrückt einen, ein einziger Schritt die Räder gehen einem über den Leib. Wohinaus? Wohin? Vor ihr ein Schreiben aus dem Bureau des Bürgermeisters, ein kaltes, sachliches Schreiben, dessen Ton sonderbar abstach von jenem der Leichenrede, hinter ihr mit forschendem Blick die Freundin, die ihr in diesen Tagen nicht von der Seite wich. Und dabei diese schwere Ungewißheit! Sie hob Ollys Körper abwechselnd von Fersen auf Ballen, sie stürmte auf sie ein, wie in der Stunde der Werbung. Was hatte sie dem Toten damals gesagt? Sie zöge die Männer an Drähten, und dienten sie ihr nicht mehr, dann flögen sie hinaus. Und nun war sie unfähig, auch nur die Hand zu erheben. Wie ein Kind, dem man das Kartenhaus zerschlagen hat. Kaum sah sie auf, als die Begleiterin sie endlich langsamen Schrittes durch das Zimmer führte. Sie drehte nur nervös ihr Batisttaschentuch um die schmalen Finger mit den blinkenden Nägeln, sie atmete, als stiege sie den steilsten Berg hinan, plötzlich aber schluchzte sie, ohne Willen, ohne Überlegung, ohne Halt, als ob es ihr die Brust zerrisse, als ob sie's hinausschreien wollte in alle Welt, ihrem Manne und den Toten, die sonst noch auf dem Friedhof lagen, auf den Kopf: ihr Leid, ihre Verzweiflung.

»Olly«, rief Frau von Börnerau, »hör doch auf mich, ich mein' es ja gut mit dir.« Und sie meinte es wirklich gut; sie sprach mit milder, versöhnlicher Stimme. Als Ollys unverbrüchliche Freundin. Jawohl, jetzt erst recht. Denn sie hatte es immer gewußt, sie hatte alles vorausgesehen. Längst schon diskutierte man in eingeweihten Kreisen die finanziellen Verhältnisse des Herrn Schefbeck. Nun, wo er tot war, konnte man offen reden, man konnte unter guten Freundinnen sich's eingestehen, daß er ein Protz war, der Herr Kommerzienrat, weiter nichts, ein Mensch, der sich in Kreise drängte, die ihn nicht wollten. Wie war es denn sonst möglich, daß er überhaupt um Olly anhielt, wie war es möglich, daß er sich dieses Grab kaufte, dieses überladene, häßliche Grab, mitten in der ersten Gesellschaft, wohin er nicht paßte, wohin er nicht gehörte? Am besten, Olly sähe es nie wieder, dieses Grab, sie gäbe es gleich weg, für immer, samt allen schrecklichen Erinnerungen. Dann konnte wenigstens noch was Gutes dabei herausschauen, und die materielle Lage sich bessern. Sie, die treue Jugendfreundin, wollte wenigstens alles, alles tun, was in ihrer Macht stand, und wenn Olly den höchsten Preis verlangte, heute noch sollte er auf dem Tische liegen.

Wie ein Hagelwetter ging es auf Olly hernieder, während sie mit ihrer Begleiterin im Zimmer auf und ab ging. Alle ihre Theorien, die sie Herrn Schefbeck bei der Werbung in langen Reden entwickelt hatte, stürzten auf einmal in Trümmer; eine neue, gräßliche Welt tat sich vor ihr auf, daß sie Mühe hatte, die Gedanken einzeln zu ordnen. Ja, auch sie hatte das Grab als eine Protzerei empfunden; es war ihr widerwärtig wie alles, was an Tod und Verwesung mahnte, an Sarg und an Leichentuch. Jetzt aber, wo die Börnerau so impertinent redete, wo sie mit ihr verhandelte, wie mit einer Bettlerin, wuchs es ihr in weiten Sprüngen zum vergötterten Idol. Was? Verkaufen? Wie eine Buttersemmel losschlagen? Ha, ha, so weit war man denn doch noch nicht. Da winkten andere Subsidien, da winkte vor allem das Patent, Grellingers Patent! Herrgott im Himmel, zur rechten Zeit fiel es ihr ein: die Hunderttausende, die Millionen! Und da wollte diese miserable Gesellschaft es unternehmen, sie regelrecht zu verdrängen? Ah, wenn sie sich das alles vergegenwärtigte, diese äußere Wohlanständigkeit, dieses Etepetetegetue, und dabei diese Heuchelei, diese Fäulnis naus, naus zu der Türe sollte die Börnerau! Und wenn sie's nicht tat, dann schrie es Olly zum Fenster hinaus. Einen Faustschlag Allen in das Gesicht, so hatte es ihr Gatte gehalten, so wollte auch sie handeln. Jetzt gleich am ersten November, am Allerheiligenfeste. Da putzten die feinen Herrschaften ihre Gräber, als ob es Balltöchter wären, da wollte auch Olly 'mal zeigen, daß sie noch nicht verloren war. Aufdrehen wollte sie, wie bei einer Hochzeit, daß den umliegenden Nachbarn in den Grüften Hören und Sehen vergehen sollte, den Überlebenden aber erst recht.

Und was sie der Börnerau an jenem Tage ins Antlitz geschleudert hatte, führte sie aus. Durch den ersten Gärtner der Stadt, durch die teuersten Stoffmagazine. Ein mächtiger Baldachin aus schwarzem Krepp türmte sich über dem Haupte des Engels. Von dort zogen meterbreite Schärpen in stolzen Windungen zum Fuße des Gruftdeckels. Daraus stieg eine Insel gewaltiger Blattpflanzen empor wie ein großer, fürstlicher Wintergarten. Und über ihn fiel von oben ein Guß köstlicher, weißer Rosen, der den Boden deckte in fußhoher Schicht, während aus den mit Goldstoff umsponnenen Schalen bläulicher Weingeist flackerte. Auf und nieder ging er im leichten Herbstwinde bis zu der in Eile gemeißelten Inschrift:

 

Michael Karl Borromäus Schefbeck.
Kgl. Bayr. Kommerzienrat,
geb. 4. Juni 1854, gestorben 5. Oktober 1907.

 

So stand es zu lesen, so entsprach es den Tatsachen. Herr Schefbeck ruhte wirklich da unten. Und das Merkwürdige dabei: Wollten sie ihn im Himmel noch nicht, war der Termin zu seiner Vernehmung verschoben er fühlte alles, was um ihn vorging. Er kannte den Betrieb, den München an diesem Tage entfaltete, er wußte: bei Firneusels standen zwei große Palmen, bei Klemperers brannten zwei Kerzen so dick wie Kanonenrohre und drüben bei Börneraus prangten graublaue Astern. Ein Jahr wie das andere die gleiche Dekoration, der gleiche Aufmarsch der Stadt. Nur dreimal verstärkt in der stolzen Ecke des Camposanto. Das summte, das schwirrte um das Grab herum in immer höheren Tönen, und je stärker es arbeitete, umso stürmischer ging's in der Brust des Herrn Schefbeck. Das war sein großer Tag, den man nur einmal genießen konnte, wie die erste Kommunion oder die Firmung. Freilich klopfte es wieder mit drohenden Schlägen in der Stirne, wenn er dachte, was ihm einen Augenblick in den Sinn gekommen war, jene schreckliche Vorstellung, die ihm entgegentrat wie ein schwerer Zahlungstermin oder die Cholera, aber der Leichtsinn behielt noch einmal die Oberhand.

Ein Gefühl grenzenloser Wurschtigkeit kam über ihn. Après moi auf französisch und auf altbairisch noch hinterher was recht Schönes gedacht! So hatte er's in früheren Jahren öfters empfunden, wenn er als Junggeselle zum Märzenbier mit Freunden auf die Oktoberfestwiese zog. Da spielten die Drehorgeln, da kreischten die Viecher, da krachten die Schüsse und da küßten die Mädel. Jetzt nur tüchtig geschwiemelt und jeden verlacht, der nicht mittun konnte. Ha, ha, da kamen sie alle daher, die verhungerten Schlucker, die zwei wüsten, alten Jungfern, die hochmütigen Klemperers. Wie sie grinsten, wie sie stierten daß sie kein Kreuz schlugen, war alles. Und jetzt noch Frau von Börnerau dazu. Die rechnen aus mit den andern, was das gekostet hat. So laut, daß Herr Schefbeck die Zahlen hört. Ja, ja, sie bersten vor Wut, alle miteinander, auch der Justizrat, der Hofrat, sie schauen auf Olly, denn die, kein Irrtum, stand auch da oben. Ja, wahrhaftig, sie war's, sie kam wieder zu ihm, die gute, die treue, die prächtige Seele! Erst hatte Herr Schefbeck nur ein Rauschen, ein Knistern von Seide, das Knarzen eines kleinen, feinen, ledernen Damenstiefels gehört, jetzt aber glaubte er so verstohlen hinaufzublinzeln, wie als Lehrjunge, wenn vor ihm die Ladnerinnen im Geschäfte des Vaters die durchbrochenen Stufen der eisernen Wendeltreppe zum Lagerraum hinaufsprangen. Und da sah er sie wirklich stehen. In feschester Trauer, mit einem mächtigen Schleier aus Crêpe de Chine, einer weißen Krause zwischen dem Hut und dem prachtvollen Haar. Stolz und hochaufgerichtet ließ sie die Menschheit vorbeigehen. Gerade so, als wenn Gesellschaft war bei Schefbecks, in der Briennerstraße. Da ein freundlicher Blick, da ein Händedruck, da wieder ein leichtes Nicken des Hauptes. Und wie alle Menschen von ihr begeistert taten, so tat es Herr Schefbeck. Das war seine Frau! Über diesen Körper hatte er verfügt. Nicht gerade schrankenlos wie ein hochbeglückter Liebhaber immerhin, er hatte genossen, er hatte geküßt, diesen Mund, diese Schultern, diese Arme, diese Schenkel. O, was hatte er oft für Witze gerissen, für saftige, kräftige, wenn er abends mit ihr allein war im stillen Schlafgemach, um sie zu sich herüber zu locken. Und so war's ihm auch jetzt, als müsse er wieder den Mund öffnen, als müsse er was sagen, was recht Zweideutiges, Feines, Pikantes. Dann würde sie sich herablassen zu ihm mit holdseligen Gebärden; ringsum aber würde das Feuer dreimal so stark aus den Schalen hervorprasseln, die Blumen würden den Duft noch betäubender über alle ergießen, und die Standbilder der Obergewappelten würden die Beine schwenken, daß Olly selbst ihren Spaß daran hätte. Oder nicht? Nein, sie war schlecht aufgelegt, merkte auch nicht, daß es aus der Unterwelt zu ihr sprach, sondern hielt sich auf einmal an den Grellinger. Und dem sagte sie's offen heraus, voll Verzweiflung in den Augen, als sie den Kirchhof wankenden Schrittes verließ. Neuntausend Mark, es wurde nicht mehr. Und wenn sie alle Schubladen noch einmal aufrisse, wenn sie noch hundertmal auf die Bank liefe! Neuntausend Mark, und die so gut wie verfallen. Von heute auf morgen zu leben, was dann käme, wisse der Himmel. Er glaube es immer noch nicht? Na, er werde es bald merken, wenn er noch länger so gaffe. Denn jetzt war's an ihm, zu handeln. Wo bleiben die versprochenen Millionen, wo? Jahre hatte sie gewartet; konnte er sie jetzt nicht bringen, dann war er entweder ein Trottl oder ein Lump. Was? Widersprechen wollte er? Und noch immer die schönen Redensarten von der Geduld? Damit war es vorbei. Entweder oder. Konnte er jetzt nicht wenigstens den Einsatz geben, dann warf sie ihn einfach hinaus, dann spielte sie Fangball mit ihm, wie mit allen Männern, mit allen Hunden, mit ...

»Wie schaust du aus?« schrie Grellinger auf einmal ganz entsetzt, »komm heim, ich hol' deine Mutter, ich hol' den Firneusel.«

Ihre Mutter? Nicht um die Welt! Mit der war sie fertig. Aber den Firneusel – das war vielleicht zu überlegen. Er machte ihr zwar unverschämte Anträge, er nannte sie Ollerl, wie zur Brautzeit, ja sogar Küsse hatte er schon riskiert. Trotzdem sie ihn abwies, den Süßmeier, den faden, der ihr verhaßt war, wie die ganze übrige Bagage. Aber wer weiß, wer weiß, wozu man ihn brauchen konnte? Eben weil er gar so vergafft war, der feine Herr Hofrat, der korrekte Ehemann, der sie immer seiner Freundschaft versicherte und den ganzen Tag zu der Börnerau lief, der überall die Karten mischte, in alle Haferln guckte und vielleicht eines Tages doch so wunderbar an der Nase herumzuführen war, so leicht, so fein, daß er den dicken Betrug erst merkte, wenn's lange zu spät war, wenn Olly schon über alle Berge flog, weit weg mit der letzten Habe und mit dem jungen, ungarischen Grafen.

Jawohl, mit ihm! Mitten in der größten Bedrängnis, mitten auf der schmutzigen Straße, unter den hastenden Friedhofbesuchern war ihr das eingefallen. Sie sah den Ort vor sich, wo sie ihn kennen gelernt hatte. Sie sah die große Terrasse von Monte Carlo im vollen Mondschein liegen, hoch über dem glitzernden Meere und den exotischen Gewächsen. Ein Streifen roten Lichtes huschte darüber. Der kam aus der Türe eines weitgeöffneten Saales. Da drinnen schwebten die Paare vorüber unter den Klängen eines leichten, französischen Walzers, eines von jenen, die weder Melodie noch Rhythmus erkennen lassen, die nur einlullen in Sinnlichkeit und Sommernacht. Denn Sommer ist immer in diesem glücklichen Lande und Karneval auch; da braucht man nicht lang erst zu warten, wie in München, dem alten Philisternest, bis die Polizei am Dreikönigstag die Genehmigung gibt. Man tanzt das Jahr durch, hat man aber genug gedreht, dann geht man ein paar Schritte weiter und wirft Geldstücke auf den grünen, lautlosen Tisch, diese großen, prachtvollen Louis, wovon einer gleich hundert Franken umfaßt. Die rollen und rollen und rollen, sie mehren sich, sie wachsen zum ungeheuren, glühenden Haufen.

»Schon möglich; man muß sie nur erst haben zum Einsatz,« stieß Grellinger wütend hervor und empfahl sich.

Olly gab keine Antwort mehr, sondern lächelte nur, ganz eigentümlich, ganz versteckt. Als sie aber zuhause war im stillen Zimmer, als sie Hut und Mantel abgelegt hatte, tat sie es nicht mehr, sondern setzte sich nachdenklich aus das seidene Sofa gegenüber dem goldumrahmten Bilde des Gatten. Da sah sie hinauf, den Arm auf die Lehne, den Kopf auf die Hand gestützt, fünf bis sechs Stunden. Bis der Abend kam. Sie schaute in die Augen des Herrn Schefbeck, in diese wasserblauen, gutmütigen Augen, sie ging die spiegelglatte Glatze herunter, die gutrasierten, rundlichen Hängebacken, auf die rote Plastronkrawatte. Alle Haare des Bärtchens zählte sie da der Reihe nach. Der Herr Kunstmaler hatte keines vergessen, hatte sie glattgestrichen wie der Friseur vor der Sitzung mit den Brenneisen. Auch der Salonrock saß, als hätte ihn der Schneider eben neu aufgebügelt, tadellos wie die hellgraue Weste mit den gelben Pünktchen, wie die Uhrkette mit den mächtigen Gliedern, wie der Goldreif mit dem großen Brillanten. Riesig hatte ihn Olly immer genannt, riesig wie das Vermögen. Und riesig sagte sie auch jetzt noch. Dabei wurden ihre Blicke immer sonderbarer, ihre Gedanken immer grotesker. Sie tanzten herum, sie bohrten sich durch das Bild, so fest, so erregt, daß es weiter drang durch Leinwand und Mauern hinaus zum Camposanto.

Was war das? Der Festrausch vorüber, die Lichter am Erlöschen, über der Säulenhalle die Dämmerung des trüben Novemberabends und hinter ihr mit leisen, unmerklichen Schritten ein böses Erwachen, ein gräßlicher Kater. Sollte es möglich sein? Ihn verschachern, ihn ausgraben? Er war im Recht, auf eigenem Grund und Boden. Einen Verkaufsbrief besaß er, den der Bürgermeister unterschrieben hatte und zwei Rechtsräte dazu. Auf immer, stand da drinnen zu lesen, und wenn die Gemeinde ihr Wort brach, dann war das Gericht da. Das Landgericht und der Justizrat. Jawohl, der Herr Klemperer. Für was zahlte denn Herr Schefbeck die großen Rechnungen alle Jahre? Her mit dem Kerl! Und wehrte er sich, dann wollte sein Klient gleich selber dagegen stemmen, er wollte schreien, brüllen. Ah, sie sollten nur kommen, alle die guten Familien, sie sollten es nur versuchen, sich breit zu machen da unten: er blieb. Mochte das Weib, das elende Weib, noch so finster auf ihn herstarren mit diesen wunderschönen Augen, mochte es noch so verwegene Gedanken wälzen.

Aber was er auch dachte und zusammenreimte, der tote Herr Schefbeck, sie machten nicht halt vor ihm, weder die Augen noch die Gedanken von Olly. Sie maßen das Grab, sie maßen das Geld, das riesige Geld, sie maßen die Entfernung vom Camposanto, vom südlichen Friedhof zu den Reihengräbern des östlichen. Niemals hatte Olly diese Stätte betreten. Und jetzt sah sie auf einmal dem Dunkel des Abends einen niederen Erdhügel mit einfachem Kreuz entsteigen, so deutlich, als hätte sie da draußen schon selber gewohnt. Während sie aber hinstarrte, hörte sie plötzlich das Gelächter der Stadt, den gellenden Entrüstungsschrei von jung und alt, von hoch und nieder. Oh, welche Affäre, welch ein Skandal! Mit den Fingern würde man auf sie weisen, mit vollen Backen würde man sie verfluchen. »Meinetwegen!«, sagte sie halblaut vor sich hin und blickte noch fester auf ihren Gatten, diesmal sogar mit dem Ausdruck eines bösen Trotzes. Ob er wollte oder nicht er mußte heraus aus der Gruft! Denn, wenn sie es recht bedachte, dann trug er alle Schuld und hatte sie sitzen lassen im schrecklichsten Elend, gerade so, wie es die Börnerau immer behauptete; noch mehr, er hatte sie regelrecht angeschwindelt. Also, vorwärts Herr Schefbeck, zur Wanderung gerüstet! Er wollte nicht? Er berief sich auf sein Recht, auf Verbriefung, Urkunde und Magistratsräte? Da konnte geholfen werden. Nicht mit Brutalität, nein mit dem Gefühl, mit dem letzten Aufwand von Pathos, der ihrer Handlung auf drei Tage nach außen sogar noch ein schönes Mäntelchen umlegte.

»Wenn ich sage, ich kann mich nicht von ihm trennen? Wenn ich sage, ich nehme ihn mit mir nach Monte Carlo? Wenn ich sage, ich lasse ihm dorten ein Grab bauen, noch viel schöner und großartiger, als er's hier gehabt hat, dann ..., dann fallen die Esel darauf rein! Ja, so ist's am besten! Karl Borromäus, 's ist schon tief im Herbst, kühl und neblig wird's draußen, drum lös dir eine Fahrkarte ... du bist ohnehin so gern an die Riviera gegangen, so geh auch diesmal, gelt?«

Damit sprang sie in die Höhe, und in ihren Augen funkelte es wie von sprühendem Feuer. An die Börnerau direkt? Das ging nicht mehr nach der Szene. Aber für was war denn ihr ehemaliger Bräutigam da, der Herr Hofrat, der treue Freund der Frau Generalin, der Freund des Bürgermeisters, des Rechtsrats, der Freund von Gott und der Welt? Der mußte alles erledigen, der mußte die Herren dahin bringen, wohin sie verlangte. Freilich, er würde schon ungestüm werden, er würde schon fordern. Aber sie würde zurückhalten, nur versprechen würde sie, und obendrein wollte sie ihm die Ueberraschung so bitter wie möglich machen. Das war ihr letzter Trumpf. Ihn reizen, ihn kitzeln, bis sie das Geld besaß, und dann eilig davon. Wenn er aber brutal wurde, dann schrie sie um Hilfe, oder sie schoß ihn nieder. Auf, fort in das Schlafzimmer! Dort riß sie die Kleider herunter in fiebernder Hast, mit zitternden Händen, bis sie nackt in der Mitte des Zimmers stand. Dann stellte sie sich vor den Spiegel, sie reckte sich, sie lächelte sich selber zu, befriedigt von der eigenen Schönheit, gewiß ihres Sieges, den sie noch steigern, noch überbieten wollte. Darum holte sie durchbrochene, seidene Strümpfe heraus, sie warf ein Batisthemd über, das Hals und Arme freiließ, sie frisierte die Haare. Jetzt, wo alles bereit war, mit einem Satz in das weite, mächtige Bett und zurückgelehnt in die Kissen. Sie hatte es Herrn Schefbeck ja immer gesagt, daß man nichts ernst nehmen dürfe, am letzten die gute Gesellschaft. Ein paar Jahre noch, dann würde sie wiederkommen, dann würde alles vergessen sein, alle Schärfe, alle Schroffheit wieder verwandelt in alte Gemütlichkeit, wie nach dem Fall mit dem Grellinger. Drum ohne Zaudern auf den Elfenbeinknopf gedrückt!

»Ich bin krank, sehr krank. Holen Sie sofort den Herrn Hofrat.«

Das rief sie so laut, so energisch, daß Herr Schefbeck es wieder hörte, draußen im Camposanto. Noch schlechter wurde es ihm da in seinem Sarge als ihm schon war. In letzter Verzweiflung wollte er seine verglasten Augen in die Richtung drehen, wo die Grundstücke lagen, die weiten Felder, die er der Stadt vermacht hatte. Wo blieb denn der Bürgermeister mit seiner schönen Rede, wo blieb der Schwartzkogel, der hochgelehrte Professor? War auch alles verpfändet, der Schwindel haushoch aufgetragen wie die Hypotheken und die nach Fäulnis schmeckenden Schutthaufen zum Teufel nochmal, etwas mußte ja doch noch herauszuklopfen sein bei dem Handel, und war's auch nur so viel, daß er sein Grab behalten konnte, daß er nicht fort zu wandern brauchte ins graue Elend, in die Armut, weg über bläulich schimmernde Lederstiefel und in Stücke geschlagene Nachttöpfe. Scheußliches Bild! Herr Schefbeck wußte, das alles lagerte statt der sauberen Arbeiterhäuschen mit den grünen Fensterläden, den Springbrunnen und den modernen Bildern da draußen, dicht neben leeren Konservenbüchsen und verbuckelten Eisenkübeln. Und bei dem Gedanken hätte er sich am liebsten bekreuzigt. Verflucht der Spekulant, der Bauunternehmer, der zu dem Kaufe geraten hatte! Jetzt standen die betrogenen Teilhaber mit langen Gesichtern herum, nur einer von ihnen rührte sich und schwang einen Hammer. Einen kleinen unscheinbaren Holzhammer. So schien es wenigstens Herrn Schefbeck in seinen schrecklichen Vorstellungen, ja, er meinte deutlich dabei zu hören, daß ausgerufen wurde, wie bei einer Versteigerung.

Aber die Schläge wuchsen und wuchsen, als kämen sie vom mächtigsten Eisenwerke, plötzlich stemmte es dazwischen mit Winden und Bohrern, und auf einmal riß es den Gruftdeckel empor wie am Tage des Gerichtes. Nach beiden Seiten, mit jähem Rucke, daß es laut widerhallte in den Gewölben. Und immer weiter trieb es dahin. Es kamen acht schwarze Männer; vier trugen kleine Laternen, die anderen vier packten den Sarg und warfen ihn ohne Umstände auf einen simpeln, niederen Karren. Viel simpler noch als jenen, der Herrn Schefbeck vor zwei Wochen hinausgefahren hatte. Zum östlichen Friedhofe ging es auf ihm, die öden Sandreihen entlang zu einem schmalen, offenen Grabe. Serie sieben, Grab zweihundertdreiundzwanzig, lag das dumme Annerl; auf zweihundertvierundzwanzig zog jetzt Herr Schefbeck. Ohne Feierlichkeit, ohne Posaunenklänge, ohne Geläut, ohne Geleit. Und während die ganz gemeinen Schollen auf den feinpolierten Sarg herniederprasselten wie Infanteriesalven, hob es den neuen Ankömmling auf einmal höher und höher zum Himmel hinauf, bis es aus war mit Welt- und Erdenbewußtsein. Nur ein letzter Ton drang noch von unten als Scheidegruß von der schwindenden Vaterstadt. Der kam von den drei Tarokbrüdern, die gleichgültig an dem zugeworfenen Grabe standen, die Hände in der Tasche, die Zigarren im Munde.

»Was hab' i denn g'sagt?« fragte der Erste.

»Haben's ja glei' g'wußt« lachte der Zweite.

»Recht is eahm g'scheh'n,« nickte der Dritte.

Und in das unverfälschte Münchnerisch der ehemaligen Freunde mischte sich aus den höheren Sphären bereits wieder das tadellose Hochdeutsch der singenden Engel und Cherubime.

*

Zuerst erschienen: 1912.

 

 


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