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Humoristische Meister-Novellen
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Rudolf Greinz

Die besondere Güte Gottes

Es ist etwas Köstliches um den Schlaf. Und manchmal schlafen nicht nur die Menschen und die Tiere, es schlafen auch ganze Ortschaften und größere und kleinere Baulichkeiten.

An schwülen Hochsommertagen kommt es vor, daß kleine Städte einen vollkommen ausgestorbenen Eindruck machen. Da ist es in den Gassen und Gäßchen so lautlos still, daß der feste Schritt eines Mannes erschreckend und beinahe unheimlich wirkt. Tier und Mensch gibt sich der Mittagsruhe hin, und sogar die Hunde, die als getreue Hüter der öffentlichen Sicherheit unter den Haustüren sitzen, rekeln sich träge im prallen Sonnenschein. Alle viere strecken sie von sich und knurren leise und mürrisch, wenn von ferne ein Geräusch zu ihnen dringt, das sie unliebsam aus ihrer behaglichen Ruhe stört.

Auch die kleine Bergstadt erlebte heute so einen echten, richtigen Hochsommerschlaf. Wenigstens erschien es dem älteren Herrn so, der mit festen, resoluten Schritten sich über den Hauptplatz begab und die Richtung gegen das obere Ende der Stadt einschlug.

Seine Tritte hallten laut in der feierlichen Stille des Mittags. Heiß senkte die Sonne ihre Strahlen auf das gewürfelte Steinpflaster. Die weißen Mauern an den beiden Häuserreihen blendeten grell im Sonnenlicht; und träumend, öde und leer starrten die zum Teil verhängten Fenster und die Schaufenster der Läden in die dunstige, lichtblaue Atmosphäre des schwülen Tages.

Am Hauptplatz plätscherte ein großer, viereckig von einer Steinmauer eingefaßter Brunnen. Der heilige Florian stand schirmend unter dem Brunnendach und wehrte den künstlichen, gelblich-roten Holzflammen, die ein Haus zu verzehren drohten.

Ein großer, üppiger Kastanienbaum überschattete das Brunnenidyll. Doch selbst das Rieseln des Wasserstrahles aus dem Rohr klang nicht so frisch und fröhlich wie gewöhnlich, sondern hatte einen müden, einschläfernden Ton.

Vom Turm der großen Pfarrkirche schlug die Uhr langsam und gezogen. Sie kündete die zweite Mittagsstunde an. Kein Mensch war in den Straßen zu erblicken. Unwillkürlich beschleunigte der Wanderer seine Schritte, was das erhöhte Mißtrauen eines schläfrigen Hundes erregte, der ihm mürrisch nachgrunte.

Am äußersten Ende der Stadt, in etwas erhöhter Lage und eingeschattet von alten Edelkastanienbaumen lag das Kloster der hochwürdigen Patres Kapuziner. In schlichter Bescheidenheit lag es da. Einfach und anspruchslos. Ein niederer, langgestreckter Bau mit anstoßender Kirche.

Der kleine Turm reckte neugierig seine Spitze in die Luft, fast erschreckt ob der eigenen Kühnheit. Graue, hohe Mauern dehnten sich weit hinaus und zäunten den Klostergarten ein. Kleine, bescheidene Häuser grenzten an das Kloster, während ein steiler, kahler Berganstieg den Hintergrund der ganzen Siedelung bildete.

Der Fremde steuerte geradeswegs auf die einsame Klosterpforte der hochwürdigen Patres Kapuziner zu und zog mit raschem Griff an der Klingel. Schrill tönte die Glocke durch den sich schier endlos hinziehenden Korridor. Dann war drinnen im Kloster wieder alles still und ruhig wie zuvor.

In dem engen, weißgetünchten Warteraum vor der Klosterpforte herrschte eine angenehm kühle Temperatur. Beinahe stickig war die Luft und gemahnte an feuchtmodrige Kellermauern. Der Fremde sog behaglich diese Luft ein. Sie war ihm lieb und vertraut und erinnerte ihn an dumpfe Archive, in denen er so manchen verborgenen Schatz aufgestöbert hatte.

Hofrat Professor Ringler war ein schlank gewachsener Mann, Mitte der Fünfziger, glatt rasiert, mit Brillen, einem bräunlichen Gesicht und leicht ergrautem vollem Haar. Seine Haltung war gut und korrekt; nur bezeigten seine Achseln eine leichte Neigung nach vorn, was wohl von einem allzu häufigen Verkehr mit hohen und höchsten Herrschaften herrühren mochte.

Der kurze Touristenanzug mit Wadenstrümpfen und einem weichen Lodenhütl stand ihm fesch zu Gesicht und ließ ihn um beinahe zehn Jahre jünger erscheinen. In der Hand trug er einen eleganten Spazierstock, der seltsam gegen seine einfache Lodenkleidung abstach. Der dicke Silberknopf des Stockes wirkte in der ärmlichen Umgebung des Warteraumes doppelt auffallend und kostbar.

Professor Ringler spielte nervös mit dem Stock, zeichnete Figuren auf den Steinfliesen, hustete ungeduldig und stand abwechselnd von einem auf das andere Bein. Er mußte so lange warten, daß er es sich schon überlegte, ob er nicht doch noch ein zweites Mal klingeln sollte, als er von dem äußersten Ende des Korridors Schritte vernahm.

Die Schritte kamen langsam schlürfend herbei und zeugten offenbar von einer behaglichen, unerschütterlichen Ruhe der sich nähernden Person. Ein kleiner alter Kapuzinerpater mit demütig freundlichem Gesicht öffnete die Pforte, ließ den Fremden eintreten und fragte nach seinen Wünschen. Professor Ringler lüftete höflich den Hut, stellte sich vor und ersuchte, vor den Pater Guardian geführt zu werden.

»So, so! Den Pater Guardian möchten's sehen!« sagte der kleine Pater freundlich und strich sich wiederholt über den langen weißen Bart, der ihm fast bis zur Brust über die braune derbe Lodenkutte fiel. »Ja, ich weiß aber nit genau, ob der Pater Guardian jetzt wohl zu sprechen sein wird. Könnt' ich ihm nit was ausrichten?« forschte er dann weiter und sah neugierig blinzelnd zu dem Hofrat auf, während die eine Hand fortwährend über den weißen Bart strich.

»Sagen Sie dem Pater Guardian meine Hochachtung, und ich sei gekommen, um die mir sehr empfohlene Bibliothek des Klosters zu besichtigen!« versetzte der Fremde mit Nachdruck und nicht ohne dabei ein gewisses Selbstgefühl zu bekunden.

»Die Bibliothek? Ah so!« verwunderte sich der kleine Pater und strich sich dabei unausgesetzt den Bart. »Wohl die Bibliothek? Und gar empfohlen ist sie Ihnen auch noch? Da schau her! Da schau her!«

Diese Tatsache schien das alte Paterle ganz besonders zu belustigen; denn es kicherte scheu und unterdrückt vor sich hin und sah jetzt mit unverhohlener Neugierde auf den Fremden.

»Ich besitze Empfehlungsschreiben vom Kultusministerium und von dem fürstbischöflichen Ordinariat!« sagte der Professor, den das Benehmen des Alten etwas zu ärgern schien. »Ich bin gern bereit, sie dem Pater Guardian zu zeigen.«

»Ich geh' schon. Ich geh' gleich!« beeilte sich der Alte zu versichern. »Ich werd' ihn wohl etwa bald auftreiben, den Pater Guardian. Wissen's, manchmal steckt er um die Zeit im Garten und macht so a ganz a kleins Döserle. Daß es aber ja kein Mensch nit g'siecht.« Und listig und heiter vor sich her lachend, entfernte sich der Pater Pförtner, nicht ohne daß er von innen sorgfältig den Riegel vorgeschoben hätte.

Der Hofrat hörte, wie sich die klappernden Holzsandalen eilig schlürfend entfernten, und freute sich über den Eindruck, den offensichtlich das Empfehlungsschreiben des fürstbischöflichen Ordinariates gemacht hatte.

Es dauerte auch gar nicht so lange, bis der Pater Guardian in Begleitung des Pförtners erschien. Er war ein würdevoller älterer Mann, hochgewachsen, hatte eine große Glatze und einen schönen dunklen Vollbart.

Der Guardian verbeugte sich höflich vor dem Fremden, steckte die Hände nach Klosterbrauch in die weiten Ärmel der braunen Kutte, die in der Mitte mit einem groben Strick umgürtet war, und sah erwartungsvoll auf den Besuch.

»Ich bin gekommen, hochwürdiger Herr . . .,« begann der Professor sein Anliegen vorzubringen, »um Ihre weitgerühmte Bibliothek nach alten Drucken und Handschriften zu durchforschen. Das Kultusministerium und das fürstbischöfliche Ordinariat haben mir . . .«

Das Gesicht des Guardians, das vorher einen ablehnenden Ausdruck zeigte, verklärte sich bei diesen Worten, und eifrig unterbrach er den Fremden: »Aber bitte, bitte, wollen der Herr Hofrat nicht mitkommen. Es redet sich doch viel gemütlicher hier drinnen, auch wenn wir's nur ganz bescheiden haben. So . . . so . . .,« fuhr er dann über eine Weile fort, als er an der Seite des fremden Herrn den langen, niedern und schmucklosen Korridor durchschritt. »Das fürstbischöfliche Ordinariat hat Ihnen daherg'schickt. In unsere Bibliothek?« forschte er, und sein Gesicht zeigte eine leichte Verlegenheit. »Ja . . . wie nur das fürstbischöfliche Ordinariat auf so einen Einfall kommen kann,« meinte er dann mißbilligend.

Der kleine Pater Pförtner, der bescheiden hinter den beiden Herren nachgeschlürft kam, ließ abermals ein leises, halbunterdrücktes Kichern hören.

»Ich kann doch sofort die Bibliothek besichtigen? Meine Zeit ist nämlich sehr gemessen. Ich muß eigentlich jede Minute ausnützen.« Der Fremde tat sehr wichtig, zog seine goldene Uhr aus der Westentasche und besah sich kritisch die Stunde.

Der Pater Guardian blieb einen Augenblick stehen, als müsse er Atem schöpfen. Dann blickte er ratlos auf den alten Pater, der demütig scheu und doch erwartungsvoll zu ihm aufsah. »Jetzt gleich wollen's in die Bibliothek?« fragte der Guardian zaghaft. »Könnten's nicht ein bissel später kommen?«

»Wenn ich Sie bitten dürfte, sofort zu dem Pater Bibliothekar geführt zu werden, wäre ich sehr verbunden!« erwiderte der Fremde höflich, aber im bestimmten Tone, der keinen Widerspruch erwartet. »Der Pater Bibliothekar kann mir ja bei meinen Forschungen etwas an die Hand gehen, damit ich mich besser zurechtfinde.«

»Ja, ja. Freilich!« sagte der Guardian ziemlich tonlos und nickte bestätigend ein paarmal mit dem Kopfe. »Natürlich kann er das. Natürlich!« fügte er beruhigend hinzu.

»Wie heißt denn der Pater Bibliothekar?« erkundigte sich der Hofrat nach einer kleinen verlegenen Pause, während der Guardian innerlich alle Heiligen zu seiner Hilfe anrief. »Und wie lange ist er denn schon im Kloster?«

»Der?« Der Guardian sprach das Wort langgedehnt aus und schaute mit beinahe kindlicher Hilflosigkeit zuerst auf den Fremden und dann auf den alten Pater Pförtner.

Dieser kam seinem Vorgesetzten zu Hilfe. »Soll ich den Pater Desiderius holen gehen?« fragte er den Guardian und schielte listig und in beinahe buckliger Haltung zu seinem Vorgesetzten empor.

»Ja. Bitt' schön. Hol den Desiderius!« Erleichtert atmete der Guardian auf.

Sie waren beim Kreuzgang angelangt, und der Guardian führte den Gast in einen großen hohen Raum, der den Patres als Eßzimmer diente und Refektorium genannt wurde.

»Pater Desiderius . . . das ist also der Bibliothekar?« fragte der Hofrat.

»Ja. Das ist er.« Der Guardian sagte es trocken und bat innerlich den Herrgott um Verzeihung für die Lüge. Denn der Pater Desiderius war nicht Bibliothekar, sondern ehrsamer Kellermeister des Klosters.

Einen Bibliothekar besaß das Klösterlein überhaupt nicht, und um die Bibliothek hatte sich seit Jahren niemand gekümmert. Die ruhte wohlverschlossen und verstaubt und träumte einen ungestörten Traum. Und so gut verschlossen war sie, daß der Pater Guardian beim besten Willen sich nicht erinnern konnte, wo er den Schlüssel dazu auftreiben würde.

Das durfte man natürlich den Herrn Hofrat nicht merken lassen. Denn wenn das fürstbischöfliche Ordinariat ihn extra hergeschickt hatte, damit er seine Nase in die alten, modrigen und schlechtriechenden Scharteken steckte, dann mußte man eben den Schein wahren und so tun, als interessierte man sich gleichfalls für das Zeug.

Daß der Pförtner den köstlichen Einfall mit dem Pater Kellermeister hatte, war ausgezeichnet. Der Guardian wußte es nun mit Bestimmtheit, daß ihm dieser aus der Verlegenheit helfen würde . . .

An zwei Seiten der Wände des Refektoriums waren lange Tafeln, die jetzt leer und ungedeckt standen. Ein paar Heiligenbilder schmückten den Raum, und eine Statue des heiligen Franziskus in Lebensgröße gab dem Saal einen würdigen Abschluß.

Große Bogenfenster waren auf einer Seite angebracht, die den Ausblick auf den Garten hatten. Sie waren vergittert. Grünes Weinlaub umrahmte den Einschnitt und machte den hohen Raum kühl und dämmerig.

Der Hofrat sah sich in dem Saale um, weigerte sich aber mit bestimmter Höflichkeit, Platz zu nehmen, da er hierzu absolut keine Zeit habe.

Der Guardian wurde von Minute zu Minute unruhiger und verzweifelte innerlich schon ganz. Denn der Professor bestürmte ihn immer eingehender mit Fragen nach alten Handschriften, von denen der Guardian natürlich keine blasse Ahnung hatte. Er sagte halt immer auf jede Frage ja und amen und hoffte im übrigen auf die Geschicklichkeit des Paters Desiderius.

Als dieser kam, wurde er dem Professor als Pater Bibliothekar vorgestellt. Etwas verwundert schaute der Hofrat auf den dicken Pater, rückte seine schwer goldumränderten Brillen zurecht und unterwarf den Pater Desiderius einer eingehenden Betrachtung.

Der Pater Desiderius war untersetzt und wohlbeleibt wie eine Kugel. Er hatte ein feuerrotes glänzendes und faltenloses Gesicht, rotes struppiges Haar, das so widerborstig war, daß es gewaltsam in die Höhe strebte und kaum die Tonsur erblicken ließ. Ein fuchsroter, nicht sehr langer Bart vervollständigte den Eindruck einer feurigen, flammenden Kugel, den der Pater machte.

»Also Sie sind der Pater Bibliothekar?« fragte der Hofrat mit leicht zweifelndem Tonfall.

»Der Desiderius heiß' ich halt!« nickte der dicke Pater freundlich und hielt dem Fremden seine fette Patschhand zum Gruß entgegen. Dann zog er aus einem der weiten Ärmel seiner Kutte eine große Schnupftabakdose, klopfte ein paarmal auf den Deckel, als müsse er erst höflich um Einlaß bitten, öffnete die Dose und bot dem Professor den wohlgefüllten Inhalt an. »A Pris g'fällig?«

Lächelnd lehnte der Gelehrte ab. »Danke sehr. Ich schnupfe nicht.«

»Nit?« Der dicke Pater riß erstaunt seine Augen auf, die ihm stark hervorstanden und an die vorsichtigen Fühler einer Schnecke gemahnten. »Kein Schnupfer sind Sie? Sie . . . da haben's was versäumt im Leben. So a bissele a Schnupftabak . . . da geht doch nix drüber.«

Der Guardian holte sich mit zwei Fingerspitzen eine Prise aus der Horndose, während der Pater Desiderius breitspurig auf einem Stuhl Platz nahm, tief Atem schöpfte und dann mit seinen dicken Fingern sich eine tüchtige Ladung in die Nase stopfte.

Darauf kramte er ein mächtiges, blau und weiß gestreiftes Taschentuch aus dem andern Ärmel hervor, breitete es auf dem Schoß aus, zog ein paarmal die kurze, etwas kolbige Nase hoch, so daß sie sich blaurot verfärbte, wurde noch um ein paar Schattierungen röter im Gesicht und fing dann plötzlich mit einer solchen Heftigkeit zu niesen an, daß es dem Hofrat ganz ängstlich zumute wurde.

Der dicke Pater beugte sich in einem fort nach vorn und nieste und nieste, daß ihm die Tränen über die Backen liefen. Dann erst bediente er sich seines Taschentuchs, fuhr sich damit nicht nur über Nase und Gesicht, sondern rieb sich auch den Kopf ab und den entblößten Hals. Darauf sah er ganz erleichtert und so erfrischt, als wäre er eben von einem Bade gekommen, zu dem Fremden hinüber, der nun doch an der Seite des Guardians an der Tafel Platz genommen hatte.

»Das war a Wohltat!« ließ sich der Pater Desiderius begeistert vernehmen. »Wissen's . . . so a Schnupftabak . . .«

Der Fremde fiel ihm etwas ungeduldig ins Wort. »Ja. Für Schnupfer mag es interessant sein. Aber mich interessiert eigentlich . . .«

»Weiß schon! Weiß schon!« machte der dicke Pater behaglich. »Die Bibliothek. Das ist ja auch ganz natürlich. Die gelehrten Herren haben alleweil solche Steckenpferde.«

»Steckenpferde?« Der Professor wiederholte das Wort scharf. »Steckenpferde?«

Der dicke Pater holte neuerdings sein buntes Taschentuch hervor. Der Professor befürchtete schon eine Wiederholung der Schnupftabakszene und setzte sich in steifer, abwehrender Haltung zurecht. Aber diesmal wischte sich der Pater Desiderius nur den Schweiß von der Stirn und fing in kläglichem Tone zu jammern an. »Unser liebe Zeit und liebe Frau, hat's heut a Hitz'!«

Stöhnend erhob er sich und machte die offenstehenden Fenster zu. Dann ließ er sich ermattet auf seinen Sitz nieder und schaute mit bittendem Blick auf den Guardian, der noch immer wie auf glühenden Kohlen neben dem Fremden saß. »An Augenblick zum Ausrasten wird's doch wohl epper tragen, Pater Guardian, nit wahr?«

»Aber natürlich. Natürlich!« beeilte sich der Guardian beizustimmen. »Darf ich Ihnen nicht doch einen bescheidenen Imbiß anbieten, Herr Hofrat? Es arbeitet sich dann leichter, wenn man ein bissel was im Magen hat.«

Mit einer leicht herablassenden Handbewegung wehrte der Hofrat ab. Er stützte sein glattrasiertes Kinn auf den silbernen Knopf des Stockes und sah mit gütiger Nachsicht zu dem dicken und ganz verzagt dreinschauenden Pater Desiderius hinüber. »Allzu lange werden Sie ja zu Ihrer Erholung nicht brauchen . . .,« meinte der Hofrat freundlich . . ., »damit wir dann zu unsern alten Handschriften kommen.«

»I bitt' Ihnen . . ., lassen's mi grab mit die Handschriften jetzt in Fried'!« Der dicke Pater hob seine kurzen Arme beschwörend über den brennend roten Schädel. »Alte Handschriften und gar alte Drucke auch noch!« rief er in komischem Entsetzen. »Wissen's, die kann man nur entsprechend würdigen, wenn man die entsprechenden Kräfte dazu ein hat. Und bei der Hitz' hat man doch überhaupt keine Kraft mehr. Das werden's wohl einsehen?«

»Ja, ja! Freilich. Sie brauchen unbedingt noch mehr Kräfte!« witzelte der Professor.

»Und ob! Spaß beiseite! Unsereins ist nit zu neiden. Unsereins tragt a schwer's G'wicht durchs Leben!« stöhnte der dicke Pater.

»Da hab' ich's schon besser!« meinte der Professor nachsichtig lächelnd. »Ich . . .«

»Sie . . . Sie sein überhaupt a Darmdürrer!« polterte jetzt der Pater Desiderius gemütlich los. »A so a dünne Zaunlatten wie Sie sein . . . die braucht überhaupt Tag und Nacht a Stärkung, damit sie's Schnupfen vertragt. Und a Glasl Wein tat Ihnen akkurat a so gut wie mir. Wie meinen's denn, Pater Guardian? Soll i nit a Tröpfele holen?«

»Aber natürlich . . . natürlich!« versicherte der Pater Guardian freundlich. »Einen extra guten für den Herrn Hofrat.«

»Nicht für mich. Nicht für mich!« widersprach der Hofrat. »Mir ist wirklich nur um die Bibliothek zu tun . . .«

»Ja, ja! Sie kommen schon noch zu Ihnere Scharteken!« begütigte der dicke Pater. »Jetzt wird zuerst a Wein getrunken!« entschied er kategorisch. Und dann trippelte er so schnell davon, daß die Fette unter der braunen Kutte nur so wackelte.

Dem Hofrat blieb für den Augenblick gar nichts anderes übrig, als klein beizugeben. Er hatte den Eindruck, daß man dem dicken Pater unbedingt seinen Willen lassen müsse, damit der sich endlich auch etwas für die Wissenschaft zu interessieren anfinge.

Der Pater Desiderius kam bald darauf in Begleitung eines andern Paters, den er als Pater Ökonom vorstellte. Der trug eine Flasche Rotwein und vier Gläser auf einem Holzteller. Er war gleichfalls untersetzt, hatte dunkles volles Haar und einen spärlichen Bart, der sich beinahe wie ein Ziegenbart ausnahm.

Jetzt schien sich der Pater Desiderius völlig in seinem Element zu fühlen. Er lachte behaglich über das ganze Gesicht, spielte den Wirt, goß Wein in die Gläser und stieß ein übers andere Mal mit dem Fremden an.

»Schmeckt's?« fragte er dann eindringlich und kniff listig beide Äuglein zu, so daß sie nur wie zwei Schlitze aussahen.

»Ausgezeichnet!« versicherte der Hofrat artig. Er verstand viel von guten Weinen und sprach ihnen auch nicht ungern zu. »Der hat Blume!« lobte er dann nach einem ganz besonders andächtigen Zug.

»Gelten's?« triumphierte der dicke Pater. »Aber wissen's, das ist noch gar nix!« meinte er geringschätzig. »Da haben wir noch ganz andere Banzelen im Keller. Einen . . . der ist ganz besonders gut. Den sollten's kosten! Da verging' Ihnen Hören und Sehen. Und vorkommen täten Sie sich wie a Engerl im Himmel. Und der Wein . . . der heißt ›die besondere Güte Gottes‹. Weil unser Herrgott so gütig ist und so was Ausgezeichnetes wachsen laßt. Aber wissen's . . ., den geben wir nur ganz selten her!« versicherte er in hoheitsvollem Tone. »Nur sehr selten. Bei hohen Festtagen oder wenn amal a ganz a b'sonders nobler Besuch kommt.«

»Wenn Ihre Bibliothek auch solche Schätze aufzuweisen hat wie Ihr Weinkeller . . .,« lächelte der Hoftat und wehrte dem Pater Guardian, der ihm nachschenken wollte, dankend ab, »dann . . .«

»Wissen's, wie wir Patres das machen?« fragte der Pater Ökonom, indem er auf die Ablehnung anspielte. »Wir machen's so!« Er nahm das Glas zur Hand, legte zwei Finger gespreizt darüber und goß dazwischen den Wein durch. »Sehen's! So dankt man und kriegt doch was. Wollen's probieren?« Und lachend goß er dem Hofrat nach, während der Pater Desiderius eiligst verschwand, um eine neue Sorte Wein aufzutragen.

»Den müssen's kosten, Herr Hofrat! Der hält erst Seel' und Leib zusammen!« rühmte der Kellermeister und schloß ganz verliebt die Augen, indes er sich selber ein Gläschen ums andere zu Gemüte führte.

»Ganz vorzüglich!« meinte der Herr Hofrat im Tone ehrlicher Anerkennung und nippte vorsichtig an seinem Glas. »Wissen Sie, ich muß mir den Kopf klar halten für meine wissenschaftlichen Forschungen!« entschuldigte er sich dann beim Pater Guardian.

»Freilich, freilich!« stimmte ihm der dicke Pater Desiderius bei. »Die Wissenschaft über alles. Die geht vor dem Wein.« Dabei füllte er aber doch rasch und unbemerkt dem Hofrat das Glas auf.

»Wissen's, zu uns kommen öfter so gelehrte Mannder!« erzählte jetzt der Pater Ökonom.

»Archivstudien?« fragte der Professor interessiert.

»Natürlich auch. Und einmal haben wir einen jungen Pater g'habt . . . das ist aber schon etliche Jahr her . . ., der war überhaupt aus der Bibliothek nimmer außer z'kriegen.«

»Der hat g'sponnen!« erklärte der Pater Desiderius kategorisch und trank entrüstet sein Glas aus.

»Aber Desiderius . . .,« mahnte der Guardian bescheiden. Er sah wohl, wie geschickt ihm seine beiden Getreuen aus der Klemme halfen, und hatte nur die Angst, daß der Pater Kellermeister bei dieser Gelegenheit selbst ein wenig über den Durst trinken würde.

»Und einmal ist einer kommen . . .,« fuhr der Pater Ökonom zu erzählen fort, »der hat grad in die alten Handschriften studiert und studiert . . .«

»Ist aber auch schon lang her!« warf der dicke Pater Desiderius verächtlich ein und schenkte immer wieder heimlich dem gespannt zuhorchenden Hofrat nach.

»Der hat Familienstudien gemacht . . .,« fuhr der Pater Ökonom fort.

»Ja . . . und? Hatte er Erfolg?« fragte der Hofrat eifrig. »Waren alte Urkunden vorhanden?«

»Natürlich hat er Erfolg g'habt!« nickte der Pater Ökonom bekräftigend. »Und ob!«

»Es war ein Adliger, und der hat g'meint, daß sein Stammbaum bis zum Adam aufireicht!« erzählte der Pater Desiderius.

»Ja. Und dann ist er auf einen Vorfahren gestoßen . . .,« meinte der Pater Ökonom.

»In den Urkunden?« fragte der Hofrat sehr gespannt.

»Natürlich. Was denn?« Der Pater Ökonom lachte schadenfroh. »Und wissen's . . . den Vorfahren haben's g'hängt g'habt. Und von der Stund' an hat's den Herrn verdrossen, sich noch weiter wissenschaftlich zu betätigen.«

»Weil bei der ganzen wissenschaftlichen Betätigung nix G'scheut's außerkommt!« schloß der Pater Desiderius energisch. »Das Beste ist der Wein. Da hat man wenigstens was davon. Und jetzt hol' ich die besondere Güte Gottes. Weil's gleich ist, und weil wir gar a so lieb beisammensitzen.«

»Aber . . . aber . . .« Dem Hofrat gelang es schon nicht mehr recht, wirksam dagegen zu protestieren. Und als ihm nach einer Weile der Pater Desiderius aus einer großen vollen Flasche tiefdunkeln Wein ins Glas goß, da hatte der Herr Hofrat das unbestimmte Gefühl, daß sich der Saal und die Tafeln und Bilder und er selber in leicht schwingender Bewegung befänden und daß seine ganze Umgebung leise mit ihm zu tanzen anfinge.

Und unermüdlich goß der dicke Kellermeister ins Glas. Nicht nur dem Gast, sondern auch sich selber und dem Pater Ökonom.

Der Pater Guardian begriff, daß er hier überflüssig sei und daß die beiden Patres und der Fremde sich ohne ihn besser unterhalten würden. So entfernte er sich leise und unbemerkt, und keiner von den dreien vermißte ihn.

Der Guardian machte sich wohl auch Vorwürfe, daß er jetzt eigentlich ein Auge zudrückte und daß der Pater Desiderius sicher etwas zuviel von dem Wein erwischen würde. Aber Gott in seiner Güte würde ihm die Sünde wohl verzeihen.

Während drinnen in dem großen kühlen Raum des Refektoriums die beiden Patres und der Professor eifrig der besonderen Güte Gottes zusprachen, gab draußen der Pater Guardian seine Anordnungen. Ein Schlosser mußte aus der Stadt geholt werden, um die Bibliothek aufzusperren. Diese sollte sauber gereinigt und gelüftet werden, daß alles nur so spiegelte. Wie die Wichtelmänner so fleißig schafften die Laienbrüder, putzten und scheuerten bis in den späten Abend.

Im Refektorium aber saßen die drei Zecher fröhlich und vergnügt und genossen noch immer von dem erlesenen Tropfen. Ja, das war eine besondere Güte Gottes. Dieses Feuer, diese Blume, diese edle Kraft.

Der Hofrat konnte diese Perle der Weinreben nicht genug rühmen. Und rühmte und trank zwischen den beiden Patres sitzend so lange, bis er schon ganz schläfrig und ganz blaß aussah.

Endlich legte er müde den feinen Gelehrtenkopf auf die breite Schulter des Paters Desiderius. Der fühlte sich jetzt ganz als Sieger.

»Den hat's!« lachte er befriedigt zu dem Pater Ökonom hinüber. Und dann stimmte er sein Leiblied an, was er nur bei ganz seltenen Gelegenheiten zu tun pflegte, wenn er mit sich selber besonders zufrieden war. Mit tiefer, brummiger Stimme, die aus einem leeren Faß zu kommen schien, sang er: »Die Frösch quack . . . quack . . . die Frösch quack . . . quack . . . Die sein a lustigs Chor . . . Man braucht sie nit zu kampeln . . . Sie haben keine Hoor . . .«

Und mit hohem Tenor fiel der Pater Ökonom in den herrlichen Gesang ein. Das klang so schauerlich schön, daß es den Professor für einen Augenblick aus seiner Trunkenheit zu wecken schien. Er richtete sich krampfhaft auf, ließ aber gleich darauf den Kopf schwer auf die Tischplatte fallen.

»Jetzt müssen wir ihn fortbringen . . .,« meinte der Pater Ökonom flüsternd.

»Freilich!« nickte der Kellermeister. »Jetzt hat er g'nug von der Güte Gottes. Sonst wird sie zu viel.«

»Und dann kommen schon die Brüder zum Abendessen,« sagte der Pater Ökonom.

Der Pater Desiderius richtete sich gerade auf und schüttelte lachend seinen dicken feuerroten Schädel. »Die Stadtlinger halten döcht gar nix aus. Uns zwei hat die Güte Gottes keinen Schaden angetan.«

Nicht ohne Schwierigkeiten brachten die beiden Patres den Professor in eine der Klosterzellen, die für fremde Gäste stets bereit standen. Dort legten sie ihn auf ein Bett, und der Herr Hofrat schlief einen herrlichen Schlaf, ruhig und traumlos, wie ein Kind, die ganze Nacht hindurch, bis in den späten Morgen hinein . . .

Der Pater Desiderius wartete schon die längste Zeit vor der Zellentüre, ob sich der Fremde denn noch nicht bald erheben würde.

Als der Herr Hofrat endlich zum Vorschein gekommen war, führte ihn der Pater Kellermeister abermals und unter vielen Scherzen und Witzen über die gelungene Wirkung der besonderen Güte Gottes in das Refektorium zum Frühstück, wo schon der Pater Guardian und der Pater Ökonom seiner harrten.

Der Professor hat es den Patres auch weiter gar nicht übelgenommen, daß sie ihm ein Räuschchen angezecht hatten. Ganz im Gegenteil lachte er mit ihnen über die geringe Widerstandsfähigkeit der Stadtleute, die schon einige Gläser Wein umwarfen. Die beiden Patres versicherten feierlichst, daß sie selber nicht das geringste gespürt hätten.

In der Bibliothek fand der Herr Hofrat alles in peinlichster Sauberkeit und Ordnung vor und war hochentzückt und befriedigt.

Der Pater Desiderius hatte sich noch im Refektorium beim Frühstück unter irgendeinem Vorwand aus dem Staube gemacht und war nirgends mehr aufzutreiben. Die Fragen des Professors über alte Handschriften und Drucke, von denen er absolut nichts verstand, wurden ihm zu peinlich. So zog er es vor, lautlos zu verschwinden. Daher nahm sich der Guardian des Professors an, führte ihn in die Bibliothek ein und überließ ihn dann ungestört seinen wissenschaftlichen Studien.

Die fielen auch zur vollsten Zufriedenheit des Herrn Hofrats aus, und beim Abschied bedankte er sich noch ganz speziell für die freundliche Aufnahme in dem gastlichen Kloster. Er versprach, recht bald wiederzukommen und beim fürstbischöflichen Ordinariat es ganz besonders zu betonen, welchen Fleiß und welche Aufmerksamkeit man in diesem Kloster der Bibliothek widme. Über die hervorragende Ordnung, die unter den Beständen der Bibliothek herrschte, über den echt wissenschaftlichen Geist, der dieser musterhaften Ordnung zugrunde liege, drückte er sich in Worten der höchsten Begeisterung aus.

Seither ist im Klösterlein der Schlüssel der Bibliothek stets aufzufinden. Und fleißige Hände reinigen den schönen Raum. Benutzt wird er freilich geradeso wenig wie zuvor. Aber mit der beschaulichen Ruhe ist's doch vorbei; denn beinahe jeden Tag kommt der Pater Guardian in höchsteigener Person, um Nachschau zu halten, ob wohl alles stimme. Der Schreck über das völlig unvermutete Ereignis war ihm doch zu nachhaltig in die Beine gefahren.

Der Pater Desiderius hat sich aber noch nie in die Bibliothek verirrt. Der wartet noch immer auf den angekündigten Besuch des Professors und droht, daß er ihm das zweitemal einen noch viel ärgern Kanonenrausch anzechen werde wie das erstemal.

Daß das Klösterlein die musterhaft und mit echt wissenschaftlichem Geist geordnete Bibliothek dem jungen »spinneten« Pater zu verdanken hatte, der früher immer in der Bibliothek steckte, davon hatte weder der Guardian noch der Ökonom, am allerwenigsten aber der Pater Desiderius eine leise Ahnung. Und daß von diesem jungen Pater eigentlich auch die Kunde von dem Wert der Bibliothek ausging, wußten sie natürlich ebensowenig. Der Pater Desiderius hätte dem »spinneten« Pater sonst sicher einige kräftige Erinnerungsworte gewidmet.

*


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