Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Paul Heyse

Geboren am 15. März 1830 in Berlin; gestorben am 2. April 1914 in München.

Heyse fand schon im Elternhaus eine Atmosphäre vor, in der kultivierte Geselligkeit, geistig-literarischer Austausch, die Anteilnahme an Musik und bildender Kunst Selbstverständlichkeiten waren. Die Mutter war mit der Familie Mendelssohn-Bartholdy verwandt und stand mit den führenden jüdischen Salons in Berlin in geselligem Verkehr. Schon während seiner Schulzeit am Gymnasium entstanden erste literarische Versuche, auf die Emanuel Geibel aufmerksam wurde.

Nach vier Semestern Studium der klassischen Philologie in Berlin wechselte Heyse zum Studium der Kunstgeschichte und Romanistik nach Bonn und promovierte 1852 mit einer Arbeit über die Lyrik der Troubadours. Zuvor schon hatte der Vater des Sohnes Entschluß, Dichter zu werden, freudig begrüßt.

Den 24jährigen erreichte der Ruf des bayerischen Königs Maximilian II. 1854 übersiedelte Heyse nach München und nahm regelmäßig teil an den »Symposien« des Königs im Dichter- und Gelehrtenkreis. Daraus ergaben sich vielfältige gesellschaftliche Verbindungen. Er konnte sich eine herausragende Stellung als literarische Autorität aufbauen und sie über Jahrzehnte als Hofpoet und Dichterfürst in der Nachfolge Goethes behaupten, seit 1874 in der repräsentativen Neo-Renaissance-Villa nahe der Lenbachs residierend. Um den brachliegenden literarischen Austausch in München zu beleben, hatte Heyse mit Geibel schon 1854 nach dem Muster des Berliner »Tunnel« die Dichtervereinigung »Krokodil« gegründet und seit 1868 auch geleitet. Mit dem von Geibel herausgegebenen Münchner Dichterbuch stellte sich die Gruppe 1862 der Öffentlichkeit vor.

Nach dem Tode Maximilians II. 1864 lockerte sich Heyses Bindung an den Hof und löste sich 1868; er hatte sich mit Geibels politischen Überzeugungen solidarisiert und damit unerwünscht gemacht. Seine Stellung im literarischen Leben wurde dadurch jedoch nicht erschüttert: 1871 Aufnahme in den Kreis der Ritter des Maximilians-Ordens, 1884 der Schiller-Preis, 1910 die Ehrenbürgerschaft der Stadt München. Heyse erhielt 1910 den Literatur-Nobelpreis.

Marienkind

Novelle

Auf der Landstraße, die in geringer Entfernung von dem Eisenbahndamm zwischen Wiesen und Wäldern dem Gebirge zuläuft, schritt eines schwülen Nachmittags im Hochsommer ein hagerer, langer Herr dahin, rüstigen Fußes trotz seiner fünfundsechzig Jahre. Auf seiner hohen, starkgewölbten Stirn, um welche sich dünne, graue Haarbüschel wunderlich in schmalen Streifen herumlegten, standen große Schweißtropfen und perlten auch auf der mächtigen Hakennase und den glattrasierten Wangen, obwohl er sich's nach Möglichkeit bequem gemacht hatte. Nur eine große, beulenreiche Botanisiertrommel hing ihm an der Seite, doch schien sie nicht allzu schwer zu sein. Den grauen Sommerrock hatte er ausgezogen und an die Spitze des leinenen Sonnenschirmes gehängt, den er nachlässig geschultert in der Linken trug. In der andern Hand hielt er seinen braunen Strohhut, mit dem er sich fleißig Kühlung zufächelte. Denn allerdings war die Luft hier zwischen den dichten, windstillen Föhren und Buchen unleidlich heiß und stickig und das Wandern auf der verregneten Straße, wo es galt, alle Augenblicke einer schlammigen Lache auszuweichen und von einem Steininselchen zum andern zu springen, beschwerlich genug. Auch waren die leinenen Gamaschen des alten Herrn unter den aufgekrämpten grauen Beinkleidern bis hoch hinauf bespritzt und die Perlmutterknöpfchen hatten ihren Glanz völlig verloren.

All dies Ungemach ertrug der Wanderer aber mit stoischer Ergebung, stand nur zuweilen aufatmend still und trocknete sich Gesicht und Hals mit einem großen, rotseidenen Taschentuche, dabei nach den Wolken blickend, die sich in tiefem Schwarzblau über den Wipfeln hinwälzten. Dann, als er aus dem Walde heraustrat und nun das Gewitter drüben am Horizont in drohendem Ungestüm sich heraufwälzen sah, maß er, durch die großen, runden Brillengläser spähend, die Entfernung bis zu den ersten Häusern des freundlichen Marktfleckens, deren rote Dächer tröstlich über die weiten, grellgrünen Wiesengründe zu ihm herblickten, versicherte sich, daß der Wind noch nicht voll ihm entgegenstand, das Unwetter also nicht gerade auf ihn loskam, und setzte dann in rascherem Tempo seinen Weg fort, um noch vor dem ersten Blitzstrahl ein schützendes Dach zu erreichen.

Nur eine kleine Viertelstunde hatte er noch zu wandern und ließ jetzt die Augen vergnüglich über die phantastisch beleuchtete Gegend schweifen, die weitgestreckten Grashalden, die sanft ansteigenden, dunkelbewaldeten Hügel und hinter den zerstreuten Häusern und Hütten des Orts die schöngeschwungene Silhouette des Hochgebirges, die jetzt, in wetterdunkle Purpurfarbe gehüllt, ihm gegenüber lag. Menschen und Tiere hatten sich vor dem Ausbruch des Sturmes bereits in Sicherheit gebracht, nur ein paar Schwalben schossen in niedrigem Fluge über den Weg, und hoch über ihnen schwebte ein Raubvogel, der mit ausgespannten Schwingen im Aether stehend, das Wetter zu observieren schien, und alsbald mit einem scharfen Schrei in die höheren Regionen über dem Gewölk hinaufstieg.

Dies alles war dem naturfrohen Auge des alten Herrn ein fesselndes Schauspiel, so daß er tapfer durch die Pfützen hinstampfte und sonst auch nicht beachtete, was auf der platten Erde ihm in den Wurf kommen mochte. So war er denn einigermaßen überrascht, als er seinen Blick zufällig einmal von den himmlischen Höhen niedersinken ließ, nur wenige Schritte vor sich eine sonderbare Gruppe zu gewahren, die vor einem elenden Häuschen, dem äußersten und ärmlichsten der ganzen Ortschaft, sich darstellte.

Am Rande der schmutzigen Fahrstraße hockte auf einem Feldstuhl ein junger Mann in einer braunen, kurzen Sommerjoppe, den schwarzen Künstlerhut weit in den Nacken zurückgeschoben, so eifrig mit einer Malarbeit beschäftigt, daß er von dem heraufdrohenden Unwetter, dem er freilich den Rücken zugekehrt hatte, nicht das mindeste zu ahnen schien. Die Füße hatte er auf ein altes Brett gestellt, das sie vor dem nassen Schlamm schützte, und hielt ein großes Skizzenbuch auf den hochgezogenen Knieen, in welches er mit dem Aquarellpinsel hineintupfte, hastig auf der kleinen porzellanenen Palette die nötigen Farben auswählend. Auf einem schmutzigen Schemelchen zu seiner Rechten stand sein Malkasten und ein Gläschen mit Wasser, ein großer Malerschirm war mit der scharfen Spitze fest zwischen die Steine der schlüpfrigen Chaussee gespießt.

Daran wäre nun nichts Verwunderbares gewesen, daß ein junger Künstler über einer ihm wichtigen Arbeit die Gefahr, von einem Wolkenbruch weggespült zu werden, völlig übersehen hätte. Was den alten Herrn jedoch zu einem halblauten Hm! Hm! und stillem sarkastischen Zucken des faltenreichen Mundes veranlaßte, war der Gegenstand, den der eifrige Skizzierer sich erwählt und so in sein Herz geschlossen hatte, daß er alles um sich her, auch die Annäherung des fremden Wanderers, unbeachtet ließ.

Denn ihm gegenüber, auf dem unsäuberlichen Platz vor dem Bauernhäuschen, nur durch einen niederen, sehr verfallenen und mit Brennesseln überwucherten Zaun von der Landstraße getrennt, stand ein vom Alter geschwärzter, verwitterter Brunnen, der seinen dünnen Wasserstrahl in einen halbverfaulten, aus einem Stück Baumstamm ausgehöhlten Trog niederrieseln ließ. Auf dem Rande desselben, das Brunnenrohr mit dem rechten Arm umklammernd, hatte sich ein armseliges Figürchen hingelagert, ein etwa siebenjähriges Mädchen, dem ein zerrissenes Hemd die mageren Schultern bedeckte, während sein in Fetzen hängendes Röckchen die über den Rand herniederbaumelnden dünnen Beinchen bis zu den Knieen frei ließ. Das struppige blonde Haar hing tief über die niedere Stirn herab, und zwei kleine Augen waren starr auf den Maler gerichtet, der Mund aber verzog sich zu einem blöden Grinsen. In der linken Hand hielt sie einen zerbrochenen Topf, in welchem sie, wie es schien, Wasser zu holen ausgeschickt war. Die nackten Füße trugen die Spuren des versumpften Erdreichs um den Brunnentrog herum, und in der schwarzen Pfütze, die von dem durchsickernden Wasser gebildet worden war, watschelte eine magere Ente, die den Abfall von Kohlblättern und Kartoffelschalen, der darin herumschwamm, mit ihrem breiten Schnabel durchwühlte.

»Sie haben sich da eine interessante Aufgabe gestellt,« hörte jetzt der junge Maler, der nicht umgeblickt hatte, hinter seinem Rücken sagen. »Ich sehe, daß Sie der Fortschrittspartei angehören und die Ansicht der alten griechischen Weisen unterschreiben, daß auch im Schmutz das Göttliche wohne. Ich erlaube mir aber doch, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß wir in zehn Minuten eine Sintflut zu gewärtigen haben, die mehr Wasser liefern möchte, als dem eifrigsten Aquarellisten erwünscht sein kann.«

Der Angeredete wandte sich nach dem Sprecher um. Sein hübsches, bräunliches Gesicht hatte einen finstern Ausdruck, die vollen roten Lippen unter dem blonden Schnurrbärtchen zuckten, als schwebe eine herbe Abfertigung des unberufenen Warners darauf. Einen Augenblick betrachtete er den Ankömmling mit seinem scharfen Malerauge. Als er aber keine Spur einer spöttischen Regung in dem hagern Gesicht des alten Herrn entdecken konnte, glätteten sich wieder seine gespannten Brauen.

»Ich danke Ihnen,« warf er hin. »Das Wetter ist aber noch nicht so nahe.«

»Schauen Sie nur dort im Westen die kupferfarbene Wolkenwand und drüben die bleifarbenen Streifen am Horizont. Aber Sie scheinen für diese koloristischen Reize der Natur nicht sehr empfänglich zu sein?«

Der Maler blickte ein paar Sekunden lang gen Himmel. Dann wandte er sich achselzuckend wieder zu seiner Arbeit.

»Ich liebe allerdings diese pathetischen Scenerieen nicht,« sagte er, »diese aufgedonnerten Effektstücke, die von künstlerischen Phraseurs bis zum Ueberdruß auf den Markt gebracht worden sind. Das Einfache, Ungeschminkte hat viel intimere Reize.«

»Nun,« sagte der alte Herr, »an Einfachheit läßt Ihr Thema allerdings nichts zu wünschen, und Schminke kennt Ihr Modell schwerlich auch nur dem Namen nach. Ich möchte nur die Natur in Schutz nehmen gegen den Vorwurf, als sei sie eine schnöde Effekthascherin, die es zuweilen auf eine theatralische Verblüffung der Zuschauer abgesehen habe. Für mich wenigstens hat so ein naiver Gewitterhimmel in seiner brutalen Majestät gerade so viel intimen Reiz, wie ein blödsinniges Bauernkind in einem schmutzigen Hemde.«

Wieder fuhr der Kopf des jungen Malers herum, und in den schöngeschnittenen Augen wetterleuchtete ein feindseliger Argwohn. Das Lächeln auf dem alten Gesicht war aber so gutmütig, daß es den aufflackernden Zorn entwaffnete.

»Sie spotten, Herr,« murrte der Maler zwischen den Zähnen. »Sie sind natürlich von der alten Schule, da ist es überflüssig, zu streiten. Und Sie sind wohl überhaupt kein Künstler.«

»Das kann ich nicht leugnen, mein werter junger Herr,« versetzte der Alte und hob langsam den Schirm von der Schulter, um den Rock wieder anzuziehen. »Ich bin Arzt, Medizinalrat ***, um mich Ihnen vollständig vorzustellen, und in diesem Blechgehäuse trage ich keinen Malapparat, sondern ein bißchen Wäsche und andern Toilettenkram, da ich auf einige Tage mich frei gemacht habe, hier draußen reine Luft zu atmen. Was aber Ihre Voraussetzung betrifft, ich stände der neuen Kunstrichtung fremd und ohne Verständnis gegenüber, so täuschen Sie sich sehr. Schon vor dreißig Jahren und darüber, als das Wort Naturalismus noch nicht erfunden war und alle Künstler noch zu der Fahne der sogenannten Schönheit schwuren, war ich bereits ein verbissener Vorläufer des neuen Evangeliums und schwärmte für die Reize des Wahren und Häßlichen.«

Der Maler sah ihn groß an.

»Was meinen Sie damit, Herr – Medizinalrat?«

»Sehr einfach. Ich arbeitete an einem Werk über die vergleichende Entwickelungsgeschichte des menschlichen und tierischen Organismus. Zu dem Ende machte ich wohl hundert sehr sorgfältige Zeichnungen menschlicher Fötus, denen ich die von Hunden und Vögeln gegenüberstellte. Die letzteren waren ganz lustig anzuschauen. Unter den menschlichen aber fanden sich so manche, die einem Anhänger der alten ästhetischen Schule ein Grauen erweckt haben würden. Mich schreckten sie nicht von der Nachbildung ab. Natur ist eben Natur; man soll kein Kostverächter sein, und Sie begreifen nun wohl, daß mir auch das breitmäulige, kleine Gesicht mit dem idiotischen Ausdruck, das Sie da eben zu verewigen suchen, als eine würdige Aufgabe der Kunst erscheint.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür des Häuschens, und ein häßliches Weib mit fliegenden Haaren, in so verwahrlostem Aufzuge wie das Kind auf dem Brunnentrog, erschien an der Schwelle. Sie rief in keifendem Ton der Kleinen zu, ob der Herr noch nicht bald fertig sei, das Wetter werde gleich losbrechen. In der That erhob sich jetzt ein unheimliches Strahl des Brünnchens seitwärts über die Kniee des Mädchens, während auf dem Boden Strohhalme und Kehrichthaufen aufgewirbelt wurden.

Der Maler erhob sich, klappte Buch und Malkasten zu, gab dem Kinde ein Stück Geld und sagte, er werde morgen um dieselbe Zeit wiederkommen. »Es wird nun doch Ernst,« sagte er, zu dem Alten gewendet. »Wir thun gut, uns unter Dach und Fach zu bringen.«

»Die Mutter war auch kein übler Charakterkopf,« sagte der alte Herr mit ganz ernster Miene, während sie jetzt mit großen Schritten dem Orte zueilten, da bereits einige große Tropfen herabsausten. »Die sollten Sie sich auch nicht entgehen lassen, Herr – dürfte ich um Ihren werten Namen bitten?«

» Franz Florian. Mit der Alten haben Sie sehr recht, und ich habe sie auch schon zweimal skizziert. Wenn es Sie interessiert –«

Er wollte im Gehen sein Buch öffnen.

»Wir werden es im Wirtshaus bequemer haben, Ihre Studien durchzusehen,« wehrte der Alte mit freundlichem Lächeln ab. »Sie scheinen hier sehr fleißig gewesen zu sein, und da es dieser Gegend, obwohl sie vorwiegend mit einem wohlhabenden Bauernschlag bevölkert ist, auch an verkümmerten Existenzen nicht fehlt, werden Sie in Schmutz und Häßlichkeit ordentlich geplätschert haben. Ich bewundere Ihren Mut und Ihre Ausdauer. Die Kehrseite der Natur und der menschlichen Gesellschaft ist ja gewiß sehr anziehend, und es ist des Schweißes der Edlen wert, ihr endlich auch künstlerisch zu ihrem Recht zu verhelfen. Aber selbst die Kaminkehrer pflegen sich wenigstens am Samstag zu waschen, und es gibt doch auch so manche appetitliche Dinge in der Welt, die nicht ganz zu verachten sind. Vor allem, mein junger Freund, nehmen Sie sich vor Italien in acht. Da könnten Sie am Ende doch noch zu einem Schönheitsrausch kommen, der Ihnen hernach die schönsten deutschen Trottel verleidete.«

Der Maler runzelte die Stirn. Ein Seufzer kam ihm von den Lippen.

»Diesen Rausch habe ich bereits durchgemacht,« sagte er mit dumpfer Stimme. »Ich war zwei Jahre in Italien, erst wie im siebenten Himmel, dann von Tag zu Tage trostloser und verzweifelter. Schönheit? Ja wohl, die läuft dort auf den Gassen herum, und in den Kirchen und Galerieen sieht man sie in so ausbündigen Exemplaren, daß man aus der Haut fahren möchte. Anfangs dacht ich, unsereins könne es mit gutem Willen und hartnäckigem Fleiß auch zu etwas bringen, und kopierte, komponierte, skizzierte auf Teufelholen. Besah ich mir dann die Natur, etwa in einem römischen Modell mit ihrem Junonacken und der Bronzehaut, oder im Palazzo Borghese und dem Vatikan die berühmten Wunderwerke in Goldrahmen oder an Wand und Decke – da knirschte ich mit den Zähnen über meine Ohnmacht. Endlich warf ich Pinsel und Palette in den Koffer und reiste mit Scheuklappen über den Brenner zurück nach Hause. Ich brachte aus dem gelobten Lande nichts zurück als die klare Erkenntnis, daß das Liedchen von der Schönheit zu Ende gesungen ist von glücklicheren Vorfahren unter einem gnadenreicheren Himmel, und daß wir, wenn wir nicht ein für allemal das Maul halten, sondern auch zu Worte kommen wollen, in einer ganz andern Tonart uns hören lassen müssen. Sie sehen, verehrter Herr, ich verachte die Schönheit durchaus nicht. Ich halte die Trauben darum nicht für sauer, weil sie mir zu hoch hängen. Aber um nicht zu verdursten, finde ich es vernünftig, mich auf die Fabrikation von Aepfelwein zu verlegen. Oder nein, das Gleichnis hinkt. Was wir heute Kunst nennen, hat den gleichen Wert, wie die vom Cinquecento. Jede Periode hat ihre eigne Aufgabe, die Alten brachten das Schöne auf den Gipfel der Vollendung, unsre Aufgabe ist das Charakteristische. Und eigentlich,« fuhr er sich steigernd fort, »eine absolute, alleinseligmachende Schönheit gibt es ja auch nicht. Selbst Tizians Venusse sind konventionelle Schemen, und die Venus der Aethiopen braucht sich nicht zu verkriechen, wenn man nur nicht mit klassischen Vorurteilen vor sie hintritt. Denn nicht nur gut und böse sind bloße Begriffe, sondern auch schön und häßlich; die Natur weiß nichts davon, unser Denken macht erst den Unterschied. Das ist mein Credo, und seit ich demnach lebe, bin ich wieder zufrieden in mir, ohne Verzweiflungsanfälle, ohne den Katzenjammer, der auf den unfruchtbaren Schönheitsrausch unfehlbar zu folgen pflegt.« »Ein jeder thut eben, was er nicht lassen kann,« bemerkte der alte Herr trocken. »Ich sehe, Sie haben sich's recht wacker angelegen sein lassen, aus der Not eine Tugend zu machen, und wenn ein Lehrstuhl der neuen Aesthetik an einer Universität oder Akademie errichtet wird, wären Sie befähigt, Ihre Doktrin recht überzeugend vorzutragen. Am Ende ist das auch noch einmal Ihre Zuflucht, wenn das Publikum, das immer noch von den veralteten Vorurteilen nicht loskommt, Ihnen Ihre Bilder nicht abkauft und lieber ein hübsches, dralles Defreggersches Bauernmädchen sich ins Zimmer hängt, trotz des konventionellen Lächelns und des mangelnden Freilichts, als Ihre kleine charakteristische Kretine auf dem Brunnentrog.«

»Ich verzichte auf den Beifall und Zulauf der stumpfsinnigen Menge,« versetzte Franz Florian mit einer großartigen Gebärde. »Zum Glück habe ich ein kleines Vermögen von meinen guten Eltern geerbt, das mir erlaubt, meinen Ueberzeugungen treu zu bleiben.«

»Das ist sehr erfreulich, lieber Herr. Mir wäre sonst doch ein wenig um Ihre Zukunft bange, wie ich denn auch selbst mit meinem Atlas über die vergleichende Anatomie der Fötus sicher hätte betteln gehen können, wenn meine Praxis mir nicht zu leben verschafft hätte. Was aber das Gros der Naturalisten und Freilichtmaler betrifft, so hoffe ich, der Staat wird über kurz oder lang seine Aufgabe erkennen, diesen trefflichen Leuten Klöster zu bauen.«

»Klöster?«

»Ich finde nämlich, daß sie sich vorzüglich zur Ablegung der drei Mönchsgelübde qualifizieren: Armut, Gehorsam, Keuschheit. An Armut wird's ihnen, wie gesagt, nicht fehlen, wenn es auch zunächst keine ganz freiwillige wäre, jedenfalls sind viele darunter auch arm an Geist. Gehorsam gegen die Schultheorieen steckt ihnen im Blut, und was die Keuschheit betrifft – da sie ihre Modelle unter den von der Natur Vernachlässigten zu suchen pflegen, sind ihre Frauenbilder rechte Mittel gegen die Liebe. So daß schon um ihres sittlichen Einflusses willen der Staat verpflichtet sein sollte, sie bis an ihr Lebensende vor Nahrungssorgen zu schützen und zu fleißigen guten Werken ihrer Konfession ihnen die nötige Muße zu schaffen.«

Diese längere Rede, in so ruhigem Ton sie auch vorgetragen wurde, ließ keinen Zweifel darüber, daß in dem alten Herrn ein satirischer Schalk steckte, dem es mit seiner Zustimmung zu den künstlerischen Grundsätzen seines neuen Bekannten von Anfang an nicht Ernst gewesen war. Die heftige Erwiderung aber, die dem jungen Maler auf der Zunge brannte, wurde noch zur rechten Zeit, um einen unfruchtbaren Zank zu ersticken, abgeschnitten. Denn gerade in diesem Augenblick riß die gewaltige dunkle Wolkenmasse zu Häupten der beiden Wanderer krachend entzwei. Blitz und Wetterschlag folgten einander in atemloser Hast, und ein Sturzregen prasselte nieder, der die auflodernde ästhetische Zornesflamme erstickte.

Zum Glück war das Gasthaus zur Post, nach welchem sie hinstrebten, in einem kurzen Wettlauf über den leeren Marktplatz erreicht. Aufatmend und die triefenden Schirme schüttelnd, selbst aber leidlich trocken, betraten die beiden Geborgenen das Gastzimmer, in welchem nur wenige durch das Wetter zurückgehaltene Bauern schläfrig bei ihren Bierkrügen saßen, und wandten sich sofort dem inneren Verschlage, dem sogenannten Herrenstübel zu, das völlig leer war. Die stattliche Wirtin begrüßte sie höflich, ihnen Glück wünschend, daß der Wolkenbruch sie nicht auf freiem Felde überrascht habe, und fragte, womit sie ihnen aufwarten könne. »Zunächst mit einer Tasse Kaffee,« erwiderte der alte Herr; und ob in ihrem Hause noch ein gutes, ruhiges Zimmer frei sei. Er gedenke, etliche Tage, vielleicht eine Woche sich hier aufzuhalten. Die Frau, die für den jovialen und ritterlichen Graukopf sofort eine lebhafte Verehrung empfand, versicherte, er werde unter ihrem Dache aufs beste aufgehoben sein, und verließ, da auch ihr jüngerer Logiergast Kaffee bestellte, hurtig das Zimmer, um die Herren nicht warten zu lassen.

»Ich habe hier draußen nämlich einen alten Freund und Universitätsgenossen,« bemerkte der Medizinalrat, während er die Botanisiertrommel auf den großen Eichentisch legte und eine Haarbürste und frische Krawatte daraus hervorzog. Vor dem kleinen Spiegel in der Ecke stehend, besorgte er dann gleichmütig seine Toilette, knüpfte einen neuen Halskragen um und ordnete sein zerstäubtes dünnes Haupthaar. »Mein Freund,« fuhr er fort, »hat sich hier draußen eine artige Villa gebaut und mich eingeladen, bei ihm zu wohnen. Ich bin aber nicht gern irgendwo zu Gast, selbst bei dem vertrautesten Freunde, und ziehe das bescheidenste Wirtshäuschen einer solchen Einquartierung bei einer Familie vor. Alte Junggesellen, wissen Sie, haben ihre Eigenheiten und sind nicht gerne geniert. Nun aber konnte ich dem wackeren Freunde – er ist ein Regierungsrat a. D. – seine Bitte nicht abschlagen, wenigstens in seiner Nähe ein paar Tage zuzubringen. Es ist aber ein Kranker im Hause, seine einzige Tochter, noch dazu mein Patenkind, ein wunderlicher Fall, nicht eigentliche physische Verstimmung, mehr Gemütsaffektion, die aber behutsam zu behandeln und jedenfalls eine Zeitlang zu studieren ist. Und da will ich denn gleich, sobald das Wetter vorübergezogen, zu den guten Leuten hinauf, um nach dem Rechten zu sehen.«

Der junge Maler hörte das mit an, ohne ein Wort dazuzugeben. Er saß am Fenster und sah in das tobende Element hinaus, die Stirn in finstere Falten gelegt. Der Alte beobachtete ihn im Spiegel und nickte vor sich hin, als ob er bei sich selber spräche: Ich habe dir ein bitteres Tränkchen eingegeben, junger Thor. Aber wenn dich's auch ein bißchen wurmt, schaden kann dir's nicht, und wer weiß, ob es dir nicht am Ende ersprießlich ist. Denn du scheinst bei alledem eine gesunde Natur zu haben.

Er ließ jedoch hiervon nichts verlauten, beendete mit aller Muße seine Toilette und wandte sich erst wieder um, als die Kellnerin eintrat und auf einem sauberen Brett den bestellten Kaffee brachte. Ihr folgte nach einiger Zeit die Postwirtin selbst, als die beiden Männer schon bei der zweiten Tasse waren, und knüpfte von neuem einen zuthulichen Diskurs mit dem neuen Gaste an. Dieser, da der Regen noch nicht nachlassen wollte, hatte sich eine Cigarre angezündet und auch seinem jungen Gefährten sein Täschchen dargeboten, der jedoch, immer noch unwirsch, einsilbig ablehnte und sich eine Cigarette zu fabrizieren anschickte. So saßen sie ein Weilchen in dem niederen Raum, der dann und wann von roten Blitzen erleuchtet wurde, plaudernd beisammen und ließen die Kerze brennen, die ihnen die Kellnerin auf den Tisch gestellt hatte. Erst als die Wirtin von einer Magd abgerufen wurde, wandte sich der alte Herr wieder zu dem schweigsamen Maler und sagte in seinem freundlichsten Ton: »Wir werden uns wohl noch eine gute Weile hier gedulden müssen, bis der himmlische Segen sich erschöpft hat. Wie wär's, lieber Herr, wenn Sie mir inzwischen gestatteten, Ihr Skizzenbuch zu betrachten?«

Franz Florian machte eine ablehnende Bewegung mit der Schulter.

»Sie würden wenig Vergnügen daran haben,« sagte er gereizt. »Sie wünschen es auch überhaupt nur, um sich über diese ‹Mönchsarbeiten› lustig zu machen. Erlauben Sie mir, die Zeugnisse meiner unfreiwilligen Armut für mich zu behalten.«

Eine kleine Stille folgte auf diese Worte. Man hörte nur das Klatschen des Regens gegen die Steine vor dem Hause und aus dem Gastzimmer nebenan das laute Schnarchen eines Bauern, der über seinem Maßkrug eingenickt war.

Der alte Herr stand ruhig auf und trat zu dem verstimmten Künstler in die tiefe Fensternische.

»Ich habe Sie mit meinem harmlosen Scherz verletzt, lieber Herr,« sagte er. »Halten Sie mir diese Unart mit der Abneigung zu gute, auf dergleichen theoretische Fragen, die jeder nach seinem Geschmack oder Gewissen zu lösen hat, mit pedantischer Weitläufigkeit mich einzulassen. Auch käme bei einem ernsthaften Wortgefecht zwischen einem Alten und einem Jungen nichts heraus. Die Waffen sind zu ungleich. Der Alte hat das schwere Geschütz der langen Erfahrung für sich, die Jugend ihr Schnellfeuer hitziger Meinungen, Wünsche und Bedürfnisse. Damit Sie aber sehen, daß ich vor Ihrem ernsthaften Streben aufrichtige Achtung habe, will ich Ihnen unverhohlen gestehen, daß ich in der neuen radikalen Richtung auf das Charakteristische, worüber das Schöne gänzlich zu kurz kommt, allerdings nur eine Entwickelungskrankheit unsrer Zeit erblicke. Dergleichen Erscheinungen darf eine weise ästhetische Pathologie so wenig unterdrücken wollen, wie die rationelle physische Hygiene die Reinigungsprozesse in einem menschlichen Körper hemmen darf, wenn sie recht kräftig auf die Haut schlagen. Entschuldigen Sie dieses Gleichnis, das nicht gerade respektvoll klingt. Ich habe auch nicht vor, es weiter auszuführen. Genug, daß ich auch den Zustand, in welchem sich gegenwärtig die Künste befinden, für einen heilsamen Naturvorgang ansehe, dessen man sich nicht zu schämen habe, wenn auch manches dabei nicht eben eine besondere Augenweide bietet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß wir mit unsrer schulgerechten Aesthetik nachgerade aufs Trockne gekommen wären ohne diese gewaltsame Reaktion. Und so lasse ich mir auch ihre abenteuerlichsten Auswüchse gern gefallen und denke mit dem alten Herrn in Weimar: Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet –! Zudem – ich bin von Jugend auf viel mit talentvollen Künstlern umgegangen, als Freund oder Arzt, und habe viele ‹Richtungen›, die sich für die allem wahren ausgaben, im Sande verlaufen und neuen, noch ‹wahreren› Platz machen sehen, so daß ich mit einiger Gemütsruhe zuschauen kann, wenn heutzutage alles als akademischer Zopf verschrieen wird, was einen Gemütswert beansprucht, oder durch Reiz und Adel der Form entzücken will, und als verlogener Atelierspuk verdammt wird, was nicht unter freiem Himmel gemalt ist. Dergleichen Einseitigkeiten und Uebertreibungen korrigieren sich von selbst, wenn sie eine Weile bis zum Ueberdruß nachgesprochen worden sind. Was mir jedoch schon heute gelegentlich die Galle reizt, ist der Schwindel, den ganz talentlose Streber mit diesen Stichworten treiben, und die Stirn, mit der sie das urteilslose Publikum, ja ihre eignen unschuldigen Kollegen durch haarsträubende Mißgeburten ihres Pinsels zu verblüffen suchen. Mit solchem nichtsnutzigen Gesindel, das nur dazu dient, den guten Keim in der neuen Kunstblüte zu fälschen und zu vergiften, haben Sie, mein werter Herr Florian, nicht das Mindeste gemein. Das Wenige, was ich von Ihnen gesehen – verzeihen Sie dem Laien, daß er sich ein Urteil erlaubt – zeugt für ein gesundes, robustes, sehr ernstliches Talent, das freilich – aber genug des Geschwätzes. Zeigen Sie mir jetzt Ihre Skizzen und lassen Sie uns gute Freunde bleiben!«

Er streckte ihm seine lange, magere Hand hin. Der Maler sprang auf, schlug treuherzig ein und sagte, nun wieder mit entwölkter Stirne: »Ich bin ein Narr gewesen, daß ich Ihre Neckereien nicht mit besserm Humor aufgenommen habe. Aber die Arbeit in der Schwüle hatte mich nervös gemacht. Sie haben recht: Jeder thut, was er nicht lassen kann, und man ist von aller Verantwortung frei, wenn man nur immer mit Leib und Seele das Seine thut. Wenn das Meinige Ihnen keinen Spaß macht, kann ich nicht dafür. Warum bestehen Sie darauf, meinen Kram sich ansehen zu wollen?«

Er legte bei diesen Worten das große Skizzenbuch auf den Tisch, rückte die Kerze näher heran und wanderte dann, eine frische Cigarette anzündend, das Zimmer auf und ab. Der Arzt hatte sich behaglich auf einem der Holzstühle niedergelassen und wendete langsam Blatt für Blatt um, hin und wieder ein Hm! oder Ha! vor sich hinbrummend. Indessen ließ draußen das Unwetter nach, und als der Betrachter bei dem Mädchen auf dem Brunnentrog angelangt war, schien eine helle Abendsonne durch das Fenster, in deren rotem Strahl das Kerzenflämmchen erblich.

»Ich danke Ihnen,« sagte jetzt der Alte, indem er das Buch zuklappte und sich vom Tische erhob. »Meine Erwartung hat mich nicht getäuscht: Sie besitzen ein starkes, seiner Mittel überall mächtiges Talent und eine große Feinheit des Blicks für das Entscheidende in allen Naturgebilden. Die wunderliche Marotte, an dem Erfreulichen, Großartigen, Lieblichen vorbeizusehen und sich mit dem Dürftigen, Verwahrlosten und selbst Widerwärtigen so liebevoll zu beschäftigen, als ob das allein in der Welt wäre, oder doch allein der Mühe wert, hat sogar – aber Sie dürfen sich nicht wieder beleidigt fühlen – etwas Rührendes. Es verrät ein gutes Gemüt, wie wenn ein junger Tänzer auf einem Balle die schönen jungen Damen verschmäht und nur die sonst Sitzenbleibenden, die sogenannten ‹Mauerblümchen› engagiert. Ich habe als junger Mensch ähnliche edle Regungen verspürt. Indessen, Mitleid und Liebe sind doch zwei sehr verschiedene Gefühle und wie man sich in diese baumlosen dürren Unkrautflecke, diese ruppigen und trottelhaften Hüterbuden verlieben kann – Sie lächeln. Ich weiß, daß Sie sagen wollen, der Gegenstand mache es nicht, nur was man an künstlerischer Intention hineinlege. Da wären wir denn glücklich wieder bei unsrer alten Debatte und könnten bis Mitternacht fortzanken. Nun, ich will jetzt meinen Besuch machen, das Wetter hat sich ja aufgeklärt, und wenn meine Freunde mich in der Villa auch zum Nachtessen behalten sollten, ich finde Sie hernach doch wohl noch hier unten, und Sie sind mein Gast bei einer Flasche roten Tiroler, den man hier herum schon recht trinkbar vorzufinden pflegt.«

So verließ er den Maler mit einem freundlichen Kopfnicken.

Doch schon nach einer kleinen Stunde trat er wieder über die Schwelle des Gastzimmers. Diesmal fand er seinen Gefährten nicht im Herrenstübel, sondern in dem größeren vordern Raume, aus dem sich inzwischen die bäuerliche Gesellschaft völlig verzogen hatte, bis auf den Schnarchenden in der Ecke. Noch immer schlief der schwer Umnebelte, fest gegen die braune Vertäfelung gelehnt. Der dicke Kopf war weit zurückgesunken, so daß in dem offenen Munde die spärlichen gelben Zahnstumpfen sichtbar wurden, in den hochroten Ohren blitzten die goldnen Ringe mit den Silberknöpfen an Weste und Jacke um die Wette, da ein schräger Strahl der Abendsonne durch die verregneten Scheiben gerade auf den einsamen Schläfer fiel.

Franz Florian hatte die Gunst des Augenblicks nicht ungenutzt gelassen und mit raschen Bleistiftstrichen die unbeholfen in den Winkel gekauerte Gestalt in sein Buch eingetragen.

»Bravo!« rief sein alter Gönner, nachdem er die Skizze aufmerksam durch seine große Brille betrachtet hatte. »Man könnte ein schönes Kapitel vergleichender Kunstgeschichte schreiben, wenn man diese Ihre meisterliche Skizze neben eine Photographie des Barberinischen Fauns stellte.«

»Sie sind wieder in Ihrer Spötterlaune, verehrter Herr,« versetzte der Maler gleichmütig. »Ich würde wahrhaftig auch für mein Leben gern einmal einen betrunkenen Faun abkonterfeien, wenn diese mythologischen Fabelwesen sich im bayrischen Gebirge blicken ließen.«

»Glauben Sie, daß sie sich den griechischen Malern und Bildhauern in Person gezeigt haben? Aber freilich, zeigen mußten sie sich ihnen wohl – wie hätten sie sonst von ihnen abgebildet werden können? – nur nicht so handgreiflich, wie ihr Heutigen alles das sehen und greifen müßt, woran ihr glauben sollt. Lassen Sie sich aber nicht stören, lieber Freund. Die Skizze kaufe ich Ihnen ab, zur Erinnerung an diesen Nachmittag. Denn leider werde ich mich Ihrer Gesellschaft nicht so ausgiebig, wie ich dachte, erfreuen können. Mein alter Freund besteht darauf, daß ich bei ihm wohne, er wäre tödlich gekränkt, wenn ich es ihm abschlüge, und da er ein ganz abgesondertes Fremdenzimmer im Erdgeschoß hat, fürchte ich auch nicht, zu stören und gestört zu werden. Zudem ist der Fall, wegen dessen er mich konsultieren wollte, in der That nicht so leicht, ich werde Mühe haben, Einfluß auf die junge Patientin zu gewinnen, und über die Behandlung, so einfach und sicher die Diagnose ist, bin ich mir noch nicht recht klar. Wir sprechen mehr davon. Ich muß jetzt nur meinen Kaffee bezahlen und der Frau Wirtin mein Bedauern aussprechen, daß ich ihr schönes Zimmer für diesmal nicht beziehen kann.«

Er ging hinein, kam dann bald, die Botanisiertrommel umgehängt, den Schirm in der Hand wieder herein, um sich von dem Maler zu verabschieden und ihm das Versprechen abzunehmen, ihn, sobald es seine Zeit erlaube, in der Villa des Regierungsrats zu besuchen. Noch einmal lobte er die Zeichnung, schüttelte dem jungen Freunde herzlich die Hand und verließ das Zimmer.

Franz Florian blieb in unfroher Stimmung zurück. Er hatte sich auf die Gesellschaft des alten Spötters gefreut und in seinem Kopf allerlei kluge Sprüche vorbereitet, mit denen er seiner veralteten Kunstanschauung siegreich zu Leibe zu gehen gedachte. Die mußte er nun für sich behalten. Daß er ihm die Zeichnung gelobt und sogar den Wunsch geäußert hatte, sie zu besitzen, freute ihn nur halb. In dem Honig glaubte er immer noch den Stachel einer heimlichen Ironie schwimmen zu sehen, und vollends der Barberinische Faun der Glyptothek, den er selbst so lange Jahre mit herzlichem Neide bewundert hatte, an den durfte er gar nicht denken, wenn er seinen schnarchenden Bauer nicht in kleine Stücke zerreißen sollte.

Er vollendete indessen die Zeichnung mit mechanischem Fleiß, eben da sein Modell zur Besinnung kam, die Arme dehnte und mit einigen halbtierischen Naturlauten die kleinen verschwommenen Augen öffnete. Nach einer weiteren Unterhaltung mit dem ungeschlachten Gesellen gelüstete seinen Verewiger keineswegs. Er stieg, seine Sachen an sich nehmend, in sein Zimmer hinauf und verbrachte den Rest des Tages, so gut es gehen wollte, eine Unzahl Cigaretten rauchend und bei einem späteren Herumschlendern durch den stillen Ort vergebens nach malerischen »Motiven« spähend. Als dann der nächste Morgen in sonnigem Glanze aufging, verfiel er mehr und mehr in einen gegenstandslosen Mißmut. Die Landschaft, die in allem sommerlichen Zauber vor ihm lag, die feinen silbernen Töne an den fernen Bergeszügen droben am Walde, das dunkle, bläuliche Grün der mächtigen Eichen zwischen dem helleren Buchenlaub – das alles betrachtete er mit stumpfem Auge als einen prahlerischen Aufputz der nature endimanchée. Er fühlte sich erst etwas erleichtert, als am Nachmittag leichte Dünste im Westen aufstiegen und einen Flor über die zudringliche Sonne breiteten.

Zwar war's auch jetzt noch nicht das schmutziggraue Licht, in welchem er gestern so befriedigt gearbeitet hatte. Doch belud er sich entschlossen mit seinem Malgerät und wanderte zu der abgelegenen Hütte hinaus, um, so gut es gehen wollte, die Studie im Freien zu vollenden.

Es wollte aber wirklich nicht zum besten gehen. Seinem kleinen Modell hatte die Mutter, die als ein einfältiges Weib auf malerische Reize sich nicht verstand, die Haare notdürftig gestrählt, ihm sein Sonntagsröckchen, das keine Löcher hatte, angezogen und sogar die Beinchen im Brunnentroge abgewaschen. Auch fand das Kind erst nach langem Bemühen die gestrige Stellung wieder, die graue Ente war verschwunden, die schlammige Pfütze am Brunnen zur Hälfte eingetrocknet. Indessen blieb nichts übrig, als zu retten, was noch zu retten war, und wenigstens den blöden Ausdruck in Mund und Augen recht charakteristisch herauszuarbeiten.

Heute war auch die Landstraße nicht so verödet wie gestern. Fuhrwerke aller Art rollten hinter dem Rücken des Malenden vorbei, und Spaziergänger, die des Weges kamen, blieben neugierig stehen und tauschten wohl auch verwunderte Bemerkungen über den sonderbaren Schwärmer, der gerade an diesem garstigen Ding Gefallen gefunden. Das bekümmerte ihn wenig. Er wußte, daß er seiner Zeit vorangeschritten war und sich durch den Unverstand der unmündigen Menge nicht irren lassen durfte.

Ein Stündlein hatte er in fieberhaftem Eifer fort gearbeitet und war eben daran, noch die letzten kräftigen Pinselstriche an dem alten Zaun im Vordergrunde zu machen und die zerrissenen roten Socken, die zum Trocknen daran aufgehängt waren, mit einigen genialen Tupfen hinzuzufügen, als eine bekannte Stimme an sein Ohr schlug.

Er wandte, ein wenig erschrocken, den Kopf flüchtig nach der Seite, woher sie kam, und richtig, von dem Oertchen her sah er seinen Bekannten von gestern, den Medizinalrat, mitten auf der jetzt wieder gangbaren Landstraße sich ihm nähern, kaum vierzig Schritte mehr entfernt. Er war aber nicht allein. Neben ihm ging ein etwas kleinerer Herr in einem schwarzen Lüsterrock und breitrandigem grauen Filzhut, und hinter ihnen zwei weibliche Gestalten, eine bejahrtere, doch noch recht wohlansehnliche Dame und ein schlankes Mädchen, das den Kopf gesenkt hielt und, da sie einen großen Florentiner Strohhut trug, von ihrem Gesicht nur das runde weiße Kinn sehen ließ.

Den Maler überlief es heiß. Es war ihm äußerst widerwärtig, gerade bei dieser Arbeit wieder betroffen zu werden, und wenn er auch dem alten Herrn seine Neckereien nicht mehr übel nehmen wollte, in Gegenwart einer fremden Gesellschaft sie ruhig hinzunehmen, hätte er doch wohl nicht vermocht.

Er bückte sich also tief über sein Blatt, in der Hoffnung, das Unheil werde hinter seinem Rücken unschädlich vorübergehen, und hoffte, sein Aufblicken werde nicht beobachtet worden sein, so daß es diesmal dem Vogel Strauß gelingen werde, ungesehen zu bleiben, wenn er den Kopf in den Busch stecke.

Diese Hoffnung aber wurde alsbald getäuscht.

»Guten Tag, Herr Florian,« hörte er den alten Herrn dicht hinter sich sagen. »Wieder so fleißig? Ist es wohl erlaubt, die Studie in Augenschein zu nehmen? Wetter auch! Sie sind ja trefflich damit zu stande gekommen.«

»Herr Franz Florian, Genremaler,« fuhr er fort, als der junge Mann von seinem Feldstühlchen sich errötend erhoben hatte, »und hier mein lieber Freund, Herr Regierungsrat F . . ., nebst seiner Frau Schwester und Fräulein Tochter. Ei der Tausend, was haben Sie aus dem unansehnlichen Vorwurf gemacht! Das lebt ja alles, sogar die roten Strümpfe führen ein munteres Dasein auf ihrem morschen Zaun. Herr Florian, mußt du wissen,« wandte er sich an seinen Gastfreund, »hat den großen Vorzug vor vielen seiner jungen Kollegen, daß er sich keine Brille aufsetzt, wenn er die Natur betrachtet. Ich habe nie begriffen, was die Herren Maler darunter haben, daß sie ihre Freilichtstudien darstellen, als ob die Natur mit einem grauen Staube überzogen wäre, oder als ob sie sie durch eine Schicht Spinneweben anschauten. Auf diesem Blatt ist doch alles in schlichten, echten Lokalfarben aufgefaßt, wie ein Mensch mit gesunden Sinnen die Welt eben ansieht. Schade freilich, daß Sie gerade nichts Hübscheres gefunden haben. Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen. Nun, auch für bessere Modelle wird hoffentlich noch Rat werden.«

»Darf man Ihre übrigen Skizzen betrachten, Herr Florian?« fragte der Regierungsrat mit leisem, höflichem Ton.

Der junge Maler verneigte sich stumm. Er hatte kaum recht zugehört und nur so viel verstanden, daß der Alte ihn mit freundlicher Schonung behandelte. Während die Männer jetzt das Skizzenbuch durchsahen, blieb er ganz in den Anblick des jungen Fräuleins versunken, das teilnahmlos dabei stand und von ihm weg zu den Bergen hinüberblickte.

Dieses Mädchengesicht mußte Maleraugen freilich eines eingehenden Studiums wert erscheinen.

Zunächst schon durch die Farbe, jenes sanfte gleichmäßige elfenbeinerne Blaß, das aber durchaus nicht eine blutarme Komplexion andeutete. Denn die vollen, nur etwas trübsinnig gepreßten Lippen schimmerten in gesunder Granatröte. Auch das Haar, schlicht über der zartgewölbten Stirn gescheitelt und in zwei dicken Zöpfen über die Schultern herabfallend, erfreute durch sein helles Braun, das oben und an den Schläfen, wo sich kleine natürliche Löckchen hervorthaten, einen goldigen Glanz hatte. Dazu noch die reizendste Form des Mündchens und der etwas vollen, aber nach dem Kinn sich lieblich absenkenden Wangen, und was dem ganzen Kopf ein besonders charakteristisches Gepräge gab: die Lider über den stahlgrauen Augen so breitgeschwungen, auch wenn der Blick nicht gesenkt war, wie es bei Raffaelischen Madonnengesichtern oft als Übertreibung erscheint und allerdings hin und wieder der Physiognomie einen etwas engelhaft dümmlichen Ausdruck verleihen kann.

Vor dieser Gefahr jedoch schützte das junge Fräulein, das hier vor ihm stand, der Zug einer tiefen Melancholie, der über den feinen Brauen lagerte und selbst in den Nasenflügeln zu zittern schien. Woher es kam, bei so schöner blühender Jugend, daß sie nicht ins Leben hineinlachte, blieb ein Rätsel, das ihr aber noch einen eignen geheimnisvollen Reiz verlieh. Auch die schlanke Gestalt in einem halbklösterlichen Anzuge ließ sie als ein Wesen besonderer Art erkennen. Sie trug ein Kleid aus leichtem schwarzen Wollstoff, nach einem verschollenen Zuschnitt angefertigt und hoch am Halse geschlossen. Die Schultern umfing eine sogenannte Pelerine, ein bis zu den Ellbogen reichender Kragen von weißem Batist, über den an einem blauseidenen Bande ein silbernes Kreuz herabhing. Nur der schöne mattgelbe Florentiner Strohhut hatte nichts Geistliches. Wenn aber der Wind sich darunter verfing und den breiten Rand zurückschlug, mußte man doch wieder an einen, nur etwas massiven, Heiligenschein denken, der ein venetianisches Madonnengesichtchen einrahmte.

Erst als das junge Mädchen den Kopf nach ihm umwandte und ihn mit einem so geistesabwesenden Blick streifte, als stehe ihr nicht ein junger Mann, sondern ein beliebiges Chausseebäumchen gegenüber, riß er seine Augen, etwas empfindlich, von ihrem Anblick los und betrachtete ihre Begleiterin, die in allem ihr unähnlich war, eine behagliche, rosige Frau in mittleren Jahren mit einem noch anmutigen und heiter wohlwollenden Gesicht, in ländlicher, aber moderner Kleidung. Nur die breiten Augenlider bezeugten den Familienzusammenhang mit der reizenden Nichte, während die große Aehnlichkeit zwischen Vater und Tochter sofort in die Augen fiel. Das Gesicht des Regierungsrats war nur etwas tiefer gefärbt, im übrigen zeigte es auf den ersten Blick, daß er in der Jugend ebenso als ein selten schöner Jüngling bewundert worden sein mochte, sowie die Tochter jetzt als eine seltne Mädchenblume erschien.

Auch der Ausdruck von Trübsinn in den Mienen des Vaters erhöhte die Aehnlichkeit. Während er die Skizzen betrachtete, ohne ein Wort zu äußern, hörte man ihn zuweilen verstohlene Seufzer ausstoßen, und ein paarmal fuhr er sich mit der auffallend kleinen, wohlgeformten Hand über die Augen, als ob er einen Nebel von ihnen wegwischen wolle.

»Ich danke Ihnen, Herr« – sagte er endlich mit einer schüchternen, aber wohlklingenden Stimme, »aber wir haben Sie schon allzulange aufgehalten. Leben Sie wohl!«

Der Medizinalrat raunte ihm etwas zu, worauf er, sich schon zum Weitergehen anschickend, dem Maler noch einmal zunickte und höflich hinzufügte: »Hoffentlich haben wir noch einmal das Vergnügen.«

»Herr Florian hat nur versprochen, mich in deinem Hause zu besuchen,« sagte der Alte rasch, »Sie finden mich in den Vormittagsstunden unfehlbar in meinen vier Wänden.«

Er grüßte mit einem eigentümlichen Lächeln zurück, als er den jungen Mann schon wieder mit dem Studium des jungen Mädchenkopfes beschäftigt sah. Von diesem aber kam nur ein kaum merkliches Nicken zum Abschied. Dann setzte sich das Trüpplein wieder in Bewegung und war in dem Föhrendunkel des nahen Waldes bald den nachstarrenden Augen des Malers entschwunden.

Wie in einer Verzauberung war Franz Florian zurückgeblieben. Er saß auf dem niederen Feldstühlchen in sich zusammengekauert, nicht unähnlich einem Käuzchen, das auf freiem Felde durch einen strahlenden Sonnenaufgang überrascht worden ist und die geblendeten Augen nun eine Weile schließen muß, um sich von seiner Bestürzung zu erholen.

Wie lange er so gesessen haben würde, ist nicht zu vermuten, wenn sein Modell auf dem Brunnentroge nicht endlich die Geduld verloren und sich hinuntergeschwungen hätte. Da fuhr er in die Höhe, blickte wild umher, erkannte erst allmählich den Ort, wo er sich befand und packte dann, von einem plötzlichen Widerwillen übermannt, seine Siebensachen zusammen, indem er dem Kinde zurief, er werde nicht wiederkommen, und hier sei die Bezahlung für die heutige Sitzung.

Dann wanderte er langsam nach dem Marktflecken zurück, den Kopf immer zur Erde gesenkt, nichts um sich her eines Blickes würdigend.

In diesem Zustande, dumpf vor sich hin brütend, verbrachte er den Abend und ging lange vor seiner gewohnten Zeit zu Bett. Doch war an Einschlafen so bald nicht zu denken, zumal der Mond ihm bis Mitternacht ins Fenster schien. Er stand sogar einmal wieder auf, tastete nach seinem Skizzenbuch und machte Licht an, als ob er irgend ein Bild, das ihm vorschwebte, eilig festhalten müßte. Als er aber nur ein paar Striche gemacht, eine Stirn und eine feine Nase im Profil, und nun das Auge zeichnen wollte, merkte er, daß er nicht damit zu stande komme, strich den Anfang unmutig aus und warf sich wieder aufs Bett.

Am Morgen, als er endlich aufwachte, sah er, daß er die Kerze zu löschen vergessen hatte, die zum Glück in dem zinnernen Leuchtern unschädlich erloschen war.

Er wartete hierauf ungeduldig, indem er sein Zimmer nicht verließ, daß es elf Uhr schlagen möchte. Den ganzen Morgen hatte er damit zugebracht, sich aufs sorgfältigste zu frisieren, seinen Bart zu stutzen und sich überhaupt so schön zu machen, wie es mit den bescheidenen Mitteln seiner Reisetasche irgend herzustellen war. Da er endlich die Zeit zu dem versprochenen Besuch gekommen glaubte, stieg er mit klopfendem Herzen die Treppe des Gasthofes hinunter und schlug den Weg nach dem höher gelegenen Landhause des Regierungsrates ein, die schwere Mittagsglut verwünschend, die ihm große Schweißtropfen auf die Stirn lockte.

Die Villa lag auf einer luftigen Anhöhe und blickte weit ins Land hinaus, über die niedrigen Bäume und Büsche des Gärtchens hinweg, das sich auf ihrer Rückseite ziemlich weit in die umliegenden Wiesen hinaus erstreckte. Zu dieser heißen Stunde schien alles darin zu schlummern. Nur das Rauchwölkchen aus dem Schornstein kündigte einiges Leben an. Eine alte Frau, die über ihrer Gartenarbeit auf einer Bank eingenickt war, ermunterte sich bei der Annäherung des Malers und wies ihn nach der Hinterseite des Hauses, wo er den fremden Herrn finden werde. Es führte da ein Treppchen in ein luftiges Gartenzimmer hinauf, in welchem Franz Florian seinen alten Gönner in Hemdärmeln, behaglich rauchend, auf einem Ruhebett ausgestreckt fand. Er warf das Heft einer medizinischen Wochenschrift, in welchem er gelesen, auf den Tisch und erhob sich munter, seinen Besucher zu begrüßen.

»Schön, daß Sie Wort halten!« rief er ihm entgegen. »Stecken Sie sich nun gleich eine Cigarre an und helfen Sie mir, die verdammten Mücken zu narkotisieren. Ich bin sehr froh. Sie zu sehen, denn wahrhaftig, hier im Hause geht alles mit solchen Ecce-homo-Gesichtern herum, daß man meint, der jüngste Tag wäre vor der Thür. Aber Sie scheinen ja auch nicht mehr in der alten fröhlichen Kampf- und Siegeslaune zu sein? Was ist Ihnen denn über die Leber gelaufen? Aergert Sie bloß das bißchen unverschämter Sonnenschein?«

Der Maler erwiderte errötend, er befinde sich ganz wohl und habe gegen das schöne Wetter nichts einzuwenden.

»Um so besser!« rief der alte Herr, »Ich fürchtete schon, einen neuen Inkurabeln an Ihnen zu finden, und habe schon genug Aerger mit dem schweren Fall hier im Hause. Warum soll ich Ihnen ein Geheimnis daraus machen? Die Kranke, wegen deren ich hier herauscitiert worden bin, jenes junge Mädchen, von dem ich Ihnen sagte – aber Sie haben sie ja gestern selbst gesehen – stellen Sie sich vor, mit ihren siebzehn Jahren, ihrem hübschen Gesicht – ich wenigstens, als ihr Pate, finde sie hübsch – und in den besten Verhältnissen, von aller Welt gehätschelt und auf Händen getragen – und doch läßt der kleine Querkopf sich einfallen, der Welt, die sie noch gar nicht kennt, den Rücken drehen und ins Kloster gehen zu wollen.«

»Ins Kloster? Um Gottes Willen!« entfuhr's dem betroffenen Künstler. »Was gibt sie für einen Grund an? Und hat der Vater nicht die Macht, sie zurückzuhalten?«

»Der Vater? Mein werter, junger Freund, wenn Sie selbst einmal Vater geworden sind, nehmen Sie sich vor der Schwäche in acht, die gute Väter, wie es scheint, fast immer gegen einzige Kinder zu beweisen pflegen. Dieser mein alter Freund – Sie sehen es ihm jetzt schwerlich mehr an, was für ein flotter Kamerad er war, als ich ihn kennen lernte, freilich nicht als Kommilitone, sondern in ärztlicher Eigenschaft, da er bei einer Paukerei eine sehr schwere Verwundung davon getragen hatte. Ich war damals schon als ‹alter Herr› seinem Korps zugethan und verliebte mich förmlich in diesen jungen Patienten. Er war der beste Schläger, Tänzer, Reiter, den man nur wünschen konnte, ein Tausendsasa, sag' ich Ihnen, und so viel Glück bei den Weibern, daß drei andre daran genug gehabt hätten. Nu, das letztere wird Sie nicht wundern. Sie müssen ihm angesehen haben, was er so in den Zwanzigern für ein bildschöner Junge gewesen ist. Das Annerl, seine Tochter, gleicht ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, aber bei einem Mädel ist das nichts so Apartes. Dabei ein guter, treuherziger Kamerad, nur schrecklich faul, und vom Studieren ein abgesagter Feind. Er hatt' es auch nicht so dringend nötig; sein Papa war sehr wohlhabend.

»Aber für jeden kommt einmal eine Schicksalsstunde, und meinem flotten Taugenichts kam sie in Gestalt eines adligen Fräuleins, an dem ich für mein Teil garnicht 'mal was Besondres finden konnte. Sie war sogar gleichaltrig mit ihm, wie es hieß, ungeheuer gelehrt, talentvoll und tugendhaft, übrigens nicht, was man eine gute Partie nennt. Die Schwester meines Freundes, die jetzige Tante Babette – Sie haben sie ja auch gesehen – die war sauber! Ein Prachtmädel, sag' ich Ihnen, und neben ihr konnte sich das Baroneßchen nicht sehen lassen. Aber Gott weiß, wie es kam, gleich auf dem ersten Ball, wo er den Kotillon mit ihr tanzte, fing mein guter Isidor Feuer, und gleich auf Tod und Leben, so daß alles Vernunftpredigen vergeblich war.

»Wir alle schüttelten die Köpfe. Unser vielbeneideter Don Juan wurde auf einmal eine sittsame Schlafhaube, hockte Tag und Nacht in den Hörsälen und über den Pandekten und ging sogar in die Kirche, selbst ohne die Hoffnung, seine Angebetete dort zu treffen, da sie gar nicht in München lebte und nur bei einem zufälligen Besuch in der Stadt auf jenen Ball gekommen war. Um es kurz zu machen: gleich nach seinem Staatsexamen verheiratete er sich mit dieser schon nicht mehr ganz frischen Studentenliebe, und als sie acht Jahre darauf mit Tod abging, war er rein untröstlich.

»Das einzige Pfand seiner kurzen Liebe und Ehe, das Annerl, hätte er nun gern bei sich behalten, als seine einzige Lebensfreude. Aber die Familie seiner Seligen redete ihm zu, das Kind in dasselbe Erziehungsinstitut bei den Salesianerinnen zu thun, wo die Mutter bis in ihr zwanzigstes Jahr gelebt hatte. Von da war ihr auch der übermäßig kirchliche Sinn verblieben, mit dem sie ihren Mann angesteckt hatte, so daß der Aermste für seine Jugendsünden in der gestrengen ehelichen Zucht vollauf Buße that. Also ergab er sich drein, das kleine Mädchen von sich zu lassen, und setzte die ersten Jahre sein einsames Leben langweilig und philisterhaft genug fort, immer die Selige beweinend und zu keiner neuen Heirat zu bewegen. Darüber wurde er vorzeitig alt und grau. Werden Sie glauben, daß er heute erst fünfundvierzig Jahre alt ist? Und geht so duckmäuserig, seufzend und schwerblütig herum, wie ein Greis! Es ist ein Jammer!«

Er warf die ausgerauchte Cigarre ingrimmig weg und zündete sich sofort eine neue an. »Ja, ja, der Väter Sünden! – Es ist eine nachdenkliche Sache um das alte Bibelwort. Ich habe das Meinige gethan, das Unheil, das ich kommen sah, abzuwenden. Sein Schwesterchen nämlich, das Babettel – nun, heute kann ich ja davon sprechen; ich hatte selbst ein Auge auf sie geworfen, und sie hätte bloß den kleinen Finger auszustrecken gebraucht, so saß ihr mein Ring daran, obwohl ich immer eine gewisse Ehescheu hatte. Aber das wählige, verzogne und sehr gefeierte Mädel – ich war ihr nicht mehr jung genug, sie zog mir einen ihrer Tänzer und Courmacher vor, einen Apotheker, bei dem sie auch so weit ganz wohl aufgehoben war. Der Mann hatte Vermögen und keinen üblen Charakter, bis auf gewisse Eigenheiten, die aber der Frau nicht lästig wurden. Indessen starb er schon nach zehnjähriger Ehe – und ich lebe noch und wäre immer noch kein zu verachtender Ehemann, meinen Sie nicht auch? Nun, das sind Possen. Die junge Witwe zog zu ihrem Bruder, ihm das Haus zu führen, was auch zwischen mir und dem guten Regierungsrat wieder die alten Beziehungen auffrischte. Er hatte sich pensionieren lassen und trieb nun allerlei brotlose Künste, ein bißchen Musik und dergleichen, aber zu dem eigentlichen Beruf, den ich ihm immer vorhielt, sein Kind selbst zu erziehen, war er nicht zu bewegen. Die Tante hätte ihm so trefflich beigestanden, sie hat Humor und Kopf und Herz auf dem rechten Fleck. Er blieb aber dabei, seine Selige selbst habe es auf dem Totenbette so angeordnet, dabei müsse es nun bleiben.

»Und dabei blieb es auch, sollte aber noch weit schlimmer kommen.

»Schon vorm Jahr, als das Annerl in den Ferien hierherauskam, sei ihr ein gewisser Trübsinn eigen gewesen, sagte mir die Tante. Man achtete jedoch nicht darauf; nur noch ein Jahr sollte sie in dem Klosterinstitut bleiben, hernach in München auf Bälle geführt werden, da würden ihr die geistlichen Gedanken bald vergehen. Und nun stellen Sie sich vor, junger Freund: als sie vor acht Tagen hierher kommt, erklärt sie dem Papa mit der größten Entschiedenheit, sie wolle nach den Ferien wieder ins Kloster zurück und sobald sie das vorgeschriebene achtzehnte Jahr erreicht habe, als Novize eintreten, da es ihr fester Entschluß sei, der Welt und allen irdischen Freuden abzusagen und nur dem Himmel zu dienen.

»Der verrückte Kindskopf! Der eigensinnige Fratz! Der Welt entsagen, von der sie noch nichts gesehen, als was sich hier in der Sommerfrische ihr präsentiert hat und wahrhaftig nicht weit her ist!

»Ich war wütend, als mein Freund mir das mitteilte. Er selbst, ein so gottseliger Herr er ist – das war ihm denn doch außer Spaß. Sein einziges Kind, ein so bildsauberes, gutes, begabtes Geschöpf – nein, den Bissen wollten wir den ehrwürdigen Damen doch noch aus den Zähnen reißen!

»Ich dachte anfangs, es sei irgend eine physische Ursache im Spiel. Aber nachdem ich mein Patchen nach allem Möglichen ins Verhör genommen, mußte ich gestehen, daß alles bei ihr in musterhafter Ordnung ist, bis auf das verschobene Gehirnchen, das sie sich mit allerhand theologischem Krimskrams vollgestopft hat, so daß die gesunde Vernunft keinen Platz mehr darin findet. Und so haben wir uns ganz ohne Erfolg abgearbeitet, der Papa und ich, und das Ende vom Liede war, daß sie in einen Weinkrampf verfiel und wir unsre liebe Not hatten, sie nur wieder zu beruhigen, indem wir ihr versprachen, ihr ihren Willen zu lassen.

»So stehen nun die Dinge. Sie begreifen, daß mir die Sache nahegeht und mein Ferienvergnügen in diesem Hause mir gründlich verdorben ist. Diese gottverdammten geistlichen Nester, in denen alte Betschwestern wie feiste Spinnen in ihrem dunklen Netz sitzen und auf die armen lustigen Fliegen lauern, die sich drin fangen sollen! Daß doch der Erdboden sich aufthäte und sie alle verschlänge!«

Er stampfte mit dem Fuß auf, als ob er gleich hier einen Versuch machen wollte, ob der Boden einem solchen frommen Wunsch sich fügen möchte. Dann trat er vor den Maler hin und sagte, sein graues Haupt hin und her wiegend: »Sehen Sie, mein Lieber, da wären die ‹Freilichtstudien› am Platz, die jetzt in der Kunst so viel Unheil anrichten. So ein junges Ding müßte dazu angehalten werden, die Augen draußen im Freien aufzumachen und die Gotteswelt zu sehen, wie sie ist, ehe sie sich in ihre helldunklen Kapellen- und Zellenwinkel einsperrt. Aber dafür gibt's keine Lehrer und der Naturalismus des Lebens muß von jedem auf seine eigne Hand betrieben werden.«

Er wandte sich wieder ab und durchmaß heftig rauchend das Zimmer.

Franz Florian war an die Glasthür getreten, die sich in den Garten öffnete, und schaute in die sonnigen Büsche und Blumenbeete hinaus.

Auf dem mittleren, kiesbestreuten Wege, der von Reseda und Monatsröschen eingefaßt war, kam soeben das vielbesprochne junge Wesen dahergewandelt und blieb an dem kleinen Springbrunnen stehen, dessen dünner, schläfriger Strahl seine blitzenden Tropfen in der sonnigen Luft versprüht«.

Sie trug heute statt des klösterlich schwarzen ein leichtes und lichtes Mousselinkleid, darüber aber auch heute die zur Institutsuniform gehörende weiße Pelerine mit dem silbernen Kreuz. Der Kopf war unbedeckt, der seine Umriß desselben frei zu erkennen, das Gesicht aber durch ein rotes Sonnenschirmchen mit einem warmen Ton überhaucht, der seinen jugendlichen Reiz noch erhöhte. Ein Weilchen stand das ganz in seine – unzweifelhaft andächtigen – Gedanken vertiefte Fräulein am Rande des Beckens, ein schwarzeingebundnes Büchlein mit silbernem Schnitt zwischen den Fingern der linken Hand, und blickte in das spielende Wasser zu seinen Füßen. Als sie den Kopf wieder erhob, um ihren Weg nach dem Hause fortzusetzen, erkannte sie hinter den Scheiben des Gartenzimmers den Fremdling von gestern, erwiderte aber seine hastige Verbeugung, ohne die Miene zu ändern, nur mit einem gleichgültigen Neigen der großen Augen und wandelte dann langsam an den Treppenstufen vorbei dem vordern Eingange des Hauses zu, so daß sie dem nachstarrenden Franz Florian alsbald entschwunden war.

Dem hatte das Herz so heftig geklopft, daß er fast froh war, als er sah, daß sie nicht im Sinne hatte, hier unten bei ihrem Paten einzutreten. Ihm war, als würde er in tödlicher Beklommenheit, wenn sie ihn anredete, kein vernünftiges Wort vorbringen können. Er hatte auch nicht bemerkt, daß der alte Herr hinter ihm gestanden und gleichfalls den holden Mittagsspuk beobachtet hatte.

»Sollte man's glauben,« hörte er ihn jetzt sagen, »wenn man dieses helle Pflänzchen sieht, daß ein so böser schwarzer Wurm in seiner Blüte steckt? Ja die Frauenzimmer! Dem ältesten Pathologen geben sie immer noch Rätsel auf.«

»Ich möchte das Fräulein wohl malen!« sagt der junge Künstler so verloren vor sich hin, als ob er zu sich selbst spräche.

Ueber das unwirsche Gesicht des Alten flog plötzlich ein eigenes Leuchten, als dämmre ein glücklicher Gedanke in ihm auf. Er sah den Maler mit einem prüfenden Blick vom Kopf bis zu den Füßen von der Seite an, als habe er ihn bisher noch nicht hinlänglich zu studieren Gelegenheit gehabt, schmunzelte dann, sichtbar von der Musterung befriedigt, und versetzte trocken: »Malen möchten Sie das Annerl? Würden Sie da nicht Ihre künstlerischen Ueberzeugungen verleugnen müssen?«

Franz Florian errötete über und über. »Sie scheinen mich immer noch für einen albernen Fanatiker und malerischen Asceten zu halten,« erwiderte er, sich verletzt abwendend. »Ich habe in dem Kloster, das Sie für die Naturalisten zu gründen wünschen, nicht Profeß gethan und kein Gelübde abgelegt, nie etwas Schönes malen zu wollen. Aber freilich, was ich sagte, war nur so in den Tag hinein gesprochen. Das Fräulein wird mir nicht sitzen wollen.«

»Nun, was das betrifft! – Wir haben kein Bild von ihr, als eine mittelmäßige Photographie, die vor etlichen Jahren hier draußen gemacht wurde. Wenn sie ihren Entschluß durchsetzt und der Welt und den Ihrigen für immer entsagt, ist es das wenigste, was sie ihrem guten Papa zuliebe thun kann, daß sie ihm ihr Bild zurückläßt. Sie selbst, fromm wie sie ist, muß eine höhere Fügung darin sehen, daß kurz vor Thorschluß sich eine so gute Gelegenheit dazu bietet. Ja, lieber Freund, das ist ein excellenter Gedanke von Ihnen, und wir alle, die wir das närrische Kind nun doch einmal lieben, werden Ihnen den größten Dank schuldig werden, wenn Sie es glücklich zu stande bringen. Sie sind vielleicht ein bißchen aus der Uebung mit so einem schönen Stück Natur. Aber mit etwas gutem Willen – und Ihren Kollegen verraten wir nichts davon. Uebrigens bestätigen ja die Ausnahmen die Regel, und Sie werden von dieser Verirrung ins Gebiet des verpönten Schönen sofort wieder zu den charakteristischsten Dachauerinnen und schlafenden Bauern zurückkehren.«

Er zog rasch seinen Rock an und sagte zu dem Maler, der so verträumt dastand, daß er die letzten Scherze völlig überhört hatte: »Ich muß nur den Papa benachrichtigen. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

Es verging aber eine geraume Zeit, ehe er wiederkam. Der Maler hörte in dem Zimmer zu seinen Häupten ein lebhaftes Hinundher von Männertritten, dann auf dem offnen Balkon über der Gartenthür die Stimme des alten Herrn, der sehr zuversichtlich ausrief: »Nur den Mut nicht verloren, Isidor! Wer weiß: quod medicamenta non sanant, ignis sanant!«– dann wurde es stille. Die Männer verließen das Gemach, offenbar um nun auch bei der eigenwilligen jungen Hauptperson anzufragen, wie sie über die Sache denke. Es wurde dem Wartenden schwer, seine Ungeduld zu bemeistern. Immer schwebte das reizende Oval, die blasse Stirn, die breitgeschwungenen Augenlider vor seinem inneren Sinn. Nie zuvor hatte sich seine Künstlerseele an eine Aufgabe leidenschaftlicher hingegeben, als an diese. Wenn nichts daraus würde, wenn das angehende Nönnchen sich nicht erbitten ließ –

Da aber öffnete sich die Thür, und die beiden Männer traten ein, der Hausherr zwar mit seinem unwandelbar wehmütigen Gesicht, sein Gastfreund aber fröhlich dreinblickend und dem Maler verstohlen zunickend.

»Mein werter Herr Florian,« sagte der Regierungsrat, »Ihr Anerbieten, meine Tochter zu malen, beglückt mich sehr. Sie wissen nicht, welchen Dienst Sie mir damit leisten, und es versteht sich, daß Ihre Mühe, wie Sie selbst es bestimmen werden, vergütet werden soll. Nein, nur unter dieser Bedingung kann davon die Rede sein, denn das Porträt muß mein Eigentum werden. Auch hat meine Tochter eingewilligt, mir diese Freude zu machen, und es steht von unsrer Seite nichts im Wege, daß Sie gleich heute mittag anfangen können. Ich bedaure nur, Ihnen kein so recht passendes Atelier zur Verfügung stellen zu können.«

Florian stammelte, von dem Glück verwirrt, seinen Herzenswunsch erreichen zu dürfen, einige abgerissene Worte – er sei gleich heute bereit – jeder Raum werde ihm zu seiner Arbeit genügen – er bedaure nur, keine Oelfarben bei der Hand zu haben.

Der Medizinalrat kam ihm rasch zu Hilfe.

»Sie sind ja ein perfekter Aquarellist, lieber Freund, und was das Atelier betrifft, werden Sie diesen Mangel am leichtesten verschmerzen. Das Zimmer hier geht nach Norden, auf der breiten Veranda über mir haben Sie das schönste plein air, das Sie nur wünschen können, und so wird mit Gottes und aller Heiligen Hilfe das gute Werk hoffentlich aufs schönste gelingen.«

Der Papa seufzte ein wenig, strich sich wieder über die Augen und fragte dann den Maler, ob er nicht bei ihnen zu Tisch bleiben wolle. Das lehnte der junge Mann eifrig ab, er habe noch allerlei für die Sitzung vorzubereiten, um vier Uhr, wenn es so recht sei, werde er sich in der Villa pünktlich wieder einstellen.

Mit beflügelten Schritten, von Zeit zu Zeit einen kleinen Freudenschrei ausstoßend, eilte der glückliche Maler den Abhang hinunter und erreichte seinen Gasthof gerade zur Essensstunde. Es war ihm aber unmöglich, im Gastzimmer unter seinen täglichen Tischgenossen sein Mahl einzunehmen. Unter einem beliebigen Vorwande ließ er sich das Essen auf sein Zimmer tragen, genoß aber nur wenig und warf sich dann auf das kurze, unbequeme Sofa, die Füße über einen Stuhl gestreckt, um ungestört seinen aufgeregten Gedanken nachzuhängen.

Schon einigemale hatte der Blitz der Schönheit mit ähnlicher Gewalt in seinem Herzen gezündet, das letztemal in Verona, wo er im Laden eines Pizzicarol die bildschöne Verkäuferin, ein vollkommenes Exemplar der lombardischen Frauenrasse, mit so verzückten Augen angestarrt halte, daß es selbst der Angestaunten auffiel, so lange sie auch schon an dergleichen Huldigungen gewöhnt war. Zum Glück für unsern jungen Freund machte aber der Gatte kurzen Prozeß, bedeutete ihn höflich, daß hier kein Museum sei, wo man lebende Bilder angaffen dürfe, überreichte ihm seinen aufgeschnittenen, etwas streng duftenden Schinken und komplimentierte ihn zur Thür hinaus.

Andern Tags hatte er ohnehin abreisen wollen, und auf der kühlen Fahrt über den Brenner war der blitzartig entstandne Brand unschädlich wieder erloschen.

Seit er nun der »neuen Richtung« sich zugewandt, hatte er sich zwar geflissentlich alles Schwärmens für schöne Formen enthalten; sein strenges Fasten aber war nicht im stande gewesen, den eingebornen Trieb jeder gesunden jungen Natur zu ersticken, hatte vielmehr heimlich desto mehr Zündstoff in seinem Blute angesammelt, so daß die mystischen Flämmchen unter den bewußten breiten Augenlidern keine sonderliche Mühe hatten, einen lichterlohen Brand anzufachen.

Ihn zu schüren, trug die Hoffnungslosigkeit nicht das wenigste bei. Hier war durch ein leidenschaftliches Werben nichts zu erreichen; das reizende Menschenbild würde sich ewig niemals zu seinem Anbeter herabneigen, sowenig wie irgend eine gemalte Heilige jemals einem verliebten Gläubigen die geringste Gegenliebe geschenkt hat.

Und doch labte sich der Einsame auf seinem harten Lager an diesen selig unseligen Gefühlen, da er sich nach langer selbstauferlegter Entbehrung zum erstenmal wieder in die Gewalt der Schönheit wehrlos ergab. Er verglich im Geiste seine Veroneserin mit diesem Münchener Kinde und war keinen Augenblick in Zweifel, daß die Frau des Pizzicarol hinter der Tochter des Regierungsrats zurückstehen müsse, ganz abgesehen von dem Unterschiede der Düfte eines italienischen Fleischwarenladens und der Rosen und Reseda atmenden Lust in Fräulein Annerls Garten.

Er nahm sich vor, sein Bestes zu thun und sich von den jungen Augen nicht verwirren zu lassen.

Als er jedoch um die bestimmte Stunde, mit seinem Malgerät versehen, wieder zu der Villa hinaufstieg, konnte er sich doch einer zitternden Erregung nicht erwehren und mußte oben ein Weilchen stillstehn, sein Herzklopfen zu beruhigen, ehe er die Klingel zog.

Eine sauber gekleidete Magd führte ihn sogleich die Treppe hinauf in den obern Stock und öffnete ihm die Thür in das geräumige Gemach über dem Fremdenzimmer, das, wie es schien, zum eigentlichen Wohnzimmer der Familie eingerichtet war. Hier stand auch ein Pianino und daneben ein hohes Notenpult für den geigenden Hausherrn. An den Wänden war allerlei Schmuck verbreitet, der auf die fromme Gemütsart der Hausgenossen deutete: ein paar Raffaelische Kupferstiche, eine buntfarbige Madonnenstatuette, zu deren Seiten zwei altertümliche Heiligenbilder in Oel aus einer Fabrik des vorigen Jahrhunderts hingen, in einer Ecke, unter einem ziemlich geschmacklosen Strauß vergoldeter Palmenfächer und Palmkätzchen ein großes vergoldetes Kruzifix mit einem silbernen Weihwasserbecken, vor dem in einem Rubingläschen ein ewiges Lämpchen brannte.

Doch machte der Raum trotz dieses kirchlichen Aufputzes keinen feierlich beklemmenden Eindruck, da die große Glasthür dem Eintretenden gegenüber sich auf die Veranda öffnete, die von üppig blühenden Schlingpflanzen leicht verschattet war und den Ausblick über die Wiesen und zu den fernen, sanftgeschwungenen Bergen gewährte. Der Maler verlor denn auch, sobald er über die Schwelle getreten war, seine Befangenheit. Er fand die ganze Familie bereits versammelt, wurde von dem Hausherrn zwar seufzend, wie immer, aber mit einem herzlichen Händedruck bewillkommnet, von Tante Babette mit einem zutraulichen Kopfnicken begrüßt, und selbst in dem Gesicht des jungen Fräuleins war kein Zug, der einen entschiedenen Widerwillen gegen den Zweck seines Kommens verraten hätte.

Am muntersten zeigte sich der Medizinalrat, der ein Tischchen auf die Veranda hinausgetragen und zwei leichte Rohrstühle rechts und links daneben gestellt hatte. Er fragte dann den Maler, welchen Platz er seinem Modell anweisen wolle, führte das Annerl dorthin und schärfte ihr ein, möglichst freundliche Gedanken zu haben, wie es ja auch beim Photographieren Sitte sei. Er strich ihr dabei leise über das braune Haar und rieb sich, als der Maler seinen Sitz eingenommen, vergnügt die Hände, sichtlich sehr erfreut, daß alles so gut eingeleitet sei.

»Wir wollen den Künstler jetzt nicht weiter stören,« sagte er, dem Hausherrn zuwinkend. »Aller Anfang ist schwer, und der Genius pflegt vor profanen Augen seine Hexenkünste nicht gern zur Schau zu stellen.«

Auf den Zehen gehend, verließ er mit dem Freunde das Zimmer. Nur die Tante blieb zurück, setzte sich in einen bequemen Stuhl nahe der Balkonthür, so daß sie das Nichtchen im Auge behielt, und beschäftigte sich die erste Zeit emsig mit einer Handarbeit.

Als es aber draußen zwischen den Zweien unheimlich still blieb, so daß man nur unten vom Garten hinauf das Schwirren der Heimchen und das leise Plätschern des Springbrünnchens hörte, ging ihr lebhaftes Temperament mit ihr durch, und sie fing an, den Maler nach seinen Verhältnissen, Bekanntschaften und Reisen auszufragen, wobei sich herausstellte, daß sie durch allerlei, freilich weithergesponnene Fäden mit seiner verstorbnen Mutter verbunden war. Das gewann ihm, zumal er in seinen Antworten einen heiteren und doch respektvollen Ton anschlug, bald die volle Sympathie der lebhaften Frau, und sie begann mancherlei hübsche Histörchen aus ihrer Mädchenzeit auszukramen, an denen auch die spätere Frau Florian einen Anteil gehabt. So sprach sie schließlich allein, was dem Maler das liebste war.

Denn seine ganze Seele war in seinen Augen, und er bot alle Kunst und Hingebung auf, das Gesicht, das so regungslos wie ein in Marmor gemeißeltes Heiligenfigürchen ihm gegenüber saß, mit seinen, lebensvollen Zügen nachzubilden.

Er hatte sie so den Kopf zu wenden gebeten, wie er sie bei jenem ersten Begegnen auf der freien Landstraße lange betrachtet hatte, die Gestalt ihm von vorn zugekehrt, das Gesicht aber fast ganz im Profil, die Augen ruhig ins Weite gerichtet. Je genauer er sie studierte, desto mehr wurde er von dem Zauber dieser jungen Anmut hingerissen, so daß er oft eine Minute lang den Pinsel ruhen ließ und über dem Anschauen das Nachbilden versäumte.

Mehr und mehr aber fiel ihm die tiefe Weltentrücktheit aufs Herz, in welcher das schöne junge Wesen alles über sich ergehen ließ, ohne selbst durch das geringste Erglühen zu verraten, daß ihr die unverhohlene Bewunderung des jungen Meisters irgend welchen schmeichelhaften Eindruck mache. Auch die drolligen Geschichtchen der Tante schienen in ihren kleinen Ohren nicht anders zu klingen, als das Vogelgezwitscher in den Gartenbüschen. Dabei sah sie nicht eigentlich traurig aus ihren geheimnisvollen Augen ins Weite, nur wie von einem magischen Traum umgeben, der die Gestalten des wachen Lebens ihrem Geiste fern hielt.

»Ob sie am Ende doch ein wenig dumm ist?« sagte sich der Maler, während er frisch fortarbeitete. Er nahm sich zwar diesen ehrenrührigen Gedanken sogleich übel und bat ihn dem stillen Gesicht ihm gegenüber reumütig ab. Ein leiser Verdacht aber blieb dennoch in ihm zurück. War's nicht ganz unbegreiflich, daß die Gegenwart eines so schmucken jungen Mannes, der gewohnt war, daß die Weiber ihn mit Interesse betrachteten, nicht den geringsten Eindruck auf dies junge Mädchen machte? Daß sie nicht mehr dabei fand, von ihm gemalt zu werden, als wenn ein Schneider ihr zu einem neuen Kleide das Maß genommen hätte? Nicht einmal eitel zu sein, was doch das Recht und die Pflicht ihres Geschlechts ist, – so steif dazusitzen in der häßlichen, hoch zugebundenen Pelerine – halten nicht sogar die Madonnen und Heiligen in ihren Kapellen auf hübsche Kleider? – Nein, in diesem reizenden Kopf mußte etwas nicht in Ordnung, irgend ein Schräubchen losgegangen sein!

Der Eintritt des Vaters und des alten Hausfreunds unterbrach diese grübelnde Betrachtung.

»Kann man schon etwas sehen?« rief der alte Herr, hinter den Maler tretend. »Aber das ist ja die reine Hexerei! Sehen Sie nur, Frau Babette, unser Annerl, wie sie leibt und lebt.«

»Ich habe nur erst den Kopf angelegt; es wäre mir lieb, wenn das Fräulein sich entschließen könnte, ein andres Kleid zu wählen. Der weiße Kragen ist sehr unvorteilhaft und verdeckt völlig den Ansatz des Halses« – sagte der Maler.

Die Tante und der Vater waren hinzugetreten, beide drückten ihre Bewunderung aus, der Vater nicht ohne einen stillen Seufzer.

»Wie aus dem Spiegel gestohlen!« rief die Tante. »Schau einmal her, Annerl! Gefällst du dir so? Und freilich mußt du den Kragen herunterthun. So als ewige Pensionärin dazusitzen – mich thät's nicht freuen, wenn ich du wär'!«

»Ich will so bleiben, Tante,« erwiderte das Mädchen, einen gleichgültigen Blick auf das Blatt werfend. »Ihr habt mich ja doch auch meistens so gesehen.«

Es waren die ersten Worte, die Franz Florian von diesen schwellenden roten Lippen hörte. Die Stimme dünkte ihm so lieblich, wie die ganze Person, und auch wie sie selbst ein wenig umschleiert.

»Nun, das überlegen wir noch,« fiel der Medizinalrat hurtig ein, der Tante zublinzelnd. »Aber nicht wahr, Frau Gevatterin, wer hätte gedacht, als wir das Würmchen vor siebzehn Jahren zusammen aus der Taufe hoben, daß es sich einmal in schönen Farben so wie eine kleine Prinzessin ausnehmen würde? Erinnert sie Sie nicht an gewisse Giorgiones, lieber Freund?«

»Eher an Paul Delaroche. Der Typus ist doch moderner.«

»Gleichviel. Sie werden da was Schönes zu stande bringen. Wenn der Herr Florian vor siebzehn Jahren die Frau Tante gemalt hätte, da hätte man noch heute seine Freude dran, gelt, Frau Gevatterin? Schade, daß die alten kanonischen Gesetze verbieten, daß Gevattersleute sich heiraten. Wir wären ein schönes Paar gewesen, und könnten uns noch sehen lassen.«

»Was Sie sich einbilden, Herr Gevatter! Ich wäre langst unter der Erde, wenn ich Sie geheiratet hätte.«

»Da sehen Sie nun, lieber Freund, mit welchen Vorurteilen meine Frau Gevatterin mich betrachtet,« sagte der alte Herr lachend. »Sie hat sie von ihrem Manne geerbt. Der Selige war Apotheker und glaubte klüger zu sein, als alle Aerzte, obwohl er elend hätte verhungern müssen, wenn kein Arzt ein Rezept geschrieben hätte. Er behauptete, wir tappten im Finstern und verordneten heute das Gegenteil von dem, was wir gestern verschrieben. Er müsse das am besten wissen.«

»Wußte er's nicht auch am besten? Und lebte er nicht vielleicht heute noch, wenn er in seiner letzten Krankheit Sie nicht gerufen hätte?«

»Sie werden mir noch gar auf den Kopf zusage»:, liebe Frau Babette, ich hätte ihn umgebracht, um Sie dann heimführen zu können. Isidor, was sagst du? Glaubst du, daß du einen Mörder unter deinem Dache beherbergst?«

Die Tante lachte nun selbst, und sogar der seufzende Hausherr brachte es zu einem stillen Lächeln. Nur das Gesicht der Tochter hellte sich nicht auf. Sie hatte die Blätter des Skizzenbuchs umgeschlagen und die Studien betrachtet, ohne sonderliches Interesse. Franz Florian machte eine Bewegung des Erschreckens.

»Bitte, mein Fräulein,« rief er, das Buch ihr aus der Hand nehmend, »an diesen Klexereien ist nichts, was Sie erfreuen könnte. Ich hatte nur kein andres Blatt für Ihr Bildnis. Ueberhaupt bedaure ich, daß ich auf Wasserfarben beschränkt bin. Wenn es Ihnen recht wäre, Herr Regierungsrat, ließe ich mir eine Leinwand und Oelfarben kommen. Ich würde dann erst hoffen, die Aufgabe vollkommen zu meiner eignen Zufriedenheit zu lösen.«

»Ich bin schon für das Aquarell sehr dankbar,« versetzte der Hausherr, »und verspreche mir das beste von diesem Anfang. Aber du scheinst ein wenig abgespannt, Kindchen. Ich dächte, wir ließen es heute dabei, und Sie kämen morgen zur zweiten Sitzung.« Franz Florian stellte sich am nächsten Nachmittage zu derselben Stunde pünktlich ein. Seine stille Hoffnung aber, das Fräulein würde die Institutsuniform mit einem kleidsameren Gewande vertauscht haben, wurde nicht erfüllt. Heute fand er die Herren nicht anwesend; sie hatten eine Wanderung zu einer nahen Aussichtshöhe gemacht. Auch die Tante bezog nicht so unentwegt wie gestern ihren Posten als Anstandsdame, sondern ging, nachdem die Sitzung begonnen hatte, in häuslichen Geschäften ab und zu. Der Maler hatte sich zugeschworen, heute – es koste, was es wolle – das Eis zu brechen und dahinter zu kommen, wes Geistes Kind das schöne Geschöpf ihm gegenüber sei. So begann er, nachdem er ein Weilchen schweigend fortgearbeitet hatte, das Wort an sie zu richten:

»Werden Sie noch lange hier draußen bleiben, mein Fräulein?«

»Bis die Ferien zu Ende sind, bis Mitte September.«

»Es ist schön hier im Hause Ihres Herrn Vaters. Sie verlassen es doch wohl nicht gern?«

»O, es ist noch schöner im Institut, wenn wir auch die Berge nicht so nah haben.«

»Sie haben aber doch wohl zuweilen ‹Zeitlang› nach Ihrem Papa und der guten Frau Tante?«

Sie schwieg einen Augenblick; dann sagte sie, ehrlich ihn anblickend: »Nein. Es ist vielleicht unrecht, aber ich habe meine Freundinnen und die Lehrerinnen die ich liebe, und – der Papa braucht mich nicht.«

»Wenn Sie aber in die Stadt zurückkehren, werden Sie auch dort Freundinnen haben, und an Lehrern, falls Sie fortstudieren wollen, fehlt's Ihnen auch nicht, und dann ist's viel lustiger dort, als in dem einsamen Kloster, für ein erwachsenes Fräulein.«

Sie rümpfte ein wenig das feine Näschen.

»Meinen Sie? Sie stellen sich das Kloster wohl auch so vor, wie die meisten, die es nicht kennen. Und wie sollten Sie auch eine richtige Ansicht davon haben? Es kommt kein Mann hinein, außer dem Beichtvater, dem Klosterarzt und dem Tanzlehrer.«

»Dem Tanzlehrer? Was tausend! Sie haben auch Tanzstunde bei Ihren frommen Klosterfrauen?«

Nun lächelte sie doch ein wenig über sein unverstelltes Erstaunen.

»Glauben Sie, daß wir immer nur beten?« sagte sie, das Mündchen spöttisch verziehend. »Wir sind sehr vergnügt, und auch die Lektionen greifen uns nicht übermäßig an, außer etwa die ganz Talentlosen. Jeden Tag dürfen wir zweimal spazieren gehen.«

»Im Klostergarten natürlich,«

»Nein, auch draußen im Feld und in den nahen Wäldern, und pflücken Erdbeeren und Himbeeren und singen dabei oder spielen allerlei Spiele. In dem Karneval aber, sechs Wochen lang, haben wir Tanzstunde, da kommt ein alter Franzose mit einer Geige, er ist aber noch ganz rüstig und macht uns die Pas vor und spricht ein so schönes Französisch. Dabei sind jedoch nur die Lehrerinnen zugegen. Die Klosterfrauen, die nicht unterrichten, leben für sich, wir sehen sie nur in der Kirche. Aber sie sind auch alle ganz heiter und haben auch Grund dazu. Es fehlt ihnen nichts, die Oberin ist eine so gütige Dame, eine Gräfin von Geburt, o so gütig! Ihr nur die Hand küssen zu dürfen, ist schon ein großes Glück.«

»Eine Gräfin?«

»Aus einem sehr guten Geschlecht, das aber nicht sehr reich war. Und« – fügte sie ein wenig zögernd hinzu – »sie soll Schicksale gehabt haben, und das hat ihr die Welt verleidet.«

»Was mögen das für Schicksale gewesen sein?« fragte er mit der unbefangensten Miene.

Sie antwortete nicht. Es trat wieder eine längere stumme Pause ein. Die Tante kam auf die Veranda, belobte die Fortschritte, die das Bild inzwischen gemacht, bedauerte, daß das Annerl seinen Kopf darauf gesetzt habe, den weißen Kragen nicht herunterzuthun, wozu das Mädchen beharrlich schwieg, und ließ die beiden dann wieder allein.

»Warum bestehen Sie darauf, Fräulein Annerl,« fing der Maler wieder an, »sich so einzumummen? Ich verlange ja kein dekolletiertes Ballkleid, nur um den breiten weißen Fleck möcht' ich herumkommen und noch ein Streifchen vom Halse sehen lassen.«

»Ich will auf dem Bilde nicht anders erscheinen, als ich gerade bin,« erwiderte sie ganz gelassen, »Wem ich so nicht recht bin, der mag mich nicht anschauen.«

»Aber in der Stadt werden Sie doch nicht so herumgehen können?«

»Ich werde in der Stadt überhaupt nicht herumgehen. Ich bleibe im Kloster.«

Er ließ mit gut gespieltem Schreck den Pinsel fallen.

»Was sagen Sie da, Fräulein Annerl? Sie wollen Klosterfrau werden?«

Sie nickte; eine stille schwärmerische Entschlossenheit glänzte ihr in den Augen.

»Aber bestes Fräulein,« rief er, »das kann doch Ihr Ernst nicht sein. Ich will ja glauben, daß Sie es sehr gut in Ihrem Kloster gehabt haben und noch manchmal sich dahin zurücksehnen werden, wenn das Leben in der Welt mit seinen mancherlei schweren Stunden und widerwärtigen Prüfungen Ihnen zu schaffen macht. Auch begreife ich, daß man einen solchen Zufluchtsort aufsucht, wenn man, wie Sie von der Frau Oberin sagen, Schicksale gehabt hat. Aber Sie, so jung und von den Ihrigen geliebt und – verzeihen Sie, es soll keine alberne Schmeichelei sein, – so schön, wie Sie sind, was können Sie für Schicksale erlebt haben, die Ihnen die Welt verleidet hätten, daß Sie Ihrem guten Papa den Schmerz machen müßten, für immer von ihm Abschied zu nehmen und sich bei lebendigem Leibe in einer dumpfen Klosterzelle einzusargen?«

Er hatte gesehen, wie ihr während seiner lebhaften Rede das Blut in die glatten, blassen Wangen gestiegen war, und fürchtete schon, sie werde sich gekränkt erheben und es verschmähen, einem Menschen, der sich so unberufen in ihre heiligsten Angelegenheiten mischte, überhaupt zu antworten.

Sie blieb aber ruhig sitzen. Nur die weiße Pelerine hob und senkte sich etwas rascher über dem jungfräulichen Busen.

»Hat mein Papa Ihnen aufgetragen, so mit mir zu sprechen?« fragte sie, ihn argwöhnisch anblickend.

»Wo denken Sie hin, Fräulein! Wer, dem Sie diese Eröffnung machten, würde nicht ganz aus eignem Antriebe ebenso sprechen?«

»Es mag sein,« fuhr sie nach einer Weile vor sich hin sinnend fort, »daß fremde Menschen das nicht verstehen. Ich bin aber niemand als Gott und der Jungfrau Rechenschaft darüber schuldig, da ich nur thue, was mir die innere Stimme vorschreibt. Schon seit Jahr und Tag hat sie mir zuweilen zugeflüstert: geh nicht von hier fort, es ist nicht zu deinem Heil. Die Welt ist nicht so schön, daß sie dir Ersatz bieten könnte für das, was du hier aufgibst.«

»Die Welt? Was wissen Sie denn von ihr? Was haben Sie bisher von ihr gesehen?«

»Ich kenne freilich nur meine Nächsten, und die habe ich lieb. Aber ich habe so manches gelesen und weiß, es ist ein heiliges Wort unsres Herrn Jesu: ‹Mein Reich ist nicht von dieser Welt›. Können Sie's leugnen, daß auch Ihnen die Welt nicht schön vorkommt? Haben Sie da in Ihrem Buch nicht so vieles gemalt, was garstig oder schmutzig ist? Und wenn die Welt so gar schön wäre, würden Sie nicht lieber lauter schöne Dinge und Menschen in das Buch eingetragen haben?«

Diese unbefangene Bemerkung machte ihn so verwirrt, daß er nicht gleich darauf zu antworten wußte. »O,« stammelte er endlich, »das ist nur so eine verrückte Laune von mir gewesen. Zu Hause habe ich eine Menge Studien und Skizzen, die Ihnen schon zeigen würden, wie schön die Welt ist, nicht bloß in dem gelobten Lande Italien, sondern auch ganz in der Nähe. Aber die Welt mag nun schön oder häßlich sein, glauben Sie, daß unser Herrgott uns darauf erschaffen hat, damit wir uns zwischen vier Mauern einsperren und nur immer dieselben andächtigen Worte hersagen, wo es doch so viel Werke zu thun gibt und Menschen, die wir glücklich machen könnten, wenn wir mit ihnen lebten?«

»Man kann andre nicht glücklich machen, wenn man mit seinem eignen Gewissen nicht im Frieden lebt,« erwiderte sie so ruhig, als ob sie ein eingelerntes Sprüchlein hersagte. Ihre gleichmütige Miene verriet, daß ein geistliches Hochmütchen hinter dieser jungen Stirn sich eingenistet habe, unzugänglich gegen alles profane Zureden. Dem Maler kam das zum Bewußtsein, wie er sie jetzt betrachtete und den strengen Blick dieser reizenden Augen gewahrte. Mit einem tiefen Seufzer tauchte er den Pinsel ein und malte an den braunen Flechten.

Da sie sich aber einmal herabgelassen hatte, überhaupt auf so unbefugte Fragen einzugehen, fuhr sie nach einer Weile fort: »Mein Vater kann mich sehr gut entbehren, der hat die Tante bei sich. Meine selige Mutter aber, davon bin ich überzeugt, würde mich segnen, wenn ich sie um ihre Einwilligung befragen könnte. In unsrer Kirche über einem Seitenaltar ist das Bild der heiligen Anna, ein uraltes, schon fast ganz vom Kerzenrauch geschwärztes Gemälde, aber da es die Namensheilige von meinem Mutterl war, die mich ja auch so genannt hat, bet' ich am liebsten dort in dem Kapellerl. Und am Abend des Tages, wie ich Marienkind geworden bin –«

»Marienkind?«

Sie errötete wieder ein wenig.

»Wenn sich eine von den Zöglingen besonders gut aufgeführt hat, immer fleißig und gehorsam gewesen ist, bekommt sie im letzten Jahr vor ihrem Austritt eine Medaille, die sie immer tragen muß, und wird dann zum Marienkind erklärt.«

»Und Sie haben diese Auszeichnung erhalten?«

Statt der Antwort nestelte das fromme Kind vorn an seinem Kleide und zog an einem Schnürchen ein kleines rundes Silberplättchen hervor, das sie an ihrer unschuldigen Brust versteckt getragen hatte. Der Maler beugte sich über den Tisch zu ihr hinüber und betrachtete das Schaumünzchen, das sie ihm mit ihren schlanken Fingern hinhielt. Auf der Vorderseite trug es das Bild der Madonna, in ganzer Figur, auf der Rückseite das Brustbild eines Heiligen.

»Wer ist das?« fragte der Maler.

»Der heilige Aloysius. Er wird ganz besonders bei uns verehrt. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, warum.«

Franz Florian beschaute die Medaille sorgfältig, sagte aber kein Wort, nickte nur und setzte sich mit einem Seufzer wieder auf seinen Platz.

»Nun?« machte er nach einer Weile, da sie inzwischen das heilige Kleinod sorgfältig wieder in sein Versteck hatte zurückschlüpfen lassen; »an jenem Tage also –«

»Ich will es Ihnen nur gestehen,« flüsterte sie, in sichtbarer Verwirrung, »ich war recht eitel auf diese Ehre, ich dachte, ich wäre nun etwas Besseres, als meine Kameradinnen, und die Mutter Gottes sei verpflichtet, mich zeitlebens in ihren besonderen Schutz zu nehmen. Und so ging ich in meinen hoffartigen Gedanken noch abends spät in die Kirche und kniete vor dem Sankt Annenaltar nieder und wollte recht andächtig beten. Aber es war seltsam, ich konnte mich auf kein Gebet besinnen, immer dachte ich an die Medaille, und lag so wohl eine Stunde lang, bis mir ganz heiß und angst wurde. Und da auf einmal kam mir eine Erleuchtung, was ich für ein armes sündhaftes Ding sei in meinem Stolz, und daß die Mutter Gottes mich nicht als ihr gutes Kind ans Herz nehmen würde, und daß mir's in der Welt ohne ihren Schutz schlimm gehen müsse, und was ich sonst für traurige und schreckhafte Gedanken hatte. Da bat ich in meiner Angst und Not die heilige Anna, mir beizustehen und mich von Sünden zu retten, und da gab sie mir ins Herz, daß ich mich dem Himmel verloben und aller weltlichen Eitelkeit absagen sollte, und das that ich und gelobte mir feierlich, ich wollte, wenn die Schulzeit um sei, als Novize eintreten, und wenn ich die zwei Probejahre durchgemacht hätte, den Schleier nehmen. So ist das gekommen, und nun begreifen Sie wohl, daß nichts in der Welt mich in meinem Gelübde irre machen kann.«

»Marienkind? Was für ein Unsinn!« rief der Medizinalrat ingrimmig aus, als der junge Maler ihm und seinem Freunde, da sie in der Abenddämmerung von ihrem Bergsteige zurückkehrten, sein Gespräch mit dem Annerl berichtet hatte. »Das ist wieder so ein schlauer Köder, womit sie die dummen Goldfischchen fangen, um sie dann in ihre Klosterkirche zu setzen. Hast du je etwas von Marienkindern gehört, Isidor?«

»Sie hat es mir selbst mitgeteilt, daß sie es geworden. Auch ihre Mutter war ein Marienkind,« versetzte der Regierungsrat, indem er sich seufzend über die Augen strich.

» Hinc illae lacrymae!« murrte der alte Herr. »Da haben wir's! Das Aepfelchen ist nicht weit vom Stamm gefallen. Aber die Frau Mama war doch gescheiter, ist nicht ins Kloster gegangen, sondern hat sich mit dem profanen Brautschleier begnügt. Wenn ich noch einmal freien sollte, erkundige ich mich zuerst, ob meine Erkorene nicht etwa auch so eine verhenkerte Schaumünze unterm Kleide trägt. Obwohl – höchstens nimmt mich ja noch deine Frau Schwester, Isidor, und bei der bin ich ja wohl sicher davor, daß sie jemals so ein Ausbund von Tugend und Gottseligkeit gewesen ist, um auch ihrer Nachkommenschaft die Muckerei zu vererben.«

Er war wütend und fuchtelte mit dem Schirm zwischen dem hohen Grase, als ob die Schafgarbendolden Nonnenhäupter wären, an denen er seinen Zorn auslassen könne.

»Uebrigens,« sagte er plötzlich ruhiger, sich zu Franz Florian wendend, »übereilen Sie sich nur ja nicht mit dem Porträt! Sie haben offenbar einen günstigen Einfluß auf das verdrehte Ding, den halsstarrigen Kindskopf. Mir wenigstens hat sie von ihrer Marienkindschaft kein Wörtel verraten, sie fürchtet am Ende von so einem alten Praktikus ausgelacht zu werden, und Ihr junges Gesicht flößt ihr mehr Zutrauen ein. Wer weiß,« fügte er schmunzelnd hinzu, »wohin Sie das arme verirrte Lamm nicht noch bringen. Sie junger Fuchs. Also avanti Bester, und corragio!« – –

Es war wohl nötig, ihm Mut einzusprechen, denn die Beichte der jungen Himmelsbraut hatte seine schüchterne Hoffnung, daß er sie am Ende doch noch für die Welt zurückgewinnen möchte, unsanft niedergeschlagen. Doch war er auch weit davon entfernt, ganz zu verzweifeln, und je öfter er sich all ihre Worte zurückrief, je mehr befestigte er sich in dem Vorsatz, alles aufzubieten, um ihren Entschluß zu erschüttern. Denn er fühlte nur zu lebhaft, daß es ihn das beste Stück von seinem Herzen kosten würde, wenn er auf sie verzichten müßte. Wie unglaublich reizend war sie gewesen in ihrem so drollig pedantischen theologischen Eifer, wie rührend in der Ehrlichkeit, mit der sie ihre vermeintliche schwere Sünde bekannte: den Hochmut, den sie ob ihrer Marienkindschaft in sich aufkeimen gefühlt hatte! Und er selbst – in wie ungünstigem Lichte war er ihr erschienen mit den fatalen Studien, die von der herrlichen Schöpfung unsres Herrgotts nur die armselige Kehrseite zeigten! Wenn sie an einer solchen Welt keinen Geschmack fand, war es ihr wahrlich nicht zu verdenken.

Er schickte sofort ein eiliges Telegramm an seine Wirtin in der Stadt, daß sie ihm umgehend eine gewisse Mappe heraussenden solle, und war glücklich, das schwere, umfangreiche Paket schon am andern Mittag zu erhalten. Als er dann zu der gewohnten Stunde in der Villa erschien, trug er nicht nur das Buch mit dem angefangenen Aquarell, sondern einen großen Haufen andrer Skizzenbücher und sorgfältig aufgezogener Studienblätter unterm Arm.

Diesmal fand er die kleine Familie vollzählig beisammen und bat um die Erlaubnis, einen Teil der Früchte seiner italienischen Lehrjahre vorlegen zu dürfen. Nun breitete er eine Fülle der schönsten farbigen Scenerieen vor den bewundernden Augen der guten Leute aus, Landschaften aus Rom, Neapel und Sizilien, reizende Gartenwinkel, in denen die Kletterrosen sich um Mauerreste alter Aquädukte schlangen, Klösterchen auf Berghalden, zu denen stille Oelwälder sich hinaufzogen, rasch entworfene Straßenbilder mit lustigen Staffagen und hin und wieder ein ausgeführteres Blatt, das einen schönen, dunkeläugigen Frauenkopf zeigte, oder einen schlanken, braunen halbnackten Fischerbuben mit roter, phrygischer Mütze, an seinem Boot lehnend, oder eine in Lumpen gekleidete junge Hexe, auf ihrem Eselchen dahintrottend zwischen zwei mit Orangen gefüllten Körben.

Während des Umblätterns streute er kurze Erläuterungen dazwischen und verweilte hie und da ein wenig länger, wenn sich an ein Lokal oder eine Menschengruppe irgend eine hübsche Erinnerung knüpfte. Es erfüllte ihn mit besonderer Genugthuung, daß auch das Annerl nicht wie sonst mit kaltsinnigen Augen dabei stand, sondern die Bilder sehr aufmerksam betrachtete und den Erläuterungen mit gespannter Teilnahme lauschte. Von Zeit zu Zeit ließ der Medizinalrat, der sich als Kenner dieser herrlichen Dinge enthusiastisch geberdete, zwischen den Lobsprüchen eine sarkastische Aeußerung fallen, wie: daß es doch auch um das Schöne eine recht hübsche Sache gewesen sei und fast schade, daß man das nun alles zum alten Eisen werfen müsse, oder: Herr Franz Florian habe sich wohl nur in der italienischen Konversation vervollkommnen wollen, als er diese Chiaruccias, Nannarellas und Beppinas mit so geduldigem Fleiß abkonterfeit habe.

Die Tante Babette lachte und stimmte in die Scherze ein, der Papa sah etwas verlegen auf seine Tochter, die aber in ihrer Klosterunschuld dergleichen verfängliche Reden nicht verstand, oder wenigstens nicht die Miene danach machte.

Ueber die Besichtigung der großen Studiensammlung war die Zeit zur Sitzung für diesmal verstrichen. Der alte Herr schlug vor, einen gemeinsamen Spaziergang zu machen, und der Maler durfte sich nicht ausschließen. Nur die Tante blieb zu Hause, so daß, als sie auf die Straße hinunterkamen und sich dem Walde zuwandten, die älteren Herren vorangingen und das junge Paar ihnen in angemessener Entfernung folgte.

Das Annerl war sehr nachdenklich, aber sichtbar nicht in trübselige Gedanken vertieft. Ein Widerschein von all dem ungeahnten Schönen, das sie soeben im Bilde geschaut, leuchtete ihm aus den Augen. Franz Florian, der diese günstige Stimmung wohl erkannte, versäumte nicht, sich dieselbe zu nutze zu machen, und setzte seine Erzählungen von den Menschen und Dingen in jenen glücklichen Gegenden des Süden eifrig fort. Einen ganzen Sommer hatte er auf Capri zugebracht, dort an dem Leben der Inselbewohner, ihren Leiden und Freuden teilgenommen. Das schilderte er nun mit den warmen, satten Lokalfarben, für die sein Künstlerblick so empfänglich gewesen war, und als seine andächtige Zuhörerin harmlos fragte, wie er's nur übers Herz habe bringen können, sich von einem so bezaubernden Leben loszureißen und diesseits der Alpen sich mit so viel dürftigerer Umgebung zu begnügen, errötete er und wußte nur zu erwidern, seiner Heimat könne man auf die Länge nicht untreu werden, und auch hier gebe es ja Gott sei Dank noch so Schönes und Bezauberndes, wenn es auch immer ein viel seltneres Glück sei, ihm zu begegnen.

Hierauf verstummte das sinnige Fräulein, da auch ein Marienkind eine feine Witterung dafür zu haben pflegt, wenn ein junger Mann im Begriffe ist, die Unterhaltung auf ein persönliches Gebiet hinüberzulenken. Die Sonne ging blutrot zwischen dunklen Wolkenstreifen unter und warf ihren Feuerschein über das Häuschen auf der Höhe und die Waldwipfel, doch ohne daß weder der Maler noch seine Begleiterin der phantastischen Illumination eine sonderliche Beachtung schenkte. Nur die alten Herren standen still und tauschten ihre Befürchtung aus, daß der Föhn, der über die Wiesen sauste, die Wolkenwand über Nacht herabwälzen und einen feuchten Tag bringen werde.

Das junge Paar hatte Wichtigeres zu bedenken, als Regen oder Sonnenschein.

Der Maler mußte heut' zum Nachtessen bleiben, das sehr munter verlief, da der Medizinalrat und seine Gevatterin beständig auf dem Neckfuß miteinander standen. Auch an sein Patchen richtete der alte Herr dann und wann ein lustiges Wort, ohne sie doch aus ihrer Versonnenheit herauslocken zu können. Ja sie schien heute noch mehr als sonst mit ihrem Innern zu schaffen zu haben, und der Maler, der neben ihr saß, konnte nicht viel mit ihr plaudern, da er in das Kreuzfeuer der Scherze mit hineingezogen wurde.

Annerl hatte ihre Pelerine und das silberne Kreuzchen abgelegt und sah in der leichten häuslichen Bluse, die ihre schlanke, und doch schon voll aufgeblühte Gestalt aufs vorteilhafteste zeigte, noch weit reizender aus. Zumal als sie dann neben dem Pianino stand und der Tante, die eine Violinsonate des Papas begleitete, die Notenblätter umwendete. Hernach sangen die beiden Frauen, die Tante mit einer kleinen, aber gut geschulten Sopranstimme, während aus der jüngeren Kehle ein voller Strom des Wohllauts hervordrang, so daß sie die Führung behielt, obwohl sie die zweite Stimme sang. Sie begannen mit dem lieblichen » O sanctissima«, wie es einem richtigen Marienkinde geziemte, und ließen noch zwei oder drei geistliche Gesänge folgen. Dann aber stimmte die Tante das schöne alte Volkslied von dem Baum im Odenwald an, und darauf das Lied vom Wendelstein, und es war herzerfreuend zu hören, wie auch der junge Klosterzögling sich nicht zu gut hielt, in den Jodler am Schlusse so frisch und fröhlich einzufallen, daß eine Sennerin sie als ein echtes Hochlandskind würde anerkannt haben.

Es war zehn Uhr geworden, als der Maler sein volles Herz durch die dunkle Nacht nach Hause trug. Er fand aber lange noch keinen Schlaf. Die Stimme des lieben Mädchens klang in seinem Herzen nach, er fühlte, daß es um seine Ruhe für immer geschehen sein würde, wenn diese Stimme ihm hinter starren Klostermauern verhallte.

Leider hatte der Föhn seine abendliche Mahnung wahr gemacht: als Franz Florian am Morgen erwachte, goß es in Strömen vom dichtverhangenen Himmel herab. Kein Gedanke daran, das Freilichtporträt auf der Veranda fortzusetzen, und im Innern des Hauses mußte es bei solchem Wetter stichdunkel sein. Gleichwohl wanderte der Maler am Nachmittag nach der Villa. Er hatte einen klugen Einfall gehabt, seinen Tag dennoch nicht zu verlieren: er schlug der Tante Babette vor, eine Zeichnung nach ihr zu machen, was ihr alter Verehrer eifrig befürwortete. Ein leidlich beleuchteter Platz am Fenster ließ sich finden, und die Arbeit ging so rüstig von statten, daß schon nach der ersten Sitzung die gute Frau ihr Bildnis sichtbar geschmeichelt betrachten konnte und die beiden Männer erklärten, es sei nie ein besseres Porträt der Tante zu stande gekommen.

Schon am andern Tage wurde es fertig, und nun durfte sich der Hausherr nicht weigern, da der Regen noch immer anhielt, auch sein Gesicht dem jungen Künstler zur Verfügung zu stellen. Es gelang in gleicher Weise, und das Annerl, das mit einer Handarbeit den Sitzungen beiwohnte, war aufs freudigste überrascht, als der Maler äußerte, er mache sich ein Vergnügen daraus, ihre Angehörigen zu zeichnen, um ihr die Bilder in ihre Klosterzelle mitzugeben.

Ein frohes Lächeln und Erröten, das ihr Gesicht mehr als je verschönte, belohnte ihn für sein Anerbieten. Nur müsse ihm jetzt auch der Pate sitzen, bemerkte das Annerl, wenn es nicht unbescheiden sei, auch das noch ihm zuzumuten.

»Im Gegenteil, Kind!« rief der alte Herr, sich vergnügt die Hände reibend. »Du erweisest unserm jungen Freunde nur einen Dienst, wenn du auch meine alte Visage von ihm zu erhalten wünschest. Bei deinem Bilde ist er seinen heiligsten künstlerischen Gelübden untreu geworden. Nun findet er sich vom Schönen und Ewig-Weiblichen auf Umwegen über die Frau Gevatterin und Papa Isidor wieder zum Charakteristischen zurück, von deinem Stumpfnäschen bis zu meiner Habichtsnase – ein ziemlicher Abfall, aber nach dem neuesten Credo gerade das Richtige.«

In einigen Sitzungen, in denen der Alte durch sein ewiges Rauchen, Plaudern und Hin- und Herfahren dem Maler Not genug machte, wurde auch diese Aufgabe glorreich gelöst. »Ich wußte gar nicht,« bemerkte der Medizinalrat, »daß ich so viel Aehnlichkeit mit Julius Cäsar habe. Hätte mich ein Maler vor Jahren darauf aufmerksam gemacht, so hätte ich's doch am Ende bei meiner Gevatterin durchgesetzt – ‹ich kam, sah und siegte› – und wer weiß, wenn das Annerl großmütig ist und der Tante das Blatt überläßt, ob sie nicht doch noch ein Einsehen bekommt und diesen wohlkonservierten cäsarischen Anbeter erhört.«

»In Bleistift möcht' es hingehen,« versetzte die mutwillige Frau. »Aber wenn Herr Florian seine Farben dazu thut – ich weiß nicht, ob Julius Cäsar auch so graue Haare hatte, als er kam, sah und siegte.«

»Er hatte gar kein Haar mehr und bedeckte sich den kahlen Scheitel mit seinem Lorbeerkranz. Auf den freilich hat hier nur einer ein gutes Recht, unser junger Tizian, will sagen Ostade oder Jan Steen; und« – setzte er halblaut mit einem Seitenblick auf sein Patenkind hinzu – »hoffentlich wiederholt auch er noch eines schönen Tages das stolze Cäsarensprüchlein.« –

Hierzu war nun freilich wenig Aussicht.

Zwar betrug sich das Annerl dem Maler gegenüber so freundlich und mitteilsam, wie es nach jenem ersten Bruch des Eises wohl zu erwarten war, zumal, wenn er sie auf ihre klösterlichen Zustände, ihre Freundinnen und Lehrstunden zu sprechen brachte. Und sie selbst wurde nicht müde, sich von seinen Künstlerfahrten und Abenteuern im Süden erzählen zu lassen. Sobald er aber Miene machte, die Rede wieder auf geistliche Dinge zu lenken, brach sie ab, und ihre schlanken Fingerchen spielten mit dem silbernen Kreuz, als ob sie das geweihte Zeichen zum Schutz gegen irgendwelche Versuchungen eines bösen Geistes bei der Hand haben wolle.

Auch war sie nicht zu bewegen, ihm ein zweites Mal zu sitzen, zu einer Zeichnung von vorn, die er gern für sich selbst gemacht hätte. Er wurde darum freilich seines Gastrechts in der Villa nicht verlustig, da er nun als Maler nichts mehr darin zu thun hatte, vielmehr verging kaum ein Abend, wo er nicht zum Essen dort blieb, und kein Spaziergang oder weiterer Ausflug wurde unternommen, ohne daß man ihn dazu eingeladen hätte. Diese günstigen Gelegenheiten benutzte er eifrig, sich in der guten Meinung des geliebten Mädchens und ihrer Angehörigen zu befestigen, und wurde bald so sehr der erklärte Günstling der Tante Babette, daß ihr alter Verehrer in seiner scherzhaften Weise davon Anlaß nahm, auf den Wankelmut des weiblichen Geschlechtes zu schelten, das »der Jugend lockige Scheitel« so leichtsinnig dem in Ehren ergrauten Haupte der erprobtesten Freunde vorziehe, Ueber solche schalkhafte Reden lächelte das Annerl niemals, wie sie eben auch stets, wenn zufällig das Gespräch über irgend eine Liebesgeschichte sich erging, wie abwesenden Sinnes ins Weite blickte. Doch wurde ihre Stimmung mehr und mehr ungleich, und jeder andern, als einer verlobten Himmelsbraut, hätte ein feiner Beobachter auf ihr ehrliches Gesicht zugesagt, daß irgend ein zärtliches Geheimnis auch in ihrem Herzen gehütet werde. Sie erschien sogar ein paarmal mit rotgeweinten Augen und gab ihrem Vater, der sie sorgenvoll betrachtete, Gelegenheit, mehr als sonst zu seufzen und sich die Augen mit der Hand zu bedecken.

Wurde sie darauf angeredet, so erklärte sie, ihr fehle nicht das Geringste, sie habe sich die Augen nur ein wenig ermüdet bei der seinen Stickerei an der Decke, die sie für den Altar in der Sankt Annakapelle anfertigte.

*

Der Anschluß Medizinalrat aber wurde von Tag zu Tage schlechterer Laune.

Er hatte seine Sommerfrische viel weiter ausgedehnt, als er anfangs im Sinn gehabt. Die dritte Woche ging zu Ende, und er mußte sich mit stillem Ingrimm gestehen, daß er auch mit seinem Latein am Ende war. Und nun zog ihn sein Beruf in die Stadt zurück, und er verließ die Dinge hier draußen genau so, wie er sie gefunden hatte.

Am Abend vor seiner Abreise fand noch ein »Henkersmahl« in der Villa statt, bei dem es ziemlich trübselig und einsilbig zuging. Die Scherze des alten Herrn klangen gezwungen, und er selbst war fast der einzige, der sie belachte. Er gestand seine melancholische Laune endlich zu und schob sie auf die fatale Notwendigkeit, seinem jungen Rivalen nun bei seiner alten Liebe das Feld räumen zu müssen. Die Versicherung der Tante, das »Austräglerstübchen« in ihrem Herzen stehe jederzeit für ihn allein bereit, konnte ihn nicht trösten. Unter dem Vorwande, noch packen zu müssen – die Botanisiertrommel! – erhob er sich früher als sonst vom Tische, und da er am andern Morgen vor Tau und Tage aufbrechen wollte, nahm er gleich heut' abend Abschied, küßte seiner Gevatterin die Hand, das Annerl auf die Stirn, fing eine Mahnrede an das Mädchen an, unterbrach sich plötzlich und eilte hinaus.

Auch Franz Florian verabschiedete sich, nachdem er hatte versprechen müssen, der Villa nicht untreu zu werden, ja nur um so fleißiger zu kommen, da er verpflichtet sei, die Lücke, die der alte Hausfreund in ihren kleinen Kreis gerissen, nach Möglichkeit ausfüllen zu helfen.

Annerls Augen waren feucht geworden, als ihr Pate sie umarmte. Sie nickte leise zu dem Versprechen des Malers, mit einem Blick auf den Vater, um den es ihr offenbar leid that. Dann schloß sich die Thür hinter dem jungen Gast, dem die Tante selbst hinausgeleuchtet hatte.

Draußen aber, auf der Bank unter der alten Linde, saß der Medizinalrat und erhob sich, Florian zuwinkend. »Ich begleite Sie noch ein Streckchen,« sagte er. »Es war drinnen so schwül, der Mond scheint so wacker herunter, auch hätte ich noch etwas mit Ihnen zu reden.«

Eine Weile jedoch schritten sie schweigend nebeneinander her. Dann stand der Alte still und sagte, den jungen Freund scharf anblickend: »Hand aufs Herz, mein Bester – wie weit sind Sie mit dem Mädel?«

Franz Florian wurde dunkelrot.

»Warum fragen Sie mich das, verehrter Herr?« rief er. »Sehen Sie nicht selbst, daß sie so fremd neben mir hergeht, wie am ersten Tage? Vermeidet sie es nicht ängstlich, jemals mit mir allein zu sein, und wenn sie mit mir spricht, etwas zu sagen, was nicht jeder hören könnte? Heute glaube ich aus ihrem Benehmen schließen zu dürfen, daß ich ihr nicht gleichgültig bin, und morgen bin ich Luft für sie. Wie weit ich mit mir bin, das zu erkennen braucht man kein so scharfer Diagnostiker zu sein, wie Sie es sind. Aber bei den ewigen Göttern, ich bin nachgerade so weit, daß ich's nicht weiter kommen lassen darf, ohne darüber zu Grunde zu gehen. Nicht einen Pinselstrich hab' ich gemacht in diesen drei Wochen, außer an ihrem Bilde, meine Kunst ist mir so gleichgültig, ja so zum Ekel geworden, daß ich eben so gern Steine klopfen würde, und selbst der Verkauf meines Bildes auf der Ausstellung hat mich nicht ein bißchen gefreut. Ich habe schon gedacht, ob es nicht das Klügste wäre, ich schlösse mich Ihnen morgen an und beträte mit keinem Fuß mehr diese verhexte Schwelle.«

»Das wäre die größte Dummheit – verzeihen Sie – und eine schmähliche Feigheit obenein!« antwortete der alte Herr nachdrücklich. »Halten Sie mir meine unhöflichen Ausdrücke zu gute, mein Lieber, aber wenn ich sehe, wie der einzige Mensch, von dem noch Rettung zu hoffen ist, die Flinte ins Korn wirft und an Ausreißen denkt –«

»Können Sie im Ernst glauben, daß ich allein im Kampf mit allen Heiligen und himmlischen Heerscharen den Sieg davontragen würde? Ich bin nicht ganz ohne Eitelkeit, aber so viel traue ich mir nimmermehr zu!«

»Sie haben einen Bundesgenossen, der ein ganzes Heer streitbarer Teufel, will sagen Engel, aufwiegt: die Jugend, nicht Ihre allein, auch die des verrückten Kindskopfs, aus dem die Litaneien und Rosenkränze und englischen Grüße doch unmöglich jeden Rest von Natur und Vernunft ausgetrieben haben können. Allerdings wird es noch Künste kosten, aber fortes fortuna juvat, mein junger Ritter! Es ist nicht wahr, daß die Abwesenden immer Unrecht haben. Der Seelenbräutigam wirkt auf so eine verschrobene junge Phantasie gerade, weil er unsichtbar über den Wolken thront. Aber lassen Sie nur noch einige Zeit nicht nach, Ihre besten Seiten hervorzukehren, vor allem ein bißchen sichtbarer zu machen, daß Sie lichterloh brennen und todesunglücklich werden würden, wenn man Sie nicht erhört, – erst wird sich das Mitleiden in dieses siebzehnjährige Herzchen einschleichen, das die Werke der Barmherzigkeit bisher nur aus dem Katechismus kennt, und dann – das Weitere findet sich. Sie waren bisher viel zu bescheiden. Donner und Doria! Ein junges Genie wie Sie, wenn auch ohne Samtrock – und das sollte einer kleinen Betschwester nicht das ewige Meßbuch aus der Hand schmeicheln und Heines Buch der Lieder dafür einschmuggeln? Schämen Sie sich Ihres Kleinmuts und ändern Sie Ihre Taktik! Ich stehe Ihnen für den Erfolg.

»Sie werden mich vielleicht für einen unverschämten, in Sünden ergrauten Kuppler halten, daß ich Ihnen bei Ihrer Verliebtheit noch gute Lehren gebe,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, da sein Begleiter finster schweigend zur Erde sah. »Weiß der Himmel, ich war stets ein so eingefleischter Junggeselle, daß ich vor dem Ehestiften eine heilige Scheu gehabt habe. Hier aber handelt es sich nicht bloß darum, Ihnen zu einer hübschen und vermöglichen Frau zu verhelfen, – zu einer solchen kämen Sie auch ohne mich, und es brauchte nicht gerade das Annerl zu sein, – sondern das unselige Kind vor einem lebenslangen Unglück zu bewahren und ihrem guten Papa den Trost seiner alten Tage nicht zu rauben. Ich darf Ihnen – ganz im Vertrauen – sagen, daß mein alter Freund sich keinen bessern Schwiegersohn wünscht, als Sie, mögen Sie nun schöne oder häßliche Bilder malen, und daß er zu Ihrem Charakter das vollste Zutrauen hat. Sie würden sein einziges Kind auf Händen tragen. So! Dixi et salvavi animam. Und nun handeln Sie als ein kluger und tapferer Mann, als ein zweiter Ritter Sankt Georg, der das unschuldige Marienkind dem Klosterdrachen aus den Zähnen reißt!«

Er schlug ihn auf die Schulter, umarmte ihn dann aber lebhaft und eilte von ihm weg, die Straße nach dem Landhause zurück mit großen Schritten durchmessend.

Auch in dieser Nacht lag Franz Florian lange im Mondschein wach und überdachte jedes Wort, das der alte Gönner ihm ans Herz geredet.

Er stand dann mit dem festen, feierlichen Vorsatz auf: die nächste beste Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen, um aus dem unersprießlichen Trachten und Schmachten herauszukommen.

Und ordentlich, als ob die Fortuna an ihn Verpflichtung, dem Tapfern beizustehen, durch die laute nächtliche Rede des Medizinalrats erinnert worden wäre, führte sie gleich heute das erwünschteste Zusammentreffen der Umstände herbei, um eine Entscheidung herauszufordern.

In müßig grübelnder, dumpfer Aufregung waren dem Maler, wie er es nun schon seit Wochen gewohnt war, auch diese Morgenstunden wieder vergangen. Nicht einmal die Kopie des Porträts, die er heimlich für sich angefangen, rückte auch nur um einen Pinselstrich vor. Den Gedanken, jetzt in der Villa anzuklopfen und das Fräulein um eine Unterredung unter vier Augen zu bitten, verwarf er bald wieder, da sie dann, aus ihrer Arglosigkeit aufgeschreckt, sich mit allen Waffen ihres Gelübdes umgürten würde.

Wenn er etwas erreichen wollte, mußte er eine schwache Stunde abwarten, in der er vielleicht ihr wehrloses Gewissen überrumpeln könnte.

Gegen elf Uhr verließ er sein Zimmer und strich durch den Ort, ohne irgend nach malerischen Motiven sich umzusehen. So kam er auch nach der Kirche, die für eine so bescheidene Gemeinde in den Vorbergen stattlich genug inmitten der Friedhofskreuze sich erhebt. Eine grelle Augustsonne brannte vom stahlblauen Himmel herab, die wilden Kräuter und dürftigen Blumen auf den Gräbern dufteten scharf, und eine tiefe Stille lag über der geweihten Stätte verbreitet.

Ohne etwas andres zu denken, als daß es in dem hohen, durch die offenstehende Thüre wohlgelüfteten Raum kühler und erquicklicher sein müsse, als hier draußen, betrat der Maler die Kirche. Sie war leer, so weit der von Dämmerung umgraute erste Blick erkennen ließ. Durch das geräumige Schiff zog noch ein leises Wölkchen des Weihrauchs, der zur Zehnuhrmesse gedient hatte. Franz Florian atmete ihn nicht mit Wohlbehagen ein. Er war ein leidlicher katholischer Christ, ohne es mit seinem Glauben oder Nichtglauben besonders ernst zu nehmen. Früher hatte er in der Kirche seine Kindereindrücke wieder aufleben lassen, oder seine Künstleraugen am schönen Bauwerk geweidet. Seit dem Begegnen mit dem Mädchen, das ihm die kirchlichen Mächte nicht gönnen wollten, war er in eine feindselige Stimmung gegen alles Priesterliche geraten.

Gleichgültig blickte er zu den hohen Wölbungen hinauf, die ein namenloser Kollege mit großen Fresken, einer Krönung der Jungfrau Maria und einer Menge Apostel- und Patriarchenfiguren in süßlichen Farben ausgemalt hatte. Wie er dann aber seine Augen auf die Reihen der braunen Kirchenstühle herabsinken ließ – war's ein Trug seiner aufgeregten Sinne, oder schöne, leibhaftige Wirklichkeit? In dem vordersten Stuhl kniete, ganz einsam in dem weiten Raum, diejenige, mit der seine Gedanken unablässig beschäftigt waren.

Auf den Zehen stahl er sich den breiten Gang neben den Bänken und Betpulten hindurch, bis er dicht hinter der Knieenden anlangte. Da stand er still, sein Herz klopfte stark, er stützte sich auf einen der Stühle und glitt dann unhörbar auf den Sitz hinter der Beterin nieder, die nichts um sich her wahrzunehmen schien. Der schwache Sonnenschimmer, der durch die bestaubten Fenster hereindrang, spielte über ihrem unbedeckten, braunen Haupt und den beiden Flechten, ihr Strohhut lag neben ihr, zuweilen klappte eines der Kügelchen des Rosenkranzes, den sie vor der Brust zwischen den festgefalteten Händen hielt.

Nun endlich erhob sie sich von den Knieen, stand noch einen Augenblick, als ob es ihr schwer würde, aus überirdischer Entrückung wieder in die Erdenwelt zurückzukehren, griff dann nach ihrem Strohhut und wandte sich, um zu gehen.

Da erblickte sie den Maler, der sich gleichfalls erhoben hatte, und schrak leicht zusammen.

»Herr Florian! – Ich habe Sie nicht kommen hören.«

»Bleiben Sie noch,« sagte er dringend, indem er aus seinem Stuhl heraus und neben sie hintrat. »Thun Sie mir den Gefallen, Fräulein Annerl – es trifft sich so glücklich – ich – hätte Ihnen etwas zu sagen.«

»Warum nicht hier, liebes Fräulein? Was ich Ihnen zu sagen habe, ist so ernst – kein Ort kann zu feierlich dazu sein. Und die Zeit drängt. Ich möchte schwerlich noch Gelegenheit haben, Sie allein zu sprechen. Morgen früh gehe ich in die Stadt zurück.«

Er sah, wie sie plötzlich rot wurde und dann wieder erblaßte

»Morgen schon? Ich hatte gedacht –«

»Es ist besser so, Fräulein Annerl!« – Er hatte sich inzwischen in ihren Stuhl gesetzt und mit einer bittenden Gebärde sie neben sich genötigt. – »Ich kann's hier außen nicht länger aushalten, ich komme zu keiner Arbeit, und mein Nichtsthun – wenn es mir nur eine Erholung und ein Vergnügen wäre, aber ich kann Sie versichern, Fräulein Annerl, die Seelen im Fegefeuer haben keinen Grund, mich zu beneiden.«

Er zitterte am ganzen Leibe und hatte Mühe, seine Worte ohne Stocken hervorzubringen.

Sie saß ganz still und blickte auf das Rosenkränzchen in ihren gefalteten Händen.

»Fräulein Annerl,« fing er nach einer Pause wieder an, »Sie haben mir einmal ein großes Vertrauen geschenkt – entsinnen Sie sich noch? – als Sie mir sagten, wie Sie dazu gekommen sind, sich ins Kloster zu verloben.«

Sie nickte kaum merklich vor sich hin.

»Verzeihen Sie mir nur die Frage: ist es immer noch Ihr fester Entschluß, Ihren Vater zu verlassen und für immer Ihr Leben in Andachtsübungen hinzubringen?«

Wieder nickte sie. »Ein Gelübde,« sagte sie leise, »ist eine heilige Sache. Man versündigt sich schwer, wenn man es nicht hält.«

»Gewiß, Fräulein Annerl. Aber es gibt noch andre heilige Pflichten, und weit heiligere, als ein Wort zu halten, das man gegeben, ohne zu missen oder zu ahnen, ob man es auch geben dürfe. Sie sehen täglich, welchen Kummer Sie den Ihrigen machen. Ihr Herr Vater geht herum, wie wenn er schon jetzt verwaist wäre, die gute Tante lacht nicht mehr, Ihren trefflichen Paten haben Sie gestern so trostlos von Ihnen Abschied nehmen sehen, als wenn er seinen letzten Besuch am Sterbebette einer ihm sehr teuern Person gemacht hätte. Und Sie glauben, ein Gott wohlgefälliges Werk zu thun, wenn Sie all diese trefflichen Menschen so tödlich betrüben, bloß weil Sie einmal in einer unglücklichen Stunde über Ihr junges Leben verfügt haben, ohne zu bedenken, daß es nicht Ihnen allein angehört, daß Sie also gar kein Recht hatten, es dem Himmel zum Opfer zu bringen? Haben Sie diese Uebereilung inzwischen keinen Augenblick bereut?«

Sie drückte ihr Kinn tiefer auf die Brust, der weiße Linnenkragen hob sich zitternd auf und ab. »O doch!« flüsterte sie. »Oft genug! Und wenn es noch in meiner Macht stände –«

»Es steht in Ihrer Macht, Annerl, glauben Sie mir, Sie sind nicht mit einer Kette an Ihr Gelübde gebunden, die nicht zu brechen wäre. Der liebe Gott, wenn Sie ihm die Sache vortragen, recht als ein gutes Kind, das eine Unbesonnenheit begangen hat und sie gern ungeschehen machen möchte, – wenn er der gütige und barmherzige Vater ist, den Sie in ihm lieben, wird er lächeln und sagen: ich gebe dir dein Wort zurück. Du wirst mir besser dienen, wenn du bei den Menschen bleibst, die dich lieben, und sie so glücklich machst, wie du nur kannst. So wird der liebe Gott sprechen – glauben Sie nicht auch? Sind nicht genug ganz einsame und verlassene arme Seelen da, denen es eine Wohlthat ist, sich hinter Klostermauern zusammenzuthun und dort wenigstens einen schwachen Ersatz für die verlorene Familie zu finden? Sie aber, die Sie die beste und liebevollste noch besitzen –«

Sie bewegte sich unruhig, ihr Gesicht hob sich wieder mit einem ängstlichen Ausdruck, sie sah flüchtig in der Kirche umher, als ob sie irgendwoher Hilfe zu erwarten hoffe. »Ich bitte Sie« – hauchte sie fast unhörbar – »quälen Sie mich nicht. Ich habe ja – das alles mir selbst gesagt – o so oft – und bittre Thränen geweint – aber es hilft nichts, ich kann nicht anders, glauben Sie mir, denken Sie darum nicht schlecht von mir – o wenn Sie wüßten –«

»Wenn ich müßte? Was, Fräulein Annerl?«

Sie schwieg ein paar Sekunden lang, er sah, wie es in ihr arbeitete, wobei ihr große Tropfen unter den breiten Augenlidern vorquollen. Und jetzt, mit von Thränen halberstickter Stimme, immer starr vor sich hinblickend: »Ich war erst acht Jahre alt,« sagte sie, »da starb meine Mutter. Sie hat mich sehr lieb gehabt, sie vertraute mir alles, mehr als man sonst einem so jungen Kinde sagt. Und einmal, als ich sie in Thränen fand, und selbst darüber zu weinen anfing, ‹o mein Kind› sagte sie, ‹möge die heilige Jungfrau dir ähnliche Schmerzen ersparen!› Und nun, als müsse sie sich's einmal vom Herzen wälzen, damit es sie nicht erdrücke – da erzählte sie mir, sie habe sich's gelobt, den Schleier zu nehmen, sobald ihre Mutter gestorben, und da sei mein Vater gekommen und habe um sie geworben, und sie habe ihr Gelübde gebrochen! Obwohl aber ihr Mann so gut gegen sie gewesen, daß sie's ihm nicht genug danken könne, sei sie doch nicht ganz glücklich geworden. In keiner Kirche habe sie beten können, ohne daß eine Stimme ihr zugeflüstert habe: ‹du bist eine Meineidige, du gehörst nicht an den geheiligten Ort.› Das habe sie niemand, als nur ihrem Beichtvater anvertraut, der habe ihr eine Buße auferlegt, aber selbst nachdem sie die zehnfach durchgemacht, sei der Stachel nicht aus ihrer Brust gewichen, und dann ermahnte sie mich, nie etwas gegen mein Gewissen zu thun und immer zu denken, wie es sich an ihr gerächt habe. Und bald darauf ist sie gestorben, und noch im Tode hat ihr armes, liebes Gesicht keinen friedlichen Ausdruck gehabt, wie sonst diejenigen, die im Herrn sterben.«

Sie drückte ihr Tüchlein gegen die Augen und atmete dann ein wenig ruhiger, als hätte sie so unwidersprechliche Dinge vorgebracht, daß sie nun sicher sein dürfte, man werde ihr recht geben und sie nicht länger quälen. In dieser Mischung von kindlicher Angst und Gewissenhaftigkeit und Schmerz darüber, daß es nicht anders sein könne, lag ein solcher Reiz, daß ihr Nachbar im Kirchenstuhl sie immer nur anblicken mußte und sogar die Pflicht seiner inneren Mission darüber zu versäumen schien.

Endlich aber, da sie sich anschickte, aufzubrechen, besann er sich, daß sie ihm zu entschlüpfen drohte, und sagte, in bitterem Ton: »Sie haben sich das Beispiel Ihrer Mutter sonderbar zu Herzen genommen, da Sie ein Gelübde thaten, das Sie ebenfalls Ihr Leben lang unglücklich machen muß.«

Sie errötete und schüttelte den Kopf.

»Wir sind nicht auf Erden, um glücklich zu werden. Ich weiß wohl, ich werde noch manchmal manches vermissen. Aber das geht vorüber. Und daß man mich so schwer vermissen würde – nein, Herr Florian, Sie täuschen sich. Mein Vater ist gut versorgt bei der Tante – sie werden mich zuweilen besuchen und sich überzeugen, daß mir nichts fehlt, und daß ich meine Tage in Frieden und Seligkeit verbringe, auch nicht unnütz, denn ich werde selbst Lehrerin werden. Wenn ich nun« – sie stockte ein wenig – »nehmen Sie an, ich hätte mich verheiratet mit einem Mann, der in Amerika zu Hause wäre – müßten meine Leute mich nicht auch von sich lassen, vielleicht auf Nimmerwiedersehen, und ist es nicht noch sehr die Frage, ob ich dann glücklicher würde?«

Er war ihr während dieser eifrigen Rede immer näher gerückt, ohne daß sie es merkte; sein Mund war nur noch einen Zoll weit von ihrem hübschen Ohr entfernt, das in der Aufregung sich leicht gerötet hatte. Nun sagte er mit bebender Stimme dicht an diesem kleinen, hoch aufhorchenden Ohr: »Sie sprechen immer nur von diesen Leuten, Fräulein Annerl. Als ob niemand sonst in der ganzen Welt untröstlich wäre, wenn Sie für immer daraus verschwänden. Wissen Sie, daß Sie bei all Ihrer Gottseligkeit sehr grausam sind, Fräulein? Es kann Ihnen nicht entgangen sein, daß ich – seit dem ersten Tage, wo ich Sie gesehen habe – ich verstehe es schlecht, meine Empfindungen zu verbergen – und seitdem von Tag zu Tage mehr habe ich erkannt, daß Sie allein im stande sind, mich glücklich oder unglücklich zu machen – nein, hören Sie mich aus, es ist vielleicht das einzige Mal, daß ein Mensch Ihnen sein ganzes Herz zu Füßen legt – wenn Sie auch verschmähen, es aufzuheben, ein wenig rühren muß es Sie doch, daß Sie so geliebt werden, daß Sie das Schicksal eines Menschen, der bisher seinen Nacken nie gebeugt hat, in Ihrer Hand haben, und seien Sie ehrlich, Fräulein Annerl: mit der strengen Miene, die Sie gern aufsetzen möchten und die Ihnen nicht gelingt, kann es Ihnen nicht Ernst sein, dazu sind Sie zu gut, und das kann auch kein himmlisches Gebot sein, da uns vorgeschrieben wird, daß wir sogar unsre Feinde lieben sollen. Und obwohl ich noch eben erst mit Ihnen gestritten habe – halten Sie mich für Ihren Feind, Fräulein Annerl?«

Ihre junge Brust wogte schwer, sie hatte die Augen zugedrückt und den Kopf wieder tief gesenkt.

»Wozu sprechen Sie so?« kam es nach einer beklommenen Pause von ihren zitternden Lippen. »Sie wissen ja, es ist alles umsonst! Auch wenn ich – o bitte, bitte – lassen Sie mich fort –-«

Sie machte eine Bewegung, sich zu erheben, er hatte aber den Arm um ihre Schulter geschlagen und ließ sie nicht los. »Annerl,« flüsterte er immer dringender, »ist es möglich? Können Sie meine Leiden mit ansehen und mir nicht den kleinsten Trost spenden? Es ist ja Wahnsinn, zu glauben, was Sie Ihren nächsten Angehörigen nicht zuliebe thun können, würden Sie meinetwegen thun. Aber wenn Sie darauf bestehen, uns alle unglücklich machen zu müssen, – das Eine sagen Sie mir, damit ich nicht ganz verzweifle: wenn kein Gelübde Sie bände, würden Sie dann – würde ich dann hoffen dürfen, daß ich Ihnen nicht ganz gleichgültig bleiben möchte, daß Sie meine innige, schmerzliche Liebe endlich belohnen würden? Annerl, um Gottes willen, sagen Sie nur ein Wort! Ich beschwöre Sie!«

Ihr Kopf war tief auf die Brust gesunken. »Warum fragen Sie?« hauchte sie. »Sie wissen es ja! Ich habe nur darum – so oft verweinte Augen gehabt. Aber machen Sie mir's nicht noch schwerer – es kann ja nicht –«

»Annerl! Einzig geliebtes Herz!« rief er laut ausbrechend. »Du hast mir das Leben wiedergegeben. Nein, nun verzweifle ich nicht, trotz alledem, nun mußt du mein werden, und wenn die elftausend heiligen Jungfrauen dich mir entreißen wollten!«

Er drückte sie stürmisch an sich, seine Lippen näherten sich ihrem über und über erglühenden Gesicht, trotz ihres Sträubens küßte er ihre Schläfe, das geschlossene Auge, die feuchte Wange und wollte eben mit zärtlicher Gewalt die nur schwach und zitternd Widerstrebende sich zuwenden, daß sein Mund den ihren finden konnte, – da klang aus dem dunklen Hintergrunde der Kirche ein heiserer, aber deutlicher Ton, ein kurzes Husten. Erschrocken fuhr das Mädchen in die Höhe, während auch er bestürzt die Arme sinken ließ. Der Ton wiederholte sich. Dann war's wieder stille wie zuvor.

»Jesus Maria!« flüsterte das Annerl, »dort hinten – die blinde Rosel – o mein Gott, was haben wir gethan! Jedes Wort wird sie gehört haben, ich bin furchtbar bestraft – lassen Sie mich – es ist nie wieder gut zu machen –«

»Die blinde Rosel? Was soll sie von uns wissen, da sie uns nicht sehen konnte?«

»Aber hören – o sie hört so fein, sie kennt meine Stimme, ich habe ihr oft Almosen gegeben. Und wenn auch sie uns nicht gehört hat – was haben wir gethan – hier im Gotteshaus! – O, es ist nicht recht von Ihnen gewesen – und ich selbst – ich hätte mich besser hüten sollen – leben Sie wohl! Folgen Sie mir nicht – wir dürfen uns niemals wiedersehen!«

Mit diesen leidenschaftlich hervorgesprudelten Worten hatte sie ihren Hut und das Gebetbüchlein, das ihr entfallen war, ergriffen und war, ohne ihren Mitschuldigen noch eines Blickes zu würdigen, durch das nächste Seitenpförtchen aus der Kirche hinausgeeilt.

Noch eine gute Weile blieb Franz Florian in seinem Kirchenstuhl sitzen, im Nachgenuß des beseligenden Erlebnisses schwelgend. Hier hatte das reizende Wesen gesessen, dieses Holz hatten ihre Kniee berührt, diese Sonnenlichter ihre gesenkte Stirn umspielt – und diese Luft hatte von ihrem Hauch gebebt und das Geständnis vernommen, das um so beglückender war, je widerstrebender es ihrer Brust sich entrungen hatte. War es denn wahr? Er hatte sie im Arm gehalten? Seine Lippen hatten dies reizende Auge berührt, das ihm bisher als ein unerreichbarer Stern vorgeschwebt hatte?

Das Husten aus dem letzten Kirchenstuhl unter der Orgelbühne bestätigte ihm jetzt wieder, daß es kein Traum gewesen, was ihm das Blut in stürmischer Bewegung erhielt. Und daß es bei diesem wundersamen Ereignis nicht bleiben, sondern noch weit schöner und für ewig dauernd werden sollte – dafür wollte er schon sorgen, wenn er auch im Augenblick zu glückverworren war, um sich über das Wie den Kopf zu zerbrechen.

Er entschloß sich endlich auch, die Kirche zu verlassen. Im Vorbeigehen schoß er noch einen grimmigen Blick auf das ahnungslose alte Weibchen, das in sich zusammengebückt in seinem Winkel saß, den zahnlosen Mund beständig bewegend, wobei die Kügelchen des Rosenkranzes ihr nach und nach über die dürren braunen Finger rollten. Da sie keine Bewegung machte, als der männliche Schritt dicht neben ihr über die Steinfliesen hallte, war zu hoffen, daß sie auch von dem leidenschaftlichen Zwiegespräch nichts gehört haben würde. Uebrigens – was lag daran? Mochte doch die ganze Welt wissen, daß er das Annerl liebe und daß sie ihn wieder lieben würde, wenn der liebe Gott nichts dagegen hätte.

Wie es anzufangen wäre, diese höchste Instanz auf seine Seite zu bringen, darüber grübelte der glücklich Liebende ausschließlich nach, während die Stunden an ihm vorüberrollten. Als jedoch der Abend herankam, wo man ihn in der Villa des Regierungsrats auch heute erwartete, war er mit seinen Plänen und Vorsätzen noch nicht viel weiter als am Vormittag.

Zunächst aber sollte er sie ja wiedersehen, jetzt mit andrem Herzen, voll Hoffnung und Vertrauen.

Es war dämmrig geworden, die Sonne ging schon merklich früher unter als in der Zeit der ersten Bekanntschaft, als der Maler die Villa betrat. Ein verändertes Ansehen des Hausflurs fiel ihm auf, die Thüren nach den Zimmern standen offen, drinnen war nicht die gewohnte Ordnung, und die Hausgenossen schienen auf einem Spaziergang abwesend zu sein, ohne auf ihn gewartet zu haben. Ein Schatten fiel auf seine helle Seele, er trat verstimmt in das Zimmer, das gestern noch der alte Herr bewohnt hatte, da fand er das Mädchen, mit Aufräumen beschäftigt. Wohin die Herrschaften gegangen seien, fragte er. Er wolle ihnen entgegengehen.

»Ach, wissen Sie denn noch nicht, Herr Florian,« rief das Mädchen und sah ihn mit einem Blick des Mitleids an, als wisse sie sehr gut, was sie ihm anzuthun im Begriff stand, »der gnädige Herr und Fräulein Annerl und die Frau Tante – vor einer Stunde sind sie weggefahren, nach dem Kloster zurück, und es war eine Aufregung vorher, nicht zu beschreiben. Das Fräulein nämlich, sie war in die Kirche gegangen und blieb lange aus, wir warteten schon mit dem Essen auf sie. Und da kam sie endlich, ganz bleich, wie wenn sie Gespenster gesehen hätte, sie könne keinen Bissen anrühren, sie bäte den Papa nur um eins, daß er gleich nach einem Fuhrwerk schicken möchte, weil sie ins Kloster zurück wolle, heute noch, so geschwind es zu machen wäre. Sie können denken, gnädiger Herr, was der Herr Regierungsrat für einen Schmerz drüber hatten. Die Ferien dauern ja noch vier bis fünf Wochen, und doch, heute schon wollte Fräulein Annerl wieder fort. Aber da half kein Bitten und Beten, sie versteht's immer, ihren Willen durchzusetzen, und obwohl es über dem Einpacken, und bis der Wagen aufgetrieben war, schon sechs Uhr wurde – und sie haben gut vier Stunden zu fahren, und was würde die Frau Oberin und die Schwestern denken, wenn sie bei Nacht und Nebel hereingeschneit kommen – aber da half alles nichts, vor einer Stunde stiegen alle drei in den Wagen, der gnädige Herr, glaub' ich, hat immer noch Hoffnung, unterwegs es ihr auszureden, zumal sie keinen vernünftigen Grund hat angeben können, immer nur: ich muß fort! Ich sterbe, wenn ich länger hier bleibe! – und zuletzt gab sie mir noch dies Billet und sagte: Uebergib es Herrn Florian, wenn er heute kommt. Ich muß ihm doch Adieu sagen, und für die drei Porträts habe ich ihm noch gar nicht ordentlich gedankt! – und hier ist es, Herr Florian. Können Sie sich denken, was dem armen Fräulein plötzlich das schöne Leben hier verleidet hat?«

Das Briefchen, das das redselige Mädchen dem jungen Hausfreund einhändigte, ohne daß er ein Wort auf all ihre Mitteilungen erwiderte, enthielt nur die Worte:

»Leben Sie wohl! Vergessen Sie mich, wie ich versuchen werde, Sie zu vergessen. Ich werde für Sie beten, daß Gott Sie recht glücklich machen möge. Verzeihen Sie das Leid, das ich Ihnen etwa angethan habe, und haben Sie Dank für alles Freundliche.

Annerl.«

Herbst und Winter waren vergangen, ohne daß sich irgend etwas ereignet hätte, was auf das Schicksal des weltentrückten Marienkindes und seiner »tieftrauernd Hinterbliebenen« von Einfluß gewesen wäre.

Gegen Ende März, an einem jener erfreulichen Tage, an denen die Natur aus ihrem Winterschlaf sich aufzurütteln und die schwere Eisdecke von ihren Gliedern abzustreifen beginnt, rollte ein offener Bauernwagen, auf dem sonst Kälber oder Getreidesäcke über Land geschafft zu werden pflegten, die noch sehr unwegsame Straße dahin, die von der Eisenbahnstation zu dem zwei Stunden entfernten Kloster und Erziehungsinstitut der Salesianerinnen führte. Die tiefeingefahrenen Geleise waren mit Schneeschlamm und losem Steingeröll ausgefüllt, so daß es kein sonderliches Vergnügen war, auf dem hölzernen Sitzbänkchen, dem nur eine Pferdedecke zum Polster diente, die Stöße der schwerfälligen, federlosen Achse zu erdulden, davon abgesehen, daß die bleiche Märzsonne die scharfe Luft nur wenig durchwärmte und die Hufe der beiden langsam trottenden Bauernpferde den Schlamm der Straße hoch hinaufspritzten.

Gleichwohl zeigte das Gesicht des jungen Mannes, der neben dem Fuhrmann saß, und in welchem wir auf den ersten Blick unsern wohlbekannten naturalistischen Maler Franz Florian wiederfinden, keine Spur von Mißbehagen an der unerfreulichen Fahrt, höchstens eine wachsende Ungeduld, da Viertelstunde auf Viertelstunde verging, ohne daß sich die tröstliche Versicherung des Bauern: das werden wir gleich haben, das Kloster! erfüllt hätte.

Doch »eine Freude erwarten, ist auch eine Freude«, und die unruhige Spannung in den Zügen des jungen Mannes wich bald wieder einer gewissen träumerischen Glückseligkeit, mit der er das breite Flachland überblickte, die Augen auf das schneeglänzende Gebirge geheftet, das weit dahinten bleiben sollte, wenn er bereits am ersehnten Ziel seiner Wallfahrt angelangt wäre.

Von Zeit zu Zeit warf er einen raschen Blick hinter sich auf eine große flache Kiste, in der allem Anschein nach ein Bild verwahrt lag, um dann mit stiller Genugthuung die Augen wieder auf die braunen, dampfenden Rücken der kleinen Gäule zu richten. Nur selten fiel ein Wort zwischen ihm und seinem rosselenkenden Nachbar, der eine kurze Pfeife zwischen den Zähnen hielt, sie aber längst nicht mehr in Brand erhalten hatte.

Auch der Maler hatte die Cigarette, die er nach dem Besteigen des Fuhrwerks angezündet, halb ausgeraucht weggeworfen und sich fest in den dicken Winterrock eingehüllt, aus dessen hohem Kragen sein hübsches, etwas blaß gewordenes Gesicht mit dem weichen blonden Stutzbart fröstelnd herausschaute.

Endlich aber, als sie eine mit kahlen Bäumchen bestandene Anhöhe erklommen hatten, lag das Ziel vor ihnen. Der ansehnliche Bau mit seinen Turmspitzen und grauen Dächern, zum Teil durch eine hohe Mauer gegen die schneebedeckten Felder und dunklen Fichtenwaldungen abgegrenzt, lag gegen das Herkommen klösterlicher Ansiedelungen in einer flachen Thalmulde, so daß der Blick in das Gebirge sich nur aus den oberen Fenstern und vom Turmkranz der Kirche öffnete. Etwa hundert Schritt, ehe man zu dem geweihten Ort gelangte, stand ein geringes Wirtshaus neben der Straße, und auf der andern Seite, hinter dem Kloster, hoben etliche verstreut liegende Bauernhäuschen ihre schneebedeckten Dächer in die dünne Märzenluft.

Der Bauer dachte nicht anders, als daß er vor dem Wirtshaus halten und ausspannen würde. Sein Fahrgast aber bedeutete ihn mit einer hastigen Gebärde unverzüglich weiterzufahren, bis vor das Hauptthor, das in dem mittleren Gebäude schon von weitem erkennbar war. Es duldete ihn nicht länger auf seinem Sitz, zumal der Radschuh eingelegt werden mußte. Er schwang sich auf die schlüpfrige Straße hinab und ging dem schwerfällig nachschwankenden Wagen voran, dem Klosterthore zu.

Als er dort aber angelangt war und, da er keine Klingel fand, mit seinem Schirmgriff kräftig angepocht hatte, öffnete sich ein Thürchen zur Seite, ein in Schwarz gekleidetes Klosterfrauengesicht erschien an der Schwelle und fragte nach seinem Begehr.

Er wünsche die Frau Aebtissin zu sprechen, da er ein Altarbild für die Klosterkirche abzuliefern habe.

Die Nonne betrachtete einen Augenblick die schwere Kiste auf dem inzwischen herangekommenen Wagen und erklärte dann mit einer leisen, gleichsam eingerosteten Stimme, dies hier sei die »Porte«, durch die würden nur die kleineren Sendungen eingelassen. Wenn er die bonne mère zu sprechen wünsche, müsse er sich an den Eingang auf der andern Seite des Hauses bemühen, da werde er von einer andern Schwester eingelassen werden. Sie sei die »Windenschwester« und könne ihn nicht zu der ehrwürdigen Frau Oberin führen.

Das Pförtchen schloß sich sofort, der Bauer, der hier nicht ortskundig war, ließ die Gäule verdrießlich wieder anziehen und fuhr um die Ecke herum, wo er bald vor einer dritten Thür Halt machte.

Franz Florian zog an der Glocke, alsbald erschien eine dienende Schwester, die sein Anliegen mit gesenkten Augen anhörte, dann einen Blick auf die Kiste warf und verschwand, die Aebtissin zu benachrichtigen. Wenige Minuten vergingen, so erschien sie wieder und äußerte leise, die bonne mère werde sogleich in das Sprechzimmer kommen.

Ein ziemlich breiter Gang, auf den sich mehrere Thüren öffneten, führte ins Innere des Hauses, und an seinem Ende, wo eine Thür offen stand, sah man in die Klosterküche, in der mehrere dienende Schwestern, alle in dem gleichen schwarzen Habit, die Gesichter mit schneeweißen gesteiften Schleierhauben eingerahmt, das silberne Kreuz über der weißen Pelerine, geschäftig hin und her gingen. Dem Fremdling schlug das Herz bei diesem Anblick. Dieser weiße Kragen mit dem Kreuz am blauen Bande – wie lange hatte er ihn nicht wieder gesehen, und doch in wie vielen seiner Träume bei Tag und Nacht hatte er die Hauptrolle gespielt.

Nun trat er in das Sprechzimmer, wo die Schwester Pförtnerin ihn allein ließ.

Er hatte Zeit, sich den Ort, wo er warten mußte, zu betrachten. Es war ein großes, freundliches Gemach, mit einer lichten grünen Farbe ausgemalt, die Fenster mit weißen Vorhängen verschleiert. Ein Kanapee, davor auf einem großen Teppich ein Tisch mit einigen Stühlen, ein paar Pfeilertischchen – die Ausstattung einer etwas kahlen weltlichen »guten Stube«. Nur ein großes Kruzifix an der gegenüberliegenden Wand, zu dessen Füßen ein Betschemel angebracht war gab dem Raum eine ernste geistliche Weihe, die nicht dazu angethan war, das Herzklopfen des Besuchers zu beschwichtigen.

Nun ging die Thür, und herein trat, in dem gleichen Habit, wie die geringeren Klosterfrauen, die »ehrwürdige Mutter«, eine schlanke Gestalt, deren Bewegungen unter dem härenen schwarzen Gewände verrieten, daß sie vornehmem Geschlecht entstammte. Mochte sie nun wirklich, wie das Annerl gesagt hatte, »Schicksale« gehabt haben, ihr zartgefärbtes, noch immer anziehendes Gesicht zeigte keine Spur von Seelenkämpfen, die sie zur Flucht in diesen sturmlosen Hafen getrieben hätten.

Eine der Schwestern war ihr gefolgt und hielt sich bescheiden im Hintergrund, während die Oberin sich dem Maler näherte.

Sie warf einen raschen, nicht unfreundlichen Blick auf den jungen Mann, der sich ehrerbietig verneigte, grüßte ihn mit einem leisen, würdevollen Neigen des Hauptes, das unter der weißen, dichten Schleierhülle nicht erkennen ließ, ob das Haar schon erblichen sei, und fragte nach seinem Namen und Anliegen.

Der sanfte und doch feste Klang ihrer Stimme ermutigte ihn. Er sagte, wer er sei, und daß er gekommen, der Frau Oberin für die Sankt Annenkapelle ein Bild der Heiligen anzubieten, das er gemalt und dem Kloster zum Geschenk machen wolle.

Sie hatte ihn nicht zum Sitzen eingeladen und maß ihn nach dieser Erklärung noch einmal vom Kopf bis zu den Füßen, was ihn wieder in Verwirrung brachte.

»Wie sind Sie dazu gekommen?« fragte sie, »eine solche Schenkung machen zu wollen?«

Im vorigen Jahre sei er zufällig auf einer Studienfahrt hierher gekommen und habe natürlich auch die Kirche besucht. Da sei ihm unter so vielen schönen Gemälden, die sie schmückten, der traurige Zustand jenes Sankt Annenbildes aufgefallen, das vom Alter und dem Kerzendampf völlig geschwärzt, überhaupt als Kunstwerk ganz wertlos sei, und da er, aus persönlichen Gründen, gerade diese Heilige besonders verehre, sei ihm der Gedanke gekommen, an Stelle desselben ein besseres Bild zu stiften. Er habe das mit allem Fleiß den Winter über ausgeführt und stelle nun die Bitte, daß die ehrwürdige Mutter die Güte haben wolle, sein Werk in Augenschein zu nehmen.

In dieser Erklärung war Dichtung und Wahrheit unbefangen gemischt. Im vorigen Sommer, wenige Tage nach der fluchtartigen Rückkehr des Marienkindes ins Kloster, hatte Franz Florian, dem der Verkehr mit dem trauernden Geschwisterpaar in der Villa das Herz beklemmte, sich zu Fuß aufgemacht, den Spuren der Entflohenen zu folgen. Er konnte sich vernünftigermaßen keine Hoffnung machen, bis zu ihr zu dringen, oder gar sie in ihrem Entschlusse zu erschüttern. Doch zog es ihn besinnungslos ihr nach, und erst, nachdem er mehrere Tage die hohen Mauern, die ihn von ihr trennten, umkreist, in der Kirche das Gitter auf dem hohen Oratorium angestarrt hatte, hinter welchem nur die Pelerinen der Zöglinge beim Gottesdienst spukhaft sichtbar wurden, und jeder Versuch, ein Briefchen an sie einzuschmuggeln, an der strengen Regel des Hauses gescheitert war, hatte er sich in dumpfer Entsagung abgewendet und den Heimweg in die Stadt eingeschlagen.

Der bonne mère jedoch schien der fromme Eifer eines so artigen jungen Mannes, der so bescheiden vor ihr stand, nichts Unwahrscheinliches zu haben. Hatte es doch zu allen Zeiten Künstler gegeben, die ihr Talent mit Vorliebe in den Dienst der Kirche und ihrer Heiligen gestellt hatten.

Sie könne freilich in dieser Sache nicht selbst entscheiden, versetzte sie nach einem kurzen Besinnen. Was die Kirche und ihre Ausstattung betreffe, habe der hochwürdige Herr Erzbischof allein das Recht, Aenderungen zu genehmigen. Doch sei sie jedenfalls für das dem Kloster bewiesene Interesse dankbar und werde das Gemälde gern besichtigen.

Die Schwester erhielt nun den Auftrag, dem fremden Herrn bei dem Hereinschaffen seines Bildes behilflich zu sein. Der Maler eilte hinaus und legte selbst Hand an, die Kiste vom Wagen herunterzuheben und den Deckel abzulösen. Nach zehn Minuten war alles gethan, der Fuhrmann belud sich mit dem großen flachen Kasten und trug ihn, von Florian unterstützt, durch den Hausgang in das Sprechzimmer, ihn dort nach der Weisung des Künstlers gegen den Tisch lehnend, so daß vom Fenster aus ein günstiges Licht auf die tiefgefärbte Leinwand fiel.

Da sah man in einer offnen, mit Passionsblumen umrankten Laube eine reizende jugendliche Mädchengestalt sitzen, in einem lichtgranatroten Kleide, das die eben aufgeblühten Formen der Schultern und des Busens faltenlos umschloß. Das Gesicht war der freien Landschaft zugewendet, so daß man zwei starke braune Flechten über den Nacken herabfallen sah, während ein ziemlich umfangreicher massiver Goldschein das Hinterhaupt überglänzte, fast wie ein goldgelber Sommerhut. Sie hatte an einer großen weißen Decke gearbeitet, in die sie mit Goldfäden Kreuze und Lilien zu sticken begonnen, und die nun in ihrem Schoße ruhte, da die junge Heilige träumerisch über die Ranken hinweg in die lachende Gegend blickte, hinüber zu einem jungen Hirten, der im Mittelgrunde eine Schafherde weidete. Sein langer Schäferstab endigte nicht in die übliche Schaufel, sondern hatte durch ein Querhölzchen die Form eines Kreuzstabes erhalten. Hinter ihm, der auf einem niederen Hügel stand, sah man Türme und Mauerzinnen eines umfangreichen Gebäudes, das auf den ersten Blick als das Urbild des gegenwärtigen Klosters zu erkennen war, obwohl es durch leichte Zuthaten ein altertümliches Gepräge erhalten hatte.

So sehr indessen der Künstler sich bemüht hatte, sein Werk zur Aufstellung über einem Altar geeignet zu machen, war es doch von jedem kränklichen nazarenischen Anhauch frei geblieben. Wenn man die Gloriole um den schönen Mädchenkopf wegwischte, konnte das Bild als eine liebliche Idylle angesehen werden, deren malerischer Reiz verriet, daß der Künstler in der Akademie zu Venedig wochenlang mit offnen Augen herumgegangen war.

Auch die ehrwürdige Mutter schien von dem unschuldigen Zauber des Bildes völlig gefesselt zu sein. Nachdem sie es jedoch eine geraume Zeit stillschweigend betrachtet hatte, wandte sie sich zu dem jungen Donator und sagte: »So wenig Kennerin ich bin, so möchte ich doch glauben, daß Sie da etwas sehr Schönes und Anmutiges geschaffen haben, und es würde mir Freude machen, dies Bild öfter betrachten zu können. Nur zweifle ich dennoch, ob Se. Hochwürden, der Herr Erzbischof, die gewünschte Zustimmung zur Aufstellung in der Sankt Annenkapelle geben werde.«

Der Maler sah sie bestürzt an. Sie kam seiner Frage zuvor, indem sie milde lächelnd fortfuhr: »Wir sind gewohnt, die Mutter der allerheiligsten Jungfrau Maria als eine ältere Frau dargestellt zu sehen. So erscheint sie auch auf dem alten nachgedunkelten Altarbild unsrer Annenkapelle. Ich fürchte, Ihre Auffassung wird Bedenken erregen, da sie mit geheiligten Traditionen im Widerspruch steht. Wie sind Sie nur dazu gekommen, da Sie das frühere Bild doch gesehen hatten?«

Eine tiefe Glut schoß dem Maler in die Wangen.

»Ehrwürdige Mutter,« stammelte er, »in der That, ich glaubte, mir auch einmal eine Abweichung von der Regel erlauben zu dürfen, wenn das Bild nur sonst so ausfiele, daß es eine andächtige Stimmung hervorrufen könnte. Die heilige Anna ist doch auch einmal jung gewesen, und ist so darzustellen, gleichsam in die Ahnung versunken, daß sie einmal gewürdigt werden sollte, die Großmutter Gottes zu werden –«

Ein scharfes Hüsteln der bonne mère ließ ihn seinen Satz nicht vollenden. Aus den gewöhnlich so milden Augen traf ihn ein strafender Blick, er fühlte bestürzt, daß er sich eines unpassenden Ausdrucks bedient hatte.

»Verzeihung!« stotterte er, »ich wollte sagen, wie man ja auch die heilige Jungfrau vielfach ganz jugendlich, nicht immer als mater dolorosa, abgebildet sieht, so möchte es erlaubt sein, auch ihre Mutter einmal in dem Alter darzustellen, in welchem die Zöglinge dieses Hauses sich gewiß mehr zu ihr würden hingezogen fühlen, als zu einem Gesicht mit allen Spuren des hohen Alters.«

Er schwieg und fragte sich, ob er etwa wieder etwas Ungehöriges gesagt habe. Denn er sah jetzt, wie die Schwester, die bisher kein Wort geäußert und das Bild genau ins Auge gefaßt hatte, sich der Oberin näherte und ihr etwas zuraunte, was die bonne mère offenbar betroffen machte.

Sie trat plötzlich noch einen Schritt näher an das Bild heran und betrachtete das Profil der Heiligen mit scharfer Prüfung. Dann wandte sie sich rasch zu dem Maler um und fragte mit ganz verändertem Ton: »Das Bild scheint das Porträt einer lebenden jungen Dame zu sein. Wer hat Ihnen dazu gesessen?«

Obwohl er im Grunde auf diese Frage hätte gefaßt sein müssen, traf sie ihn doch so jählings, daß er Mühe hatte, seiner Verwirrung Herr zu werden.

»Ich kann versichern, ehrwürdige Mutter,« sagte er, zu Boden blickend, »daß mir niemand zu dem Bilde gesessen hat. Leugnen will ich nicht, daß die Züge eines Fräuleins aus einem befreundeten Hause mir dabei vorgeschwebt haben mögen, um so mehr, als die junge Dame in diesem Institut erzogen worden ist. Indessen sah ich darin nichts Unschickliches. Man weiß, daß selbst Raffael zu seinen Madonnenköpfen sich lebender Modelle bediente, die nicht immer dieser Ehre so würdig waren, wie ein Zögling Ihres Hauses doch jedenfalls sein möchte.«

Darauf trat eine Pause ein in dem frommen Kreise, es blieb unklar, ob der Verlegenheit oder der Entrüstung.

»Gleichviel,« sagte endlich die Oberin; »Sie werden begreifen, daß nun überhaupt nicht mehr die Rede davon sein kann, Ihrem Bilde einen Platz in unsrer Kirche zu geben. Die Aehnlichkeit ist so auffallend, daß ich mich wundre, sie nicht sofort selbst entdeckt zu haben. Zu einem Andachtsbilde – das werden Sie zugeben – ist daher Ihr Porträt durchaus ungeeignet, und ich kann daher nur die Mühe bedauern, die Sie darauf verwendet haben.«

Sie neigte kühl und würdevoll das Haupt gegen den bestürzten jungen Mann und wandte sich zum Gehen.

»Darf ich nur noch um ein einziges Wort bitten?« sagte der Verabschiedete rasch, indem er ihr näher trat. »Ich kann der Wahrheit gemäß beteuern, daß ich in reinster Absicht hierher gekommen bin. Wenn ich einen Fehler gemacht habe, so bedaure ich es tief, aber ich hoffe, die bonne mère wird ihn meiner Unerfahrenheit zu gute halten. Ich bin, wie gesagt, mit der Familie des Fräuleins befreundet, die nächstens ihr Noviziat hier beginnen will. Wäre es mir nicht gestattet, sie nur auf einen Augenblick zu sehen? Ich hätte ihr Grüße ihres Vaters und ihrer Tante zu überbringen.«

Die bonne mère sah ihm mit eisiger Kälte ins Gesicht.

»Haben Sie einen Brief des Vaters an mich, der Sie beglaubigt und mich ermächtigt, diese Zusammenkunft zu gestatten?«

Einen solchen Brief hatte er nun allerdings nicht mitgebracht. Er hatte überhaupt von seinem Vorhaben keiner Seele etwas verraten, das Bild in tiefster Heimlichkeit gemalt und thörichterweise sich auf sein gutes Glück verlassen.

Nun aber hatte er die Stirn, auf die verfängliche Frage rasch zu erwidern: »Ich wußte nicht, daß es einer besondern Empfehlung bedürfe, um einen Ihrer Zöglinge in Gegenwart einer der Schwestern hinter dem Gitter des Sprechzimmers zu begrüßen. Auch der Herr Regierungsrat hatte gedacht, da ich mich durch das Bild bei Ihnen einführte –«

»Ich bedaure, diese Einführung nicht als genügend ansehen zu können,« sagte die Oberin. »Es ist strenges Hausgesetz, unsern Zöglingen nur dann den Besuch eines Fremden, der nicht zur nächsten Familie gehört, zu gestatten, wenn es auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern geschieht. Und somit – leben Sie wohl!«

Sie neigte noch einmal ihr feines, jetzt alabasterkühles Gesicht dem jungen Manne zu und verließ das Sprechzimmer.

Eine Viertelstunde später rollte das Bauernwägelchen mit der wieder fest zugenagelten Bilderkiste beladen, vom Portal des Klosters hinweg die Straße nach dem Wirtshaus hinan, wo diesmal endlich gerastet werden sollte, denn den erschöpften Tieren konnte nicht zugemutet werden, den weiten Weg ungestärkt und unausgeruht sofort wieder anzutreten, was dem Maler freilich das liebste gewesen wäre. Nach so gründlichem Scheitern seines lange gepflegten und gehätschelten Planes war ihm der Anblick dieser starren Mauern, hinter denen sein verlornes Lebensglück sich verbarg, schier unerträglich. Zu hoffen, daß er es diesmal besser treffen möchte, als im vorigen Jahr, etwa bei einem Ausgang aus der Kirche ihr begegnen – auch dahin ging sie ja nicht ohne Bewachung – oder durch die »Windenschwester« ihr eine heimliche Botschaft zukommen lassen könnte, wäre Wahnsinn gewesen. Die Wachsamkeit ihrer Hüterinnen mußte ohne Zweifel durch seine Nähe noch gesteigert werden, und ganz nutzlos mit der Stirn gegen die Mauer anzurennen, fühlte er keine Neigung.

Nachdem er in der unseligsten Verfassung die zwei Stunden ausgeharrt hatte, bis die Pferde gefüttert waren, hüllte er sich in seinen Mantel, vergrub das Gesicht tief in den Kragen und verließ die verhaßte Stätte, wo ein junges Leben, das ihm so teuer war, einem lebendigen Begräbnis sich geweiht hatte.

*

So schien denn alles für immer aus und zu Ende zu sein, das Marienkind durch nichts in seinem eigenwilligen Entschluß irre zu machen, die Ihrigen auf den schwachen Trost angewiesen, daß es so der Wille des Himmels sein möchte, Franz Florian auf den Leichtsinn seiner jungen Jahre, der gescheiterte Herzenshoffnungen in der Regel nicht allzuschwer zu verwinden pflegt.

Vorläufig jedoch wollten alle Heilungsversuche, die er nach der beschämenden Abweisung von der Klosterschwelle in einem Gefühl gekränkten Stolzes anstellte, nicht anschlagen. Er versank mehr und mehr in Trübsinn, unternahm Bild auf Bild, ohne nur eins zu Ende zu führen, und ergab sich den Sommer über einem unfruchtbaren Herumstudieren an allerhand technischen Problemen, da er sich nicht eingestehen mochte, daß er auch an seiner künstlerischen Theorie irre geworden war, und doch zum Einschlagen einer selbständigen Richtung nicht Gemütsruhe und Freudigkeit genug verspürte.

Das abgelehnte Heiligenbild hatte er gleich nach seiner Rückkehr dem Regierungsrat geschickt, mit einem paar Zeilen, worin er ihn bat, dieses Gemälde, zu welchem die Erinnerung an rasch entschwundene schöne Tage ihn angeregt habe, zum Dank für so viel Freundliches, das er in seinem Hause genossen, von ihm anzunehmen.

Dem Medizinalrat, dem er im Winter zuweilen begegnet war, wich er aus, verschloß sich gegen seine früheren Kameraden und strich wochenlang in den Bergen oder den kleineren Nachbarstädten umher, mit sich selbst darüber zerfallen, daß er nicht Manns genug war, eine so völlig hoffnungslose Leidenschaft wie ein wucherndes Unkraut aus seinem Busen auszujäten.

So kehrte er eines Vormittags wieder einmal in die Stadt zurück, da ihm auch sonst nirgend wohl geworden war. Seine Bekanntschaft mit dem Mädchen, das er zu vergessen sich bemühte, jährte sich gerade. Alles, was ihm in Wald und Feld begegnete, hatte ihn an jene verhängnisvolle Zeit erinnert, bis er endlich beschloß, sich in die heiße Stadt zu flüchten, wo er vor solchen Gespenstern sicher war und sein schwermütiges Wesen treiben konnte, ohne sich den Menschen gegenüber Zwang anzuthun.

Denn die meisten seiner Bekannten unter den Kunstgenossen waren auf Studienfahrten ins Freie gezogen, wo sie ihrem Götzen Pleinair nach Herzenslust opfern konnten, und überdies hatte er schon im vorigen Herbst seine Werkstätte in einem weitentlegenen Hause am rechten Isarufer aufgeschlagen, wohin nur selten ein unwillkommener Besuch sich verirrte.

Als er jetzt aber vom Bahnhof weg durch die Kaufingerstraße seiner Wohnung zu fuhr und zu der Peterskirche gelangte, neben deren Portal der große eherne Erzengel seiner Aufgabe, den Drachen zu besiegen, sich so schwungvoll entledigt, sah er einen offenen Doktorwagen bei der Kirchenthür vorfahren und einen langen, ganz schwarzgekleideten Herrn heraussteigen, in welchem er schon von weitem seinen alten Gönner, den Medizinalrat, erkannte. Er zog den Hut tiefer in die Stirn, um unbemerkt vorbeizukommen, der Alte jedoch hatte auch ihn bereits erkannt und machte dem Droschkenkutscher mit der schwarzbehandschuhten Rechten ein Zeichen, anzuhalten.

Franz Florian konnte nicht umhin, auszusteigen und sich dem alten Arzt zu nähern. Er sah jetzt, daß er einen Flor um den Hut und Aermel trug, und daß sein hageres, sonst so frischgefarbtes Gesicht sehr blaß, die Augen hinter den großen Brillengläsern gerötet waren.

»Da sind Sie ja, junger Freund,« rief der alte Herr, indem er ein Schnupftuch hervorzog, um sich geräuschvoll zu schnäuzen, wobei ihm die Augen wieder überflossen. »Der verdammte Katarrh! Sie scheinen aber ganz frisch und munter zu sein; natürlich haben Sie draußen gute Tage gehabt, während wir in dem mörderischen Staubnest – aber Sie wissen ja noch gar nicht – ich dachte mir's gleich, als kein Kranz von Ihnen kam und Sie auch bei der Beerdigung fehlten –«

»Beerdigung? Um Gottes willen, wer ist denn – doch nicht am Ende – das Fräulein?«

»Was Fräulein!« brummte der Alte und schüttelte heftig den Kopf. »Sie denken natürlich nur an die eine, das Annerl. Wenn's nur die wäre! der Querkopf, das herzlose Rabenkind, das seinem Vater solchen Kummer machen konnte! Weiß Gott, ich hielt große Stücke auf sie, ich war ordentlich eitel auf mein Patchen, aber ob sie jetzt da draußen in ihrer lebendigen Nonnengruft steckt, oder unterm Rasen liegt – die Wahl thäte mir wahrhaftig weh. Nein, eine viel Bessere haben wir begraben müssen, ich darf wohl sagen, die Beste ihres Geschlechts, und denken zu müssen, daß sie noch frisch und gesund herumgehen könnte, wenn sie nicht eine so große Dummheit gemacht hätte, es ist, um sich die Haare auszuraufen!«

»Tante Babette?« entfuhr es dem erschrockenen Maler.

Der Alte antwortete nicht sogleich. Er lüftete den Hut, sich die Stirn abzutrocknen, hauptsächlich aber, um sich verstohlen die Augen zu wischen. Die Fältchen um seinen Mund und die Flügel der großen Cäsarennase zitterten von mühsam zurückgedrängtem Weinen.

»Ja,« sagte er endlich, als er sich ein wenig gefaßt hatte, »Tante Babette, keine Geringere, das beste Weib, das seit fünfundvierzig Jahren die Sonne beschienen hat. Sie haben sie nicht so lange gekannt, wie ich, aber glauben Sie mir, so was kommt nicht wieder, so viel gesunder Menschenverstand, Bravheit, Humor und gerade so viel Eitelkeit, wie eine richtige Evastochter braucht, um vor Gott und Menschen wohlgefällig zu sein. Können Sie mir eine andre aufweisen, die in ihrem Leben bloß zwei Dummheiten begangen hätte? So viel muß man der Gescheitesten zugestehen, wenn sie kein Engel sein soll. Ihre erste war, daß sie den Apotheker heiratete. Hätte sie die nicht begangen, sondern statt dessen mich genommen, so wäre ihr auch die zweite Dummheit nicht passiert, und wir hätten sie nicht in der Blüte ihrer Jahre begraben müssen. Sie hat nämlich, als sie krank wurde, darauf bestanden, daß ich nicht gerufen würde. Sie wissen, das verrückte Vorurteil ihres Seligen gegen unsre Zunft, und vielleicht war's nicht einmal so aus der Luft gegriffen. In diesem Falle aber – ich darf's nicht denken, ohne mir eine Gelbsucht auf den Hals zu ziehen – ich, der ich ihre Konstitution so gut kannte und eine Krankheit, an der keine blutarme Nähterin stirbt, wenn bei Zeiten dazugethan wird – und ihr Simpel von Bruder, der sich von ihr einschüchtern läßt und erst nach mir schickt, als nichts mehr zu retten war – und nun sind wir so niederträchtig um sie gekommen, und da drinnen wird eben der Trauergottesdienst für sie gehalten, was ihr so wenig hilft, wie uns. Denn wenn der liebe Gott sich auf seinen Vorteil versteht, wird er dies vortreffliche Wesen in seinem Paradiese ganz dicht neben sich sitzen lassen, um sich an ihrer guten Laune zu ergötzen, ohne daß erst die Pfaffen ihre Seele aus dem Fegefeuer loszubeten brauchen, und was die Komödie uns für Trost gewähren soll – aber ich will heute nicht lästern. Ich gehe hinein, obwohl ich kaum mehr weiß, wie eine Kirche von innen aussieht. Meinem alten Freunde bin ich's schuldig. Kommen Sie nicht mit? Sie haben freilich keine Trauertoilette gemacht, aber da Sie erst vom Lande zurückkehren – Ihre Reisetasche können Sie in meinen Wagen legen und die Droschke wegschicken. Ich fahre Sie nachher in meine Wohnung.«

Der Maler machte keine Einwendungen. Auch ihn hatte die Kunde von dem plötzlichen Hinscheiden der heitern, lebensfrohen Frau, die seine warme Gönnerin gewesen war, heftig erschüttert, wenn er auch die Ansicht ihres alten Verehrers nicht teilte, daß der Tod ihrer jungen Nichte minder beklagenswert gewesen wäre. In die Kirche zog ihn überdies die heimlich aufblitzende Hoffnung, bei diesem traurigen Anlaß eben dies entschwundene Marienkind wieder zu sehen.

Und seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen.

Denn kaum hatte er sich neben dem alten Herrn in einem der Kirchenstühle niedergelassen, wo schon eine ansehnliche Trauergesellschaft dem feierlichen Amt beiwohnte, während um den schwarzbehangenen Katafalk in der Mitte die Kerzen auf den hohen silbernen Kandelabern mit rötlichzuckenden Flammen leuchteten, so erblickte er in dem vordersten Stuhl auf der Seite, wo die Frauen saßen, eine tief verschleierte knieende Gestalt, von deren Antlitz er durch den schwarzen Kreppüberhang kaum ein blasses Streifchen erkennen konnte. Sein Herz aber sagte ihm und sein scharfes Auge bestätigte es, daß so nur eine einzige auf den Knieen liegen und den Kopf auf die gefalteten Hände gedrückt halten könne. Nun verwandte er, während die Geistlichkeit mit allem Pomp eines Totenamts erster Klasse ihre lateinischen Bräuche vollzog, den Katafalk umschritt und Gesang und Weihrauchduft die hohen Kirchenräume erfüllte, keinen Blick von der Trauernden, ganz in ihre Andacht Versunkenen, und in so aufrichtiger Rührung er selbst sich zu der wehmütigen Feier gesellt hatte, – als sie beendet war und alles sich erhob, erfüllte ihn nur der eine Gedanke, daß er die Verlorengeglaubte nun endlich wiedersehen sollte.

Der Medizinalrat hatte während der ganzen Zeit still in sich hineingeweint. Nun faßte er sich gewaltsam, wartete seinen Freund ab, der, die Tochter am Arm führend, sich jetzt dem Ausgang näherte, und drückte ihm und dem Annerl die Hand. Franz Florian hielt sich hinter ihm. Er glaubte zu bemerken, daß die Augen des dichtverschleierten Fräuleins ihm einen raschen, scheuen Blick zusandten. Erst draußen, als das Paar in die schwarze Kutsche stieg, konnte er sich dem Papa vorstellen und sich entschuldigen, daß er bisher kein Zeichen des Beileids gegeben. Der Regierungsrat, der beständig die Augen zu trocknen hatte, nickte nur zerstreut zu seinen Worten; das Annerl stieg, ohne ihn weiter zu begrüßen, in den Wagen, der gleich darauf fortrollte.

Am Tage darauf verfehlte Franz Florian nicht, zur feierlichen Kondolenz im Trauerhause sich einzufinden.

Es war eines der alten Münchener Bürgerhäuser im Mittelpunkte der Stadt, mit vier oder fünf Fenstern Front und drei Stockwerken, deren untere vermietet waren, da der Hauseigentümer, Annerls Vater, ziemlich ungesellig lebte und eine größere Wohnung, als die fünf bis sechs Zimmer des obersten Geschosses, nicht nötig hatte. Der Maler hatte die Geschwister einigemal besucht, doch in den lichtlosen, mit altmodischen Möbeln ausgestatteten Räumen, deren bester Schmuck nun für immer fehlen sollte, sich nie behaglich gefühlt. Heute war der sogenannte »Salon« noch ungemütlicher als sonst, obwohl das schöne Bild der heiligen Anna den Ehrenplatz über dem Sofa erhalten hatte. Wohl ein Dutzend der näheren Bekannten der Verstorbenen hatte auf den Plüschsesseln um den Sofatisch Platz genommen, mit den Beileidsmienen und einförmigen Trostsprüchen, die bei solchen Anlässen hergebracht sind. Die Tochter des Hauses war, als der Maler hereintrat, nicht im Zimmer. Erst eine Weile später glitt sie wie ein wandelndes Cypressenbäumchen geräuschlos herein und pflanzte sich auf ein »Hockerl«, das neben der Thüre stand. Sie sprach keine Silbe und blickte, die schönen breiten Augenlider gesenkt, beharrlich auf den Teppich. Ihre Ordenstracht hatte sie schon des blauen Bandes wegen abgelegt und war in ein Trauerkleidchen gehüllt, das ihre reizende Figur und die Elfenbeinfarbe ihres Gesichts aufs vorteilhafteste hervorhob. Sie weinte nicht, ließ sich auch von gutmütig zudringlichen Fragen, ob und wann sie ihr Noviziat antreten werde, nicht aus ihrer starren Versunkenheit herauslocken, und nur als Franz Florian wieder gehen wollte und ihr zum Abschied schüchtern die Hand hinhielt, legte sie die ihre ruhig hinein und würdigte ihn eines kurzen, nicht unfreundlichen Blicks, wobei sie leicht errötete.

Ihr Vater hatte beim Abschiede leise zu ihm gesagt: Wir hoffen, Sie nun doch zuweilen zu sehen. Ich bin ja nun ganz verwaist. Worauf er nur mit einer tiefen Verbeugung erwidert hatte.

Er hatte sich's aber gesagt sein lassen, und so klar er darüber war, daß er sein heimliches Leiden nur verschlimmern würde, wenn er den Anblick des geliebten Marienkindes nicht streng vermiede, konnte er es doch nicht über sich gewinnen, sie in der Stadt zu wissen und nicht die drei finsteren Stiegen zu ihrer Wohnung hinaufzusteigen.

Zuerst machte er von der freundlichen Aufforderung des Papas nur jeden dritten Tag Gebrauch, in der zweiten Woche hatte er sich schon wieder daran gewöhnt, wie draußen in der Villa, allabendlich zum Nachtessen sich einzustellen. Doch kam er damit nicht weit. Zwischen ihm und dem Annerl wurde mit keinem Wort jener Kirchenscene gedacht, die das aufgeschreckte fromme Gemüt zu so plötzlicher Flucht angetrieben hatte. Da die gute Tante nun fehlte, die das Hauswesen geführt hatte, war es nur natürlich, daß die Tochter des Hauses für sie eintrat – bis zu ihrer neuen Entfernung nach Ablauf des Urlaubs, den sie von der bonne mère erhalten hatte. Franz Florian, während er nur selten das Wort an sie richtete, mit dem Vater Schach spielte oder einen bescheidenen Tarok, so oft der Medizinalrat sich dazu einfand, beobachtete das jugendliche Hausfräulein scharf, und es schien ihm, als gebe ihr das stille Schalten und Walten nun erst vollends einen Reiz, dem kein wohlgeschaffenes Herz widerstehen könne. Auch sah es nicht so aus, als übe sie die Pflichten der Häuslichkeit und Gastfreundschaft nur widerwillig. Wie sie so geräuschlos ging und kam, den Tisch besorgte, den Wein in das Kühlgefäß stellte und den Blumen in der Vase frisches Wasser aus dem feinen Spritzchen zukommen ließ, konnte niemand ahnen, daß er eine kleine Himmelsbraut vor sich habe, die alle weltlichen Sorgen nur für Hindernisse auf dem Wege zum ewigen Heil ansähe.

Darüber waren vier Wochen vergangen. Der Medizinalrat hatte anfangs sein Patenkind auffallend kühl behandelt, nach und nach aber schien er ganz vergessen zu haben, daß ihre Gegenwart nur ein geliehenes Gut sei, und scherzte mit ihr in alter zärtlicher Vertraulichkeit. Der junge Hausfreund hatte sich ebenfalls zu einer sorglosen Freude an diesem Zusammenleben verleiten lassen und zunächst sich aller Zukunftsgedanken entschlagen.

Um so bestürzter war er, als er eines Abends in den Salon des dritten Stocks eintrat und der Hausherr ihm allein entgegenkam, mit der Nachricht, das Annerl sei heute früh abgereist, ins Kloster zurück, da ihr Urlaub abgelaufen sei. Sie lasse ihn grüßen und für die schönen Rosen danken, die er ihr zufällig gerade eine Stunde vor ihrer Abfahrt geschickt hatte.

»Sie hat sich nicht deutlich ausgesprochen,« setzte der betrübte Mann seufzend hinzu, »aber ich glaube doch, wir werden sie wiedersehen. Sie weiß jetzt, wie schwer ich das Leben ohne sie ertragen würde, und sie ist ein gutes Kind, was sie mir auch für Schmerzen bereitet hat. Ueber Gewissenspflichten kann man nicht hinaus, und soll es auch nicht. Aber vielleicht gibt der Herr mir die Gnade, daß ich sie doch noch behalte, wär's auch nur, bis ich selbst die Augen schließe, worauf sie wohl nicht allzu lange zu warten haben wird.«

Diese Nachricht wirkte so niederschmetternd auf den Liebenden, daß er kein Wort hervorbringen konnte und sich wieder empfahl, ohne zu bedenken, daß dem einsamen Manne gerade jetzt ein freundliches Gespräch und eine Partie Schach eine Wohlthat gewesen wäre.

Die schüchterne Hoffnung, es könne nun doch noch alles gut werden, da der junge Klosterzögling sich in das häusliche Leben ohne Widerstreben zurückzufinden schien, war auf einen Schlag für immer vernichtet. Ueber die heiligsten natürlichen Pflichten hinweg hatte das bethörte Seelchen sich wieder zu seinen Heiligen geflüchtet und den selbstgeschmiedeten Stachelgürtel des übereilten Gelübdes sich von neuem umgelegt. Nein, es wäre eine Thorheit gewesen, noch länger dem Traum eines Glückes nachzuhängen, das ihn nur äffte, ihm ein Weilchen zulächelte, um, wenn er die Hand danach ausstreckte, mit einem kühl andächtigen Knix zu entschwinden.

Er haßte jetzt sogar die so leidenschaftlich Ersehnte und überhäufte sie in seinen Selbstgesprächen mit ehrenrührigen Worten der Geringschätzung, unter denen »Bild ohne Gnade«, Muckerin und » sancta simplicitas« die gelindesten waren. Nein, er liebte sie nicht mehr. Wie gut, daß er noch beizeiten von dieser Narrheit geheilt worden war. Wer wird eine Raffaelische Madonna heiraten wollen? Die mag in ihrem Goldrahmen bleiben und sich anbeten lassen. Mit einem Heiligenschein geht man nicht in die Küche oder auf den Markt und läßt sich höchstens herab, dem heiligen Lukas Modell zu sitzen, natürlich nur in vollem Ornat.

So höhnte er in sich hinein. Auch machte er Anstalten, sein früheres Leben wieder zu beginnen, um das immer noch leise fortglimmende Gefühl vollends zu ersticken. Mit einigen seiner alten Kameraden, die er im »Verein« wieder aufsuchte, saß er die Nächte durch, trinkend und kartenspielend, und lud auch eine schöne, nicht eben klösterlich gesinnte Person, die früher ihre Netze nach ihm ausgeworfen hatte, in sein Atelier, um sie zu malen, in einem sehr unheiligen Kostüm. Doch schon bei der ersten Sitzung, da sie sich gar zu unbefangen benahm, übermannte ihn so ein unüberwindlicher Widerwille, daß er Kopfweh vorschützte und das höchlich erstaunte und enttäuschte Geschöpf mit einem reichen Geschenk wieder fortschickte.

So trieb er es vierzehn Tage lang und ließ sich bald auch bei seinen Freunden nicht mehr blicken. Unfähig zur Arbeit, an all seinen künstlerischen Idealen irre geworden, verließ er gewöhnlich schon früh sein Atelier, und durchstrich ziellos in dumpfem Mißbehagen die Straßen, seine Schwäche vor sich selbst damit beschönigend, daß man auch arbeite, wenn man nur mit den Augen studiere.

Da geschah es auf einem dieser Streifzüge, daß er in die Nähe der alten Pinakothek gelangte, die er lange nicht mehr betreten hatte. Ein uneingestandenes Heimweh nach seinen früher so hochverehrten alten Meistern lenkte seine Schritte die Straße hinunter längs der eisernen Umfriedung dem Eingange zu, vor dem zu dieser frühen Stunde nur wenige Fiaker standen, die fremde Besucher hierhergebracht hatten. Eben wollte er in das Thor eintreten, da sah er eine schlanke weibliche Gestalt in schwarzer Kleidung von der andern Seite herankommen. Er blieb mit einem plötzlichen Herzklopfen stehen und sah ihr scharf entgegen, die mit langsamen Schritten, den Kopf auf die Brust gesenkt, ahnungslos sich ihm näherte. Nun war sie bis auf drei Schritte herangekommen und hob das Gesicht.

»Fräulein Annerl!« »Herr Florian!«

Also war sie wieder in der Stadt. Und er wußte es nicht, sie hatte ihm keine Nachricht von ihrer Rückkehr zukommen lassen. Freilich, so war es ja das Beste, Menschenfreundlichste. Sie würde ja doch über kurz oder lang ihrer »inneren Stimme« wieder folgen und zu ihrem Noviziat zurückkehren. Wozu also den Faden noch einmal anknüpfen, der doch aufs neue zerrissen werden mußte.

Sie sah aber wunderhübsch aus in ihrem schlichten schwarzen Straßenkostüm, nicht mehr von dem dichten Kreppschleier über und über verhangen, wie von einer schwarzen Taucherglocke. Und auch die Augen in dem reizenden Gesicht glänzten ihm so freudig wie lange nicht unter dem Trauerhütchen entgegen.

Noch aber gelang es ihm, seine Brust gegen diesen Zauber zu feien. Es wäre allzu demütigend gewesen, wenn er sich noch einmal hätte bethören lassen.

»Ich wußte nicht, gnädiges Fräulein, daß Sie wieder in der Stadt sind,« sagte er, mit eisiger Höflichkeit den Hut ziehend. »Wahrscheinlich nur ein kurzer Besuch. Es wird Ihren Herrn Vater recht freuen. Bitte, mich ihm zu empfehlen. Leben Sie wohl!«

Er verbeugte sich linkisch, als wolle er seinen Weg fortsetzen, kam aber doch nicht von der Stelle. Denn er hörte sie mit etwas unsicherer Stimme erwidern: »Ich werde es dem Papa ausrichten. Er hat Sie sehr vermißt. Warum haben Sie sich nicht mehr bei ihm sehen lassen?«

»Ich – o, ich war – ich hatte dringende Arbeiten. Ich werde mir aber gewiß nächstens einmal die Ehre geben, – wenn er wieder allein ist und nach einer Ansprache verlangt.«

Sie wurde dunkelrot. Um so besser, dachte er, wenn sie sich getroffen fühlt. Sie soll nur wissen, daß ich nicht ihretwegen ins Haus komme.

Er blieb aber doch stehen. Es reizte ihn, sich an ihrer Betroffenheit zu weiden. So unweltlich sie gesinnt war, ihre natürliche Eitelkeit mußte sich doch verletzt fühlen, daß sie ihm so gleichgültig geworden war.

Sie sagte aber nach einer Pause: »Wenn Sie erst zu Papa kommen wollen, nachdem ich wieder fortgegangen, würde er sehr lange auf Sie warten müssen, ja überhaupt Sie nie wiedersehen. Ich werde nämlich bei ihm bleiben, für immer. Er braucht mich jetzt, es macht es ihm niemand im Hause so zu Dank, seit die Tante gestorben ist – es ist ja auch das Natürlichste.«

Er sah sie erstaunt an.

Also hatte sie es endlich begriffen, was ihre natürlichste Pflicht war. Doch freilich, der Vater mochte auch ihr, wie ihm bei seinem letzten Besuch, gesagt haben, daß er nicht lange mehr leben werde. So handelte sich's nur darum, ihn zu Tode zu pflegen, um nach einer kurzen Wartezeit, wenn sie dem guten Manne die Augen zugedrückt und einem Trauergottesdienst erster Klasse für seine arme Seele beigewohnt, endlich ungehindert ihrer Marienkindschaft wieder froh zu werden und der bösen Welt endgültig Valet zu geben.

Das kühlte seine schon wieder aufflackernde Liebe und Hoffnung hurtig ab.

»Ich freue mich für Ihren Herrn Vater, gnädiges Fräulein,« sagte er mit bitterer Schärfe, »daß Sie ihm seine letzten Lebenstage verschönern wollen. Hernach ist ja auch noch Zeit genug, sich dem Himmel zu weihen. Uebrigens wird der Herr Regierungsrat mich dann nicht entbehren, da er sich in der besten Gesellschaft befindet, und – auch Sie will ich nicht länger aufhalten. Sie werden zu Hause erwartet werden.«

Wieder machte er eine Bewegung, als ob er sie verlassen wolle. Als er aber noch einen letzten raschen Blick auf sie warf, verwandelte sich sein mühsamer Trotz in Bestürzung und Mitgefühl. Denn er sah, wie aus ihren Augen, die in traurigem Staunen auf ihn gerichtet waren, große Tropfen hervorquollen.

»Was ist Ihnen, Fräulein Annerl?« sagte er hastig. »Habe ich Ihnen wehgethan? Verzeihen Sie mir, das wollte ich wahrhaftig nicht – ich dachte nicht – ich meinte –«

Sie fuhr mit der Hand rasch über die Augen.

»Es ist so einfältig –« stammelte sie; »was werden Sie von mir denken – aber seit dem Tod der Tante greift mich alles so an. Es ist schon vorbei. Ich wollte eine Freundin besuchen, und sie konnte mich nicht annehmen, da ihre Mutter in der Nacht krank geworden war, – das hat mir alles Traurige wieder in Erinnerung gebracht, was in der letzten Zeit – aber ich will Sie nicht länger aufhalten – Sie wollten in die Pinakothek –«

»Allerdings, Fräulein Annerl. Ich wollte einmal wieder etwas Schönes sehen. Auch ich habe die letzte Zeit nicht eben heiter verbracht, und die große Kunst – für unsereinen wenigstens ist's immer eine Herzstärkung. Auch Sie sehen gern schöne Bilder, Fräulein Annerl. Hätten Sie vielleicht Lust, da Sie doch bei Ihrer Freundin ein Stündchen geblieben wären, statt dessen – es ist wohl schon lange her, daß Sie nicht in der Pinakothek waren?«

Sie bedachte sich einen Augenblick. »Ich war überhaupt nur erst einmal darin, als achtjähriges Kind, mit dem Papa. Ich weiß noch, daß ich bald wie betäubt war von all dem Schauen und auf einem Sofa einschlief. Sie werden mich deshalb verachten, aber so ein dummes Kind. – Seitdem war ich ja im Institut und in den Ferien am Land. Und jetzt, wo ich gern hineinginge – der Papa hat immer so wenig Lust, irgend etwas zu unternehmen.«

»Wenn ich Ihnen zumuten dürfte, sich meiner Führung anzuvertrauen? Ich sehe, Sie nehmen Anstand, mit einem fremden Herrn – aber wahrhaftig, Sie können es dreist wagen, niemand wird darüber schwätzen. Denn die Münchner, zumal die hiesigen Frauen und Mädchen, gehen nur in den Kunstverein, niemals in eine der Theken, und meine Bekannten, die Herren Maler, meiden diese Räume ebenfalls. Sie würden fürchten, sich an den alten Meistern den neuesten Geschmack zu verderben.«

Sie warf einen Blick über die Straßen und nach dem Portal des hohen Gebäudes, zu dem nur ein paar lange Engländer hinaufstiegen. »Wenn Sie meinen,« sagte sie dann mit einem lieblichen Erröten, – »ich glaube, mein Papa würde nichts dagegen haben, und einen so guten Führer fände ich nicht so bald wieder. Nur – ich bin schrecklich unwissend – Sie müssen Nachsicht mit mir haben.«

»O,« sagte er, »Sie haben auch in meiner Mappe gleich das herausgefunden, was einigen Wert hatte. Ich erwarte gar nicht, schon eine perfekte Kunstkennerin in Ihnen zu finden. Jedenfalls wird es mich sehr freuen – –«

Er verneigte sich höflich, um sie vorangehen zu lassen, und sie trat nun ohne Bedenken ein. Ein lang entbehrtes Gefühl des Glücks überkam ihn, als er die Treppe zwischen den großen steinernen Löwen an ihrer Seite hinaufstieg, ganz wie vor Jahr und Tag, als er neben ihr die schönen Spaziergänge durch die Wiesen und Wälder machen durfte und noch nichts zwischen sie getreten war. Was ihn jetzt von ihr trennte – warum sollte er sich's nicht auf eine kurze Stunde aus dem Sinn schlagen, sich der Wonne hingeben, das liebe Gesicht neben sich zu sehen und die Stimme zu hören, die ihm das Herz rascher schlagen machte?

Er hütete sich auch wohl, diesen Waffenstillstand seiner Qualen zu brechen, indem er irgend etwas sagte, was die Gedanken auf ihr persönliches Verhältnis hätte zurücklenken können. Sobald er den ersten Saal betreten hatte, befliß er sich eifrig, den Cicerone zu machen und sie zu den Bildern hinzuführen, die ihr, wie er meinte, vornehmlich gefallen mußten. Doch erkannte er bald, daß sie durchaus nicht geneigt war, die religiösen Gegenstände mir Vorliebe zu betrachten. An etlichen altertümlichen Altartafeln aus der Kölnischen Schule sah sie ohne sonderliches Interesse vorüber, die Dürerschen Apostel freilich fesselten sie lange, doch in dem Rubenssaal waren es nicht vorzugsweise die Darstellungen des Jüngsten Gerichts und die Madonna, bei denen sie sich aufhielt, sondern das zärtliche Doppelbildnis des Malers mit seiner jungen, schöngeputzten Frau in der Jelängerjelieberlaube, das Bild seiner zweiten Gattin mit dem nackten Bübchen auf dem Schoß, das Familienbild im Garten, ja auch vor der Löwenjagd stand sie wohl fünf Minuten lang, und selbst an jener gewaltsamen Entführung der beiden hilflosen schönen Frauen durch die zu Pferde herangestürmten Brüder sah sie nicht mit prüdem Augenblinzeln vorbei, was ihrem Führer in seinem innersten Malerherzen wohlthat.

Dann aber – sie hatten noch nicht die Hälfte der Säle durchwandert – erklärte sie plötzlich, daß sie nichts mehr sehen könne, so viel auf einmal könne sie nicht genießen; er würde sonst am Ende erleben, daß sie ihm unter den Händen einschliefe, wie jenes erste Mal vor zehn Jahren.

Ob sie nicht einen Augenblick sich ausruhen wolle, fragte er, indem er sie, ohne ihre Antwort abzuwarten, zu einem Kanapee in der Mitte des Saales führte. Sie habe noch einen weiten Weg bis nach Hause, und allerdings sehe man ihr an, daß der ungewohnte Kunstgenuß sie angegriffen habe.

Sie ließ sich auf das Polster sinken und schloß ein paar Sekunden die Augen, während er in schicklicher Entfernung neben ihr Platz nahm. Er mußte sie unverwandt betrachten. Eine schmerzliche Empfindung stieg in ihm auf, da er dachte, daß eine solche Stunde nie wiederkehren würde.

Plötzlich schlug sie die Augen wieder auf, sah aber an ihm vorüber auf das Bild der nackten Knäbchen, die ein Frucht- und Blumengewinde zwischen sich zu tragen bemüht sind.

»Sagen Sie mir aufrichtig,« flüsterte sie: »nicht wahr, Sie haben sehr schlecht von mir gedacht?«

»Ich?« versetzte er betroffen. »Wie können Sie denken, Fräulein –«

»Nein, ich weiß es ganz gewiß, ich merkte es Ihnen an, als wir uns vorhin begegneten. Sie haben es mir übel genommen, daß ich den Papa noch einmal verlassen habe und nach dem Kloster zurückgekehrt bin. Gestehen Sie es ehrlich: war es nicht so? Aber ich sagte ihm ja, ich würde wiederkommen. Ich mußte nur zuerst – ich bin ja dort erzogen worden – können Sie mir's verdenken, daß ich mich darüber beruhigen wollte, was meine geistlichen Oberen dazu sagen würden?«

Sie sah ihn mit unschuldiger Zutraulichkeit an. Er fühlte aber wieder seinen alten Schmerz und Trotz in sich aufsteigen und erwiderte, finster zu Boden blickend: »Und wenn man dort nicht damit einverstanden gewesen wäre? Entschuldigen Sie mich, wenn ich Ihre Anschauung nicht teilen kann. In meinen Augen haben Sie vor Gott und Menschen keinen höheren ‹Oberen› als Ihren Vater.«

»O,« sagte sie eifrig und stockte doch wieder – »was den Vater betrifft, das wußte ich ja, was ich dem schuldig war, und daß es meine Pflicht ist, ihm eine gute, treue Tochter zu sein, jetzt, da er mich nicht entbehren kann. Aber Sie wissen ja – mein Gelübde – Sie werden begreifen –«

»Lassen Sie uns abbrechen,« unterbrach er sie mit harter Stimme. »Wir werden uns darüber nicht verständigen. Und wozu das hoffnungslose Gespräch fortsetzen, das uns beiden peinlich ist? Was bin ich Ihnen, daß Ihnen daran liegen könnte, mich zu überzeugen? Ueberdies – wir werden uns ja auch, solange Sie noch bei Ihrem Vater sind, nicht mehr begegnen. Ich bin entschlossen, sehr bald von hier wegzugehen, nach Italien, Spanien, irgendwohin. Die Luft hier bekommt mir nicht. Haben Sie Dank für die freundliche Stunde, die Sie mir noch gegönnt haben, und lassen Sie uns –«

Er konnte den Satz nicht beenden. Im Begriff, aufzustehen, sah er, daß ihr die Augen voll Thränen standen. Da neigte er sich zu ihr und ergriff ihre Hand.

»Mein teures Fräulein,« sagte er mit zitternder Stimme, »es schneidet mir ins Herz, daß ich Sie schon wieder betrüben oder verletzen mußte. Aber glauben Sie mir, auch mir ist schlimm dabei zu Mute. Was Sie mir sind – Sie wissen es ja – seit jenem Begegnen in der Kirche draußen. Aber da ich sehe, daß Sie gebunden sind, durch eine Fessel, die Sie für heilig halten, – daß es eine Pflicht der Selbsterhaltung gibt, werden Sie nicht leugnen – und diese Pflicht treibt mich in die Welt hinaus, so gering die Hoffnung ist, daß ich das Marienkind draußen vergessen werde.«

»Nein,« sagte sie plötzlich mit großem Nachdruck und so lauter Stimme, daß die wenigen Fremden in diesem Saal sich verwundert nach der Sprecherin umblickten, – »Sie haben mich gar nicht verstanden. Aber wenn Sie fortreisen wollen – und wirklich draußen in der schönen Welt noch manchmal an mich denken möchten – sollen Sie's wenigstens mit keiner falschen Vorstellung von mir thun. Ich bin ins Kloster gereist, um von meinem Beichtvater und der bonne mère zu hören, ob ich auf jeden Fall mein Gelübde halten müßte, – auch wenn ich erkannt hätte, daß es eine Uebereilung war, auch wenn ich keinen Beruf zum klösterlichen Leben in mir fühlte.«

Er starrte sie mit leidenschaftlich gespannten Augen an. »Ist es wahr, Fräulein Annerl? Sie fühlen, daß Sie –«

»Ja wohl,« nickte sie und ein schüchternes Lächeln glänzte über ihr erglühendes Gesicht, »daß ich nicht zur Klosterfrau tauge, das hab' ich deutlich empfunden – schon damals – draußen – da aber dacht' ich, es sei nur eine Versuchung. Jetzt aber –«

»Jetzt? Und was haben Ihre geistlichen Berater Ihnen geantwortet?«

»Daß es Gott und der heiligen Jungfrau kein wohlgefälliges Opfer wäre, wenn ich ihnen ein Herz darbrächte, das ihnen nicht ganz und gar gehörte und in vollem Glauben sei, das bessere Teil zu erwählen. Und bonne mère hat mich umarmt und geküßt und gesagt: Wir erziehen ja unsre lieben Zöglinge meist für die Welt, und nur, wenn eine aus freiem Willen ihr entsagt und wir hoffen dürfen, sie werde es nie bereuen, nimmt sie die Gnadenmutter hier im Kloster für das ganze Leben unter ihre schirmenden Flügel. Du aber, meine Tochter, warst noch unmündig an Geist, als du dich ihr verlobt hast. Ziehe hin, und der Herr segne dich, und wohin er dich auch führen möge, wenn dein Herz rein bleibt und du die Kindespflichten gegen deinen Vater treu erfüllst, wirst du auch in der Welt der Gnade der heiligen Jungfrau nicht verlustig gehen und immer würdig sein, zu den Marienkindern gezählt zu werden.›

»Ich war so beschämt, wie bonne mère so gütig zu mir sprach, ich fiel vor ihr nieder und drückte das Gesicht gegen ihre Kniee und stammelte: ich müsse ihr noch etwas beichten, damit sie mich ganz kennen lernte und mich nicht für besser hielte, als ich sei. Und dann sagte ich ihr, es sei nicht allein meines Vaters wegen, ich hätte – o mein Gott, was werden Sie denken? Lassen Sie mich fort, ich habe schon zu viel gesagt. Reisen Sie glücklich und – vergessen Sie mich!«

Sie war von dem Sitz aufgefahren und hatte den Schleier von ihrem Hütchen vors Gesicht gezogen. Er haschte aber ihre Hand und hielt sie fest.

»Was haben Sie der bonne mère noch gebeichtet, Fräulein Annerl? Ich muß es wissen!«

Kaum hörbar kam's unter dem Schleier hervor: »Das, was draußen in der Kirche zwischen uns vorging – Sie wissen ja – was ich für eine so schwere Sünde hielt und doch – selbst meinem Beichtvater immer verschwiegen hatte –«

»O Annerl,« flüsterte er, »haben Sie das wirklich gethan? Warum hat Ihnen das Ihr Gewissen beschwert? Wenn's eine Sünde war, so war's ja meine Sünde!«

Aber sie schüttelte hastig den Kopf. »Nein, nein, auch meine war's! Ich habe Ihnen ja nicht darum böse sein können – ich war ja sogar glücklich, als Sie mir sagten – obwohl ich das Gelübde gethan hatte – und das gestand ich der bonne mère, und sie –«

»Nun, und sie?«

»Sie hat mich auch davon losgesprochen. Sie hat zwar geseufzt und erst ein wenig geschwiegen. Sie wissen, sie hat selbst Schicksale gehabt. Und dann sagte sie, man dürfe es mit so einem Weltkind nicht zu streng nehmen, zumal einem Künstler, die alle leichtes Blut hätten. Aber den meinen – so sagte sie, ich wurde ganz rot – den kenne sie ja, sie habe ihn sich genau angesehen, als er das Bild für die Kirche gebracht habe – o Herr Florian, das hätten Sie nicht thun sollen! Ich bin so furchtbar von meinen Freundinnen damit geneckt worden, es sprach sich natürlich gleich im ganzen Kloster herum – aber bonne mère meinte dennoch, Sie seien ein guter, redlicher Mensch und meinten es ehrlich mit mir – und so sollte ich mir's nicht zur Sünde anrechnen, daß ich Sie – aber das ist ja alles eine Thorheit – Sie reisen; verzeihen Sie, daß ich Ihnen das alles vorgeschwatzt habe, was Sie gar nichts angeht.«

Er stand auf in tiefster Bewegung. Ihre Hand hielt er immer noch fest und sah sich im Saal um. Kein Mensch war im Augenblick mehr darin zu erblicken, als ein altes Fräulein in der andern Ecke, das an einer armseligen Kopie herumpinselte. Da zog er ihre Hand rasch an seine Lippen und sagte dann: »Wenn die bonne mèreihren Segen gegeben hat, obwohl ich ein leichtsinniges Künstlerblut bin und eines Marienkindes unwürdig, so werd' ich wohl besser thun, meine Reise zu verschieben, bis ich sie zu zweien antreten kann – oder zu dreien, denn den armen Papa dürfen wir doch nicht allein lassen. O Annerl, mir ist so selig zu Mut, daß ich laut aufjauchzen könnte. Aber wenn meine Kollegin da drüben auch die blinde Rosel wäre und taub dazu – ich will zeigen, daß auch unsereins ehrbar und vernünftig sein kann. Gib mir deinen Arm, mein süßer Schatz! Jetzt haben wir das Auge der Welt nicht mehr zu scheuen. Willst du?«

Sie lehnte einen Augenblick ihren Kopf wie schwindelnd an seine Schulter; aus den schönen breiten Lidern flossen große Tropfen. »Ich will, was du willst!« hauchte sie. »Verzeih, was ich dir zu leide gethan habe. Ich will gewiß –«

»Still!« sagte er. »Wir müssen eilig zum Vater gehen. Komm!«

Indem er sie aber hinausführte, blieb er noch einmal vor dem Bilde der jungen Frau Rubens stehen und sagte: »Ich werde schwerlich je ein so gutes Bild von dir machen, wie der große Meister von seiner Helena Formans. Aber es soll doch noch in späten Tagen bewundert werden und der Glückliche beneidet, der es malen durfte.«

Im zweiten Sommer nach diesen Ereignissen sah man auf der Ausstellung im Münchener Glaspalast ein ziemlich umfangreiches Bild, das aus Italien geschickt worden war, aber von einem deutschen Maler, und zwar einem Münchener herrührte.

Man sah es freilich nur mit einiger Mühe, an besonders hellen Tagen und wenn man es eigens aufgesucht hatte. Denn obwohl es eine treffliche Arbeit war und einen nicht mehr ganz unbekannten Namen trug, war es dennoch von der Aufnahmejury beinahe abgelehnt und endlich nur mit geringer Majorität, aus persönlicher Rücksicht für einen alten Genossen, zugelassen, aber in eine dunkle Ecke eines der Außenkabinette verwiesen worden. Wer es hier entdeckte, ohne ein leidenschaftlicher Verehrer der neuesten Richtung zu sein, hatte seine Freude daran.

Es stellte eine junge Frau dar, die im Schatten eines knorrig zerklüfteten Olivenbaumes auf einem roten Plaid sich niedergelassen hatte und vielleicht von dem mittäglichen Gesang der Cikaden eingelullt in Schlaf gesunken war. Sie lag in ungezwungenster, doch überaus reizvoller Haltung hintenübergelehnt, das schöne junge Haupt in die verschlungenen Hände geschmiegt, während zwei dicke braune Zöpfe hinter dem weißen Nacken sich vordrängten. Gekleidet war sie wie eine nordische Städterin, die Züge ihres Gesichts und das matte Elfenbeinweiß ihres Inkarnats ließen jedoch eher eine Südländerin vermuten.

Neben ihr in einem flachen Korbe hatte ein Säugling geschlummert. Ein Streichen der leichten Blouse, das sich über der schwellenden Brust der Schläferin verschoben hatte, schien anzudeuten, daß Mutter und Kind, nachdem das Geschäft der Stillung abgethan, sich der Ruhe hingegeben hatten. Das Bübchen aber war früher erwacht, hatte die leicht übergeworfenen Windeln abgestreift und sich auf den kleinen nackten Knieen an den Rand des Wiegenkorbes hingearbeitet, über den es nun mit großen glänzenden Augen nach der Mutter hinstarrte, mit dem Ausdruck eines drolligen Erstaunens, als ob hier die verkehrte Welt sei, da das Kind wache und die Mutter schlafe.

Im Hintergrund, wo die Sonne über silbergraue Felsen und tiefgrüne Lorbeer- und Myrtenbüsche schien, sah man das Meer in seiner purpurnen Bläue glänzen, darüber einen wolkenlosen Himmel ausgespannt von so durchsichtigem Azur, wie er eben nur über den glücklichen Inseln des Südens sich ausbreitet.

Zwei Kunstjünger hatten wohl fünf Minuten lang vor dem Bilde gestanden und ihren Eindruck nur mit Achselzucken und mißgelaunten Naturlauten zu erkennen gegeben.

»Schade um den Florian!« sagte endlich der eine »Talent hat er gehabt – auch hier noch – wie sich die Luft gegen das Laub absetzt – und da die grauen Töne in den Steinen – aber was hat man davon? Der frische Zug fehlt, keine Spur von Schmutz auf der ganzen Leinwand, als ob der in irgend einem Capreser Winkel fehlte!«

»Und diese breiten Augenlider der Frau – der reine Raffael – von da zu Paul Thumann ist's nicht mehr weit auf der abschüssigen Bahn des Akademischen. Es soll übrigens ein Porträt seiner Frau sein.«

»Wirklich? Na, im Leben mag so was hingehen; in der Kunst ist's nur eine manierierte Phrase. Seit er wieder nach Italien gegangen ist, habe ich ihn aufgegeben. Aber schade ist's doch um ihn. Seine ersten Bilder – seine Skizzen – du entsinnst dich des Mädels auf dem Brunnentrog, das er uns 'mal im Verein zeigte – da war noch Schneid' drin. Uebrigens wenn er glücklich und versorgt ist – mit einem reichen Schwiegerpapa braucht man ja nicht an der Zukunft der Kunst mitzuarbeiten.«

Und sie gingen lachend und kopfschüttelnd vorüber.

Ende.

 

 


 << zurück weiter >>