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Ernst Moritz Arndt

Jede Sprache ist das geheimnisvolle Urbild zuerst einer weit zurück liegenden Vorzeit, wovon wir uns höchstens noch einen Traum machen können, zweitens ist sie das Urbild eines in einer großen Genossenschaft abgeschlossenen eigentümlichen Seins und Lebens, sie ist ein tief verhülltes Bild eines ganzen Volkes, welches jedoch in Klängen und Farben und Scheinen täglich klare Zeichen seiner Bedeutung geben muß. Über das innere Wesen der verschiedenen Sprachen, worin zugleich das eigentümlichste innigste Leben der verschiedenen Völker verschlossen liegt, welche diese Sprachen gebrauchen, ist viel Tiefes und Schönes gesagt worden und kann alle Tage Neues gesagt werden; so unerschöpflich reich ist diese Goldgrube für den denkenden und betrachtenden Schauer und Forscher. Auch unsere Sprache ist in dieser Hinsicht von vielen betrachtet worden, wie sie sich in dem Volke und wie das Volk in ihr sich abspiegelt. Hier aber wollen wir als auf einen großen Hauptpunkt darauf hinweisen, daß die deutsche Sprache eine Ursprache und keine zusammengeschwemmte Mischlingssprache ist, daß die Deutschen sie vom Anfang ihrer Geschichte scheinen gehabt und nicht durch irgend eine Gewalt als ein fremdes Gut scheinen überkommen zu haben, wie die Franken die gallo-romanische, die Goten die romano-arabische Sprache. Sie scheint ihnen daher auch so recht zu passen und eigentümlich anzugehören und mit allen ihren Wurzeln in ihrem Gemüte und in ihren Trieben verwachsen zu sein, weil sie sich wahrscheinlich in ihren ersten Anfängen mit ihnen gebildet hat. Was dies auf das große Gesamtleben des Volkes und der Sprache, auf das große geistige Gemeinbild, welches von beiden im innigen Spiele zu einander überspielt und die verschiedenen Jahrhunderte und Jahrtausende mit ihren Wechseln von Schicksalen und Gestalten in deutlichen Zeichen ausgeprägt zeigt, für einen gewaltigen Einfluß hat, das hat Fichte vortrefflich angedeutet. Jene romanisierten Germanen nämlich, welche in Frankreich, Italien, Spanien, England wohnen und Mischlingssprachen sprechen, haben freilich auch einen geistigen Strom und ein geistiges Bild, die durch ihre Sprachen brausen und leuchten, aber sie entbehren des lebendigen, in ihnen selbst in ewiger Jugend quellenden und schaffenden Urborns der Sprache, die noch immer Ein Leben, Einen Atem, Ein Streben hat; die Sprache kann bei ihnen nicht mehr wie aus ihr selbst, wie aus Gott, wie aus dem ganzen Volke werden, weil die Wurzeln ihrer Sprache nicht in dem ganzen Volke liegen, sondern zum Teil in längst vergangenen und verschollenen Völkern und Zeiten, wo einige Gelehrte und Weise daher graben und dasjenige heraussuchen müssen, was alle eben für neue Bedürfnisse gebrauchen. Bei uns aber schaffen nicht bloß die Gelehrten neue Zeichen und Wörter für neue Dinge und Begriffe; nein, die meisten neuen Zeichen und Wörter werden bei uns, ohne daß man häufig weiß, wo sie geboren und woher sie gekommen sind, die rechten neuen Zeichen und Wörter werden, wie alles tüchtige Leben wird; sie quellen und sprießen unmittelbar aus dem Volke hervor und bleiben unter dem Volke. Das kann aber bei jenen romanisierten Germanen nicht geschehen, bei welchen die Wurzeln ihrer meisten Wörter lange das eigene frische Leben verloren haben und größtenteils gleich getrockneten Pflanzen in den Kräuterbüchern der Sprachgelehrten, in den Wörterbüchern und Sprachlehren, aufbewahrt werden.

Über diese tiefen und verborgenen Dinge ließe sich wohl viel Tiefsinniges sagen und spielen. Es dürfte vielleicht nicht zu kühn sein anzudeuten, daß eine Zeit kommen könnte, eine Stufe der Bildung und Entwickelung, wo die romanisierten Sprachen und andere, ihnen ähnliche in Verzweiflung geraten müßten, für diese Zeit und für ihre Erscheinungen und Bilder die neuen Zeichen zu finden. Denn einen jungen und frischen Baum magst du wohl wenden und beugen, daß er in einer neuen Richtung wachsen und eine andere Gestalt annehmen muß, als zu welcher er sonst hinauswachsen wollte; aber einen alten Baum, dessen Stamm schon steif ist und dessen Wurzeln und Gipfel hie und da schon anfangen zu trocknen, beugst du nur, damit er zerbreche. Wenn eine solche Zeit käme, könnte sich wohl begeben, daß die Germanen, welche ihr Uraltes rein erhalten und bewahrt haben, die Deutschen, Holländer, Schweden, Dänen, Norweger, im geistigen Reigentanz notwendig die Vortänzer werden müßten.

Doch wir verlassen diesen Gegenstand, der nur in einzelnen blitzenden Ahnungen erscheinen kann und, wenn man ihn als eine feste Gestalt erfassen will, immer gleich einem gespenstischen Traum zerrinnen muß. Wir ziehen lieber in einem flüchtigen Umriß einzelne leichte Schattenstriche, wie Volk und Sprache in ihrem Glück und Unglück einander wieder richtig malen und in merkwürdigen Gegenspiegeln und Gegenbildern zeichnen.

Die Sprache der Altvordern und die deutsche Sprache überhaupt bis zum elften Jahrhundert war rauh, streng, herb, kurz, voll und dumpf, wie sie in rohen und unentwickelten Zuständen der Völker zu sein pflegt; von dem zwölften bis fünfzehnten Jahrhundert abwärts beginnt sie milder, zarter, klangreicher und gewandter zu werden. Dies war die Zeit hoher Blüte und Weidlichkeit des Volkes, und auch der Charakter der Sprache ist Weichheit, Rundheit, Milde, Gemütlichkeit und Traulichkeit und Freude und Fröhlichkeit im allerhöchsten Grade; wie das Volk diese Tugenden und dieses Glück damals auch besaß. Doch war die Sprache nur erst für die Dichtkunst ausgebildet. Erst in der letzten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts begann sie auch für die Prose sich zu entwickeln, und wir haben noch viele schöne Proben, was damals der Wohlstand und Reichtum einzelner Reichsstädte hervorlockte. Doch das deutsche Gepräge für alle Zeiten drückte ihr der außerordentliche Mann auf, der in anderer Hinsicht eine neue Weltepoche begründete, D. Martin Luther in Wittenberg. Was auf deutsch lieblich oder furchtbar, donnernd oder säuselnd, mild oder rauh, stark oder weich, zornig oder freundlich geredet und geklungen werden kann, das hat dieser seltene Mann uns in einem großen Vorbilde hinterlassen, in seiner Bibelübersetzung und in seinen deutschen Schriften. Das Grade, Runde, Volle, Einfältige, stracks zum Ziel Gehende und keine langen Flechtungen und künstlichen Verschlingungen und Windungen Vertragende, kurz das Deutsche in Sinn, Art und Klang hat Luther getroffen, und wer je gut deutsch schreiben und reden lernen will, der muß ungefähr empfinden lernen, was in ihm gelebt hat; denn nachahmen läßt sich das Außerordentliche nicht. Jede Zeit hat ihre eigentümliche Gestalt, ihre Lichter und Schatten in den Dingen und deren Bildungen, welche der Künstler nicht übersehen darf; aber hier liegt ein Muster für die Ewigkeit, ein ungeheurer Torso, den sie anschauen und daran erschauen können, ob etwas Ähnliches aus ihren Trieben und Herzen hervorquellen kann.

Luther hatte der Sprache Haltung, Gediegenheit, Klarheit, Kraft, Klang und Ton gegeben und jenen Ernst und jene Gewalt, welche in seiner Zeit und in seinem Schicksal lagen. Es war nicht die Zeit der Minnesänger und Hohenstaufen. Nach ihm sank Deutschlands Leben, Glück und Ruhm tiefer und tiefer. Die deutsche Literatur und Sprache ward von der polemischen Theologie und von der aristotelischen Philosophie ergriffen, so weit diese jener dienen konnte. Alle freiere Idee des Lebens und der Wissenschaft und alle Lust und Anmut der Liebe und Freude wich aus der Sprache, wie sie durch das fürchterliche Gezänk aus dem Leben verscheucht wurden. So stritt man sich ein volles Jahrhundert um ein Nichts, das bei dem Ernst des Zeitalters doch ein großes Etwas war. Darauf kam der dreißigjährige Krieg, dessen unbeschreibliche Wut den letzten Wohlstand des Vaterlandes zerstörte. Die Sprache sank mit dem deutschen Volke und mit der Herrlichkeit des Vaterlandes von Jahrzehend zu Jahrzehend immer tiefer und bildete die Elendigkeit und Jämmerlichkeit des Volkes auch in sich ab. Dies ging so fort von Luther bis zum Jahr 1660, also etwas über hundert Jahre. Von diesem Jahre 1660 bis zum Jahr 1750, wo die französische Literatur und Sprache über ganz Europa die Herrschaft behauptete, erscheint die deutsche Sprache in eben der schwächlichen Kränklichkeit, worin leider das deutsche Reich und Volk darnieder lag. Ihr geschah, was kränklichen Leibern geschieht, welche jede fremde Ansteckung, Aussatz und Krätze sogleich annehmen. Sie bekam die völligste Krätze, die lange unheilbar schien. Vergebens hatte der Boberschwan Opitz und der tiefe Fleming ihren letzten Nachsommer noch beklungen, der kalte, unfreundliche und halbtote Herbst kam mit aller seiner Unleidlichkeit und Unlieblichkeit unaufhaltbar heran, und die Krätze konnte nicht in seiner nassen Kälte, noch viel weniger aber in dem kalten Winter geheilt werden. Die ursprünglichste, reichste, volleste Sprache mußte sich wie eine taubstumme Stammlerin und Stotterin gebärden, und als ob sie ohne Sang und Klang, ohne Bild und Idee, ohne Worte und Zeichen war, lieh sie Wörter von allen Völkern, am meisten aber von den Franzosen, und dünkte sich in diesem bunten und närrischen Harlekinsrock recht stattlich und liebenswürdig. Diese Verblendung holte auf in den ersten Jahrzehenden des achtzehnten Jahrhunderts, aber mit der Erkennung des Übels war das Übel selbst noch nicht verschwunden; auch ward es in seiner Tiefe und in seinen Wurzeln nur noch von wenigen erkannt, und die volle Wiederbelebung und Wiedererhebung der Sprache konnte ja nicht allein von denen ausgehen, welche mit Eifer und Glück die Wissenschaften und Künste trieben, wodurch eine Sprache verherrlicht wird. Sie mußte aus dem vollen Wohlsein und Hochgefühl des ganzen Volkes ausgehen; und wo war das geblieben? Wir sind vielleicht in dem Anfange einer solchen Epoche; die wackern Deutschen, die um die Jahre 1750 und 1770 blüheten und wirkten, konnten aus der langen Nacht kaum eine solche Dämmerung ahnden; und sie ahndeten sie wirklich nicht.

Doch darf hier bei der Klage über das allgemeine Versinken und Verderben der herrlichen Muttersprache nicht unerwähnt bleiben, daß das Luthertum durch das fleißige Lesen der Bibel und durch die Begeisterung frommer Sänger in gebundener und ungebundener Rede hie und da eine löbliche Reinheit, Kraft und Einfalt der Sprache und einen lebendigen Fluß der Rede erhielt, als alles schon tot oder mit fremder Ziererei gemischt und überladen war. Ja in allen lutherschen Ländern hat die heilige Dichtkunst immer noch einzelne reine Schwäne und unschuldige Nachtigallen behalten, welche in zarten und mächtigen Tönen von dem Himmel und der ewigen Welt die Wonnen und Geheimnisse sangen, als alles andere in Gekrächze und Geschnatter ausgeartet war. Diese begeisterte Dichtkunst der Evangelisch-Lutherschen, deren Meister und Vater auch der Doktor Martinus war, wirkte wie in Deutschland so in den verwandten nordischen Reichen als eine fast ähnliche Erscheinung. Reine und gediegene deutsche geistliche Lieder gibt es aus jedem Jahrzehend seit der Reformation.

Ich will hier nicht wiederholen, was von andern gründlicher und besser gesagt ist, als ich es sagen könnte; ich will der einzelnen glücklichen und unglücklichen Bestrebungen deutscher Männer schweigen, welche mit redlichem Eifer in jener Zeit gearbeitet haben, unsere Sprache und Literatur, die in ganz Europa das Wörtlein Barbarei und Geschmacklosigkeit hörte, wieder zu Ehren zu bringen. Sie haben getan, was sie konnten, sie haben einzeln und abgerissen zum Teil Treffliches geleistet; aber eine großartige deutsche Literatur konnte unmöglich werden, da alle Grundlagen eines festen Lebens und eines hochwollenden, hochstrahlenden und hochgebietenden Volkes fehlten. Wem fällt hier nicht Klopstock ein, der edle und reine deutsche Mann, und wie viel er gezündet hat und zünden wollte? Und doch wie stand er oft so ganz allein, ein tragisches Zeichen in einer mittelmäßigen Zeit, eine Hieroglyphe, die so wenige zu deuten verstanden! Und mangelten nicht grade jene ersten Herrlichen von 1740 bis 1770, welche aufräumten und auskehrten und auf etwas Edleres und Eigeneres hinwiesen, fast alles Mittelpunkts des Lebens und oft alles Verständnisses der Zeit, die erst spät teilnahm? und mußten sie nicht fast alle zugleich Wasser und Strom sein, da ihnen das Volk fehlte? Es war kaum möglich, daß bei so schweren Verhältnissen ein freudiges Dasein in Kunst und Dichtkunst, und Lust und Freude der Sprache sich entwickeln konnte. Das war aber in jener Zeit das Traurigste, daß selbst diejenigen Männer, die sich mit Glück der Kunst weiheten, die Geschichte der Vergangenheit fast ganz verloren hatten, daß wenige davon etwas wußten, daß jemals schon eine deutsche Herrlichkeit in Sprache und Dichtkunst gewesen war. So suchte denn jeder in einer gestaltlosen, liebeleeren und ruhmleeren Zeit nach dem Bilde, das er sich von deutschem Streben und deutscher Kunst gemacht hatte, sein bestes Gemüt in seinen Werken abzuprägen; aber des Bildes entbehrten alle, wodurch sie eine feste, würdige Gestalt, ein volles Leben und ein Gepräge für die Unsterblichkeit hätten gewinnen können, des Bildes eines Volkes. Es wäre wohl lächerlich zu leugnen, daß die meisten in jener Zeit in Deutschland erschienenen Schriften und Gedichte deutsch sind; aber innigst und einfältigst aus deutschem Leben und Wesen und Gemüte hervorgegangen sind wenige. Die meisten hallen und wehen von fremden Tönen und Hauchen und schimmern in einer Mittelwelt, worin, wie sehr sie es selbst auch verdammten, eine gewisse welsche Art immer noch den Meister spielt. Wie edel die Männer rangen, mag man wohl am besten in dem Schmerze würdigen, der sie überfallen mußte, wann sie inne wurden, wo das tiefe Übel lag, das sich durch die Länge der Zeit allen mitgeteilt hatte. Darum soll Klopstocks großes Herz und was der herrliche Mann gewollt hat und was er in solcher Zeit geleistet hat, nie ein Deutscher vergessen, noch auch, wessen so viele andere wackere Männer, wenn sie auch fern vom Ziele geblieben, würdig beflissen waren. Wir können uns die Schwierigkeiten jetzt kaum vorstellen, womit die zu kämpfen hatten, welche in den Jahren 1730 und 1740 gleichsam von vorn anfangen mußten – und in welcher Zeit? Wir schienen denn damals wieder eine Literatur zu bekommen, aber jetzt dürfen wir wohl sagen: es war keine ganz deutsche. Das meiste, was jene Zeit erstrebt und erwirkt hat, muß notwendig in dem Strom der Zeit untergehen, weil es keinem bestimmten Volke und keiner bestimmten Zeit als eine natürliche und notwendige Lebensblüte anzugehören scheint. Später, als jene ersten Helden den Weg wieder vom fremden Schutt und Schmutz gereinigt hatten, hat Goethe sich auf eine einzige Art durchgebrochen; er und Schiller und Herder und noch einige haben wieder eine deutsche Sehnsucht erregt, und ein junges, frisches, titanisches Geschlecht hat die letzten drei Jahrzehende nach den verschiedensten Richtungen hin gestrebt und gewirkt, etwas Kühneres, Freieres und Lebendigeres zu erschaffen als was aus jener Mittelzeit hervorgegangen war, in welcher das Gefühl und der Schmerz und fast immer das Bewußtsein der schweren welschen Krankheit so oft die kühnen Aufflüge lähmte.

Soll ich nun sagen, wie es mit der deutschen Sprache steht? Sie hat sich freilich seit den Jahren 1730 und 1740 von dem fremden Aussatz wieder gereinigt. Aber jene Arbeit war nur die Wegschaffung des Übels, sie war noch nicht die wiederhergestellte Gesundheit und wiedergeborne Stärke. Eines muß ich hier sagen, was unserer Sprache widerfahren ist. Sie ist freilich in den letzten achtzig Jahren sehr ausgebildet und besonders zum wissenschaftlichen Gebrauche geschickt gemacht worden; aber diese Ausbildung und Bearbeitung geschah fast bloß nach der einen Seite hin, sie geschah fast allein von Gelehrten und – was schlimmer ist – von sogenannten Stubengelehrten. Von den höheren Ständen war die Muttersprache als eine gemeine Magd fast ganz ausgeschlossen und im Volke unten war das Leben kein fröhliches, schöpferisches, sich selbst fühlendes und erkennendes Leben mehr. So ist sie denn durch diese Verhältnisse, möchte man sagen, oft zu fein und zu geistig geworden, in vieler Hinsicht fast zu dünn und luftig für das unmittelbare Leben der Dichtkunst und Rede; sie hat an Fülle, Gediegenheit und Schwere verloren, was sie an Gewandtheit, Bestimmtheit und Leichtigkeit gewonnen hat: sie ist für eine Sprache des unmittelbaren Seins mehr eine Sprache des vermittelnden Begriffs geworden. Dies Schicksal hat die deutsche Sprache mit mehreren andern Sprachen gemein. Wenn das Zugesellige und Zuwissenschaftliche sich einer Sprache bemächtigt, verschwindet der feste Kern, die kühne Fülle und die unbewußte Tiefe, und sinkt wieder in den Schoß des einfältigen Volks zurück. So ist es uns auch geschehen. Was für diesen Kreis zu voll und zu schwer war, ist wieder zum Volke versunken; und das wage ich ohne Übertreibung zu sagen, daß wegen des im Ganzen armen, trüben, unlustigen, bedingten, einseitigen und abgeschiedenen deutschen Lebens, welches sich in dem letzten Jahrhundert gemacht hat, viel köstlicher Klang und Sang und viele der herrlichsten Sprichwörter, Redensarten und Wörter ganz aus der Gemeinschaft des Lebens entwichen sind: eben weil das Leben kein gemeinsames deutsches Leben war und weil diejenigen Klassen, welche die Sprache vorzugsweise erhalten und weiter führen sollten, zu hoch über oder – wenn man will – zu tief unter dem Volke standen, und weil also nicht aus dem großen Urborn die ganze volle Flut der Gefühle, Bilder und Anschauungen des Lebens und seines Urbildes, der Sprache, von dem Volke zu ihnen immer hin und her flutete. So ist eine gewisse Schwächlichkeit, Weitschweifigkeit, Unbestimmtheit, Künstlichkeit, die unsern früheren Zeiten ganz fremd war und die dem eigensten Gemüte unsers Volkes auch noch fremd ist, in die Sprache gekommen, die sich bei einem großen Schein von Reichtum jetzt doch in einem sehr engen Kreise von Wörtern bewegt und zwar größtenteils von solchen Wörtern, die durch die Sprache der Schulen und Wissenschaften meistens schon vergeistigte, gespenstische und dünne Worte geworden sind, welche, weil ihnen die sinnliche und urgeborne Schwere ausgezogen ist, nur noch sehr wenig von unmittelbarem Leben und kräftiger Unschuld und unbewußter Einfalt haben. Fast mehr als bei andern Völkern geht die deutsche Literatur über das Volk hinaus; viele Bücher sind in deutscher Sprache geschrieben, aber so geschrieben, daß sie auch ein jeder Allerweltmensch geschrieben haben könnte. Dies ist nicht bloß ein Zeichen unserer Wissenschaftlichkeit und Idealität, die man ja eher loben als tadeln müßte, sondern ein lange schon bestandener Brauch, kraft dessen die Männer der gelehrten Innung sich manche Jahrzehende gebärdet haben, als brauche der eigentliche Gelehrte gar kein Mensch des Volks noch für das Volk zu sein. Ein Irrtum, den sowohl die Gelehrten als das Volk haben büßen müssen. Der Deutsche rühmt sich vorzüglich der deutschen Philosophie, vielleicht nicht mit Unrecht; aber diese Philosophie hat die Sprache oft auf das übermütigste gebraucht und gemißbraucht. Sie ist häufig eine wahre Sprachverderberin und Sprachverwirrerin und Wörterzersetzerin gewesen und hat manchen Wörtern für immer den Nerv ausgeschnitten, auch so willkürlichen und zum Teil so verkehrten Gebrauch eingeführt, daß sie das Schwankende, Unbestimmte, Lichtlose und Farblose, kurz das Gespenstische, was uns aus so vielen deutschen Büchern anwehet, immer noch hat vermehren geholfen. So viel ist einmal gewiß, daß die Wissenschaft und Philosophie ihrer Natur nach feine Schröterinnen und Beutlerinnen sind, welche die groben und schweren Körner der Sprache zermalmen und als das feinste Sicht- und Beutelmehl auslaufen lassen. Wenn diese sich nun selbst die Gemeinschaft mit dem Volke abschneiden, welches, wenn der alte Vorrat zermahlen und zerrieben ist, die groben und schweren Körner eben immer neu liefern muß, so muß die Sprache ja wohl endlich in eitel zermalmtes Grieß verwandelt werden.

Auf einem solchen Wege waren wir; uns ist begegnet, was allen Völkern auf gewissen Bildungsstufen notwendig begegnen muß. Wenn nicht in dem Volke selbst ein gewisser Sinn der Einfalt und Großheit sich erhebt und den zu sehr verfemten Stoff in sich schluckt und gröberen und tüchtigeren aus seinem unerschöpflichen Vorrate wieder herausgibt, so verschwinden bei aller der feinen Spaltung und Reibung und Glättung und Verzierung der Wörter und Perioden, bei aller Zierlichkeit und Feinheit, der man sich mehr und mehr befleißigt, endlich die unschuldigen und frischen Geister, die sonst in der Sprache lebten, die unmittelbaren großen und kühnen Gedankenbilder, die man mit dem Klange der Worte sonst noch faßte; die Sprache wird ein kalter, matter Zierling und Schwächling und ist auf ewig tot für alle stolzen und freien Schwünge und Flüge, womit sie sich in ihrer Jugend fortschnellte. Werden wir zu einer solchen Grenze gelangen, welche zugleich das Nichtweiter des deutschen Lebens und Strebens wäre? Ich hoffe es nicht. Mir kommt vor, als sei auch der Sprache die Morgendämmerung einer schöneren Zeit aufgegangen. Sie kann mit dem Volke nur auf dem politischen Wege zu ihrer alten Kraft, Fülle und Einfalt wiedergenesen. Der Krätze ist sie freilich lange los gewesen, höchstens sitzt hie und da eine einzelne Spur davon an ihr; aber die verlorne alte Frische, Freudigkeit und Einfalt hat sie noch nicht wieder erlangt. Wenn die Deutschen erlangen, was wir von Gott hoffen, daß sie es erlangen werden: wenn sie ein öffentliches Leben erlangen, das die meisten Polizeistuben und Schreibstuben zuschließt und die Beamten und Gelehrten aus halben Scheinwesen, wo man oft zweifeln konnte, ob sie auch in irdischen Leibern steckten, in Männer der Tat und der Rede verwandelt; wenn wir ein öffentliches Leben erlangen, wozu alle Klassen des Volks in ihrem Kreise mit gehören, wo das unmittelbare Wort regiert für die tote Schreibfeder; wenn jemals die Zeit wieder kommt, wo es Volksfreuden, Volksjubel und Volksfeste gibt, wo alle Stände, alle Klassen sich zusammenleben und zusammenlieben, dann ist ein neuer Tag für die teure Muttersprache aufgegangen, dann wird wie aus einem unsichtbaren Zauber mancher Ton und mancher Laut, manches herrliche Bild und manche tote Idee, die mit ihren Hüllen, ihren Worten jetzt tief vergraben liegen, wieder an das Licht des Lebens hervorgrünen und hervorblühen. Denn ich sage es zum dritten und vierten Male: je frischer das Volk strebet und blühet, desto frischer strebet und blühet auch die Sprache. Den Trost haben wir wenigstens immer, einen gewaltigen Trost für unser Dasein und für unsere geistige Bildung, daß die Wurzeln unserer Sprache bei uns selbst liegen und durch die lebendige Flut, die in glücklichen Zeiten aus dem ganzen Volke hervorbraust, begossen und erfrischt und zum Triebe neuer Blätter und Blüten gereizt und gelockt werden. Und welch ein Reichtum und welche Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Töne, Farben, Schatten und Lichter nach dem Sinn und Gemüte eines jeden verschiedenen deutschen Volksstammes! und das von den Alpen bis zu den Küsten Norwegens und Islands hinab. Denn auch da gibt es Wurzeln, die für uns in dem alten Germanien am Rhein und an der Elbe einmal grünen und Sprossen und Blüten treiben können.

Ich habe von gespenstischer Dünnheit der Sprache gesprochen, von zu großer Verflüchtigung und Vergeistigung derselben, von der Verschleifung und Zerstörung des Lebendigen, Unmittelbaren, Dichterischen in ihr. Will ich denn das Streben so vieler trefflichen deutschen Männer, die uns seit achtzig Jahren in Kunst und Wissenschaft verherrlicht haben, damit wegleugnen? will ich überhaupt behaupten, daß die überwiegende Geistigkeit in den Deutschen ein Gebrechen sei, daß nicht auch jede Sprache, insofern sie eine gebildete Sprache heißen soll, eine gewisse geistige Feinheit und Dünnheit haben muß, um gewisse zartere und feinere Seiten und Verhältnisse des Gemütes und der Idee abzubilden, die in jenen früheren und einfältigeren Zeiten noch nicht erscheinen können, wo die Sprache im großen vollen Klange und reisigen Heldentritt fast ganz unmittelbares Leben und Dichtkunst ist, wo sie aber in Klarheit, Bestimmtheit und Gewandtheit noch gar nicht in Prose sprechen kann? Bewahre Gott! das will ich nicht. Ich habe nur andeuten wollen, wie so Feines überhaupt angedeutet werden kann, das einem wie ein kaum erfaßlicher Schatten immer unter den Händen zerrinnt, daß es unserer Sprache und Bildung in dem letzten Jahrhundert an innerem Gleichgewicht gefehlt hat und bis diesen Tag fehlt, weil unsre Gelehrten und Künstler meistens in einer dem Volke zu fernen Höhe einseitig schwebten und die rechte, antäische, ergänzende und stärkende Kraft nicht aus den Wurzeln der Spracherde gewinnen konnten, und weil überhaupt in dem Volke das fröhliche, weidliche, mutige, freie, tapfere Leben und Wirken nicht war, das aus derselben immer frische Knospen und Blüten der Gefühle und Ideen hervortreiben und so das Sprachgebiet bereichern oder edle Tote, die nur in einem Scheintode lagen und noch nicht von der Verwesung ergriffen waren, wieder auferwecken konnte. Freilich gibt es einzelne außerordentliche Menschen, Sonnenkinder eines Zeitalters, wie von einem fremden Planeten Herabgekommene, die als Verkünder, Herolde und Weissager gleichsam ohne ein Volk und eine große Geschichte einer herrlichen Zeit, die da kommen soll, voranschreiten oder die auch wie zum Troste als letzte Heldenkrone und Liebeskranz von Gott auf die Leiche eines vergehenden Zeitalters gelegt werden; aber für die Mehrheit bleibt es immer wahr, wenn wir nämlich von einer natürlichen Literatur eines Volkes sprechen, nicht von einer künstlich gemachten, wie die zu Alexandrien und Pergamus und das gelehrte Treiben unter Hadrian z. B. in der alten Zeit waren, daß geschrieben und gedichtet werden muß, wie gefühlt und gelebt wird. Können wir denn das in unserer Literatur nicht auch gewahren? Zum Beispiel die Bücher aus dem fünfzehnten und der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, wo unsere Sprache sich zuerst zur Prose bildete, nachdem sie für die Dichtkunst lange ihre herrlichste Zeit gehabt hatte, atmen einen einfältigen, gutmütigen, harmlosen, treuen, behaglichen und tapfern Sinn, wie denn damals die Menschen noch nicht fühlen konnten, daß das reiche und mächtige Leben des deutschen Reichs im Zerfallen und Zerfließen war. Es ist daher in den meisten Schriften jener Zeit das Gefühl von Mut, Wohlsein und Freude. Luther und die Reformatoren und ihre Gegner im ernsten und strengen Kampfe scherzen zwar noch zuweilen wie die treue, einfältige und gutmütige Zeit scherzte und spielte, aber doch bemerkt man, daß die Sprache einen festen, ernsten, kurzen, fliegenden und heftigen Gang zu gehen begann gleich der Zeit. Nach diesen großen Geistern, die um die größten Dinge stritten und kriegten, kamen kleinere, es kam Schulgezänk und trauriger und kleinlicher Hader und Neid und Hetzerei und Durchstecherei aller Art. Nun verliert die Sprache sowohl die Kraft als den Wohllaut, und bei der Zersplitterung der Dinge und Herzen, wo alles sich an dem Einzelnen zerarbeitete, begann sie leer zu werden an Einfalt und Anmut wie an Geist und Liebe. Nur einzelne zarte und mächtige Stimmen klangen noch zuweilen von solchen, welche die heilige Muse Siona für den Kirchengesang begeisterte. – Darauf als durch die Friedensschlüsse zu Münster und Osnabrück die Leiche des alten, heiligen, römisch-deutschen Reichs zerlegt und mit bunten Larven und Königs- und Herzogsmänteln und Pallien und Infuln und endlich auch mit Allongenperücken und Haarbeuteln eingekleidet und wieder aufgerichtet ward, als wäre noch Leben und Kraft in ihr, ward nicht hinfort die Literatur das Bild des deutschen Reichstags und der Friedenshandlungen von Aachen, Köln, Nimwegen, Ryswyk und Baden? schien nicht die höchste Idee eines deutschen Stils in den Reichstagsberichten und der Europäischen Fama ausgesprochen? ward nicht die Sprache selbst, wie alle europäische Staaten bei jeder Friedens- und Kriegshandlung an unserm zerrissenen Reiche lappten und flickten und gelegentlich auch daran zerrten, nagten und mauseten, ward die deutsche Sprache nicht buntscheckicht wie die babylonische Verwirrung des Reichs und schnatterte sie, als die deutschen Männer deutschen Stolz und Hochsinn verlernt hatten und nur noch ein diplomatisches Vaterland sahen, nicht den Tönen und Lauten aller der Völker nach, die ihre Mitherrscher waren? aus ihr selbst aber konnte sie weder den Donnerklang der Rede noch das Liebesgesäusel des Liedes mehr hervorblasen?

Später, als mit den Jahren 1740 und 1750 einzelne Schriftsteller, eine begeisterte vaterländische Bardenschaft, von dem Gefühle der Elendigkeit und Jämmerlichkeit der deutschen Literatur ergriffen, Hand ans Werk legten und wieder in reinen Tönen der Teutona singen und klingen wollten, wirkte die Armut und Trockenheit von unten aus dem Volke auf sie zurück: die Begeisterung, die sie entflammte, ward nicht von allen in Freude und Liebe getragen. Es war doch nicht die Unmittelbarkeit des echten Lebens, doch nicht die volle, frische Lebensflut, es war doch eine Kunst in dem, was man deutsche Natürlichkeit nannte. Kunst mußte es wohl sein, aber es war mehr Kunst als Trieb, und eben durch die Franzosen verführt, die man abschütteln wollte, legte man an das, was in Zeiten des fröhlichen Triebes wie die Eiche des Waldes und die Lilie des Feldes aus eigener Kraft wächset und blühet, oft das enge und knappe Maß an, was die Leute in Paris die ewige Regel des Geschmacks und der Schönheit nannten. In den Jahren 1770 und 1780 kam freilich mehr Leben und Strom in Sprache und Literatur, es kam auch hin und wieder mehr Erinnerung und Klang des Alten wieder, aber im ganzen hingen ihnen noch Nebel vor den Augen, daß wenige deutlich sahen, woher und wohin. Die große deutsche Zeit, die von dem zwölften bis sechzehnten Jahrhundert gewesen war, lag kaum in trüber Dämmerung vor ihnen, die Vergangenheit der Geschichte – man wird Kaiser- und Kriegsgeschichten und Reichstagshandlungen noch keine Geschichte des Volks nennen – war in den letzten drei Jahrhunderten wie versunken, und von jener altgermanischen und altnordischen Schwärmerei und Ritterlichkeit und von der Süßigkeit und Lieblichkeit der Zeit des Minnegesangs hatte man nur einzelne dunkle Töne klingen gehört: die tiefe Wurzel des Lebens der Sprache und die Erinnerungen der Sehnsucht und des Heldentums der Väter waren wie abgeschnitten. Und nun sollte aus der Magerkeit und Dürftigkeit der Gegenwart, die an Finanzplanen und Zollgesetzen und Kriegsordnungen reicher war als an Freude und Einfalt, und aus der einzelnen Idee eines noch so reichen und tiefen deutschen Herzens das Mächtigste und Tiefste geschöpft werden. Es gelang einigen bis zur Bewunderung, daß sie groß waren fast ohne Volk und Vaterland; aber die herrlichen Strahlen, die hin und wieder ausschossen, hatten immer keine allgemeine Sonne, wohin als zu ihrem Mittelpunkt sie wieder zurückflossen und woher sie neue Flammen holten. Darauf ist unsere Zeit gekommen, eine Zeit geistiger und politischer Umwälzungen und Bewegungen, mit welcher wenige frühere Zeiten verglichen werden können. Jeder hat in die hohe Flut und in die wilde Bewegung mit hinein gemußt, wenn er sich beim Anfange derselben nicht sogleich auf hohe Sanddünen zurückgezogen hatte. Kampf, Streben, Trieb nach allen Seiten, wohl oft zu viel, wie einige meinen. Kann sich aus dem Chaos, worin wir umgetrieben werden, ein politisches Leben gestalten, das eine fröhliche und mutige deutsche Seele hat, so wird auch die deutsche Sprache aus dieser Zeit einst große Belebungen und Entwickelungen melden.

War in jener Zeit, wo mehrere brave Deutsche fühlten, daß die schwächlich und kümmerlich gewordene Sprache die Krätze und den Aussatz, ja die Franzosen hatte, ein heftiges Widerstreben gegen die welschende und fälschende Wortmengerei und Ausländerei, so ging das eigentlich mehr auf die Wörter als auf die Gestalt der Ideen und den geistigen Ausdruck, welche durch die lange Gewohnheit des Fremden und die lahme Mattigkeit des Deutschen bei vielen der eifrigsten Deutschler doch eine halb französische Art und Farbe behielten. Das Widerstreben, das sich in den letzten Jahrzehenden gegen das Französische gebildet hat, liegt tiefer. Es ist bei manchen ein bloß idealischer Widerwille aus dem Gefühle entsprungen, das sich durch die Wiedererweckung der Erinnerungen unsers großen Altertums immer mehr erhellt hat, daß die französische Art und Kunst uns ewig eine fremde bleiben muß, wenn wir unser Größtes und Bestes nicht für blanke Zierlichkeit und kalte Feinheit hingeben wollen. Bei andern aber ist dies Widerstreben rein politisch, aus dem Unglück entsprungen, daß wir von dem Volke, dem wir über ein Jahrhundert nachgestrebt und nachgeäfft hatten, endlich hinterlistig unterjocht und auf das grausamste gemißhandelt waren. Bei diesen möchte man fast Haß nennen, was sie treibt; und deswegen sagen manche, daß der Haß sie übertreibt. Doch haben sie keinesweges unrecht, wenn sie behaupten, daß viel unnützer französischer Tand, den unsere Sprache sich immer wieder als fremden und unnötigen und zum Teil recht lächerlichen Zierat anhängen will, und viele immer wieder auflebende französische Art, die sich tief in unseren Leben und in unsern Sitten eingenistet hat, noch bei uns auszutreiben ist. Aber ob dies so ausgetrieben werden kann, wie manche von ihnen es anfangen, das ist eine andere Frage. Gern ist man mit ihrer deutschen Liebe einig, aber zu einem Ziele führen mancherlei Wege.

Was nun besonders die Reinigung, Besserung, Erhebung und Bereicherung der Muttersprache betrifft, so sind, wie mir deucht, viele der redlichsten Streber und Eiferer für sie auf dem falschen Wege. Manche scheinen wie Knaben Blumen zu pflanzen, welche mit den Kronen schön leuchten, aber unten an den Stengeln keine Wurzeln haben und daher verdorren müssen, wie die Sonne darüber kommt. Neue Wörter machen, wodurch man fremde ersetzen will, alten fast verschollenen Wörtern wieder Geltung und Umlauf geben: das ist kein Werk der Willkür, es kann nur das Werk des lebendigsten und unbewußtesten Lebens sein. Das ganze Volk, wie ihm neue Gefühle und Begriffe aufgehen, schafft und findet auch neue Wörter und Zeichen für sie; höhere Geister schaffen und finden sie auch und bringen sie in Umlauf. Das schöpferische Volk wirkt da eben so wie die dunkel und geheimnisvoll schaffende Natur, der schöpferische Geist vielleicht wenig anders, vielleicht nur selten mit Bewußtsein. Die Sprachkünstler und Sprachlehrer, meistens trockene und strenge Leute, wollen ihre Kinder nach Regeln zeugen und gebären; aber darum werden es so häufig Dummköpfe oder kommen auch sogleich tot zur Welt. Selbst die alten trefflichen Wörter, die fast verschollen sind und die man wieder lebendig machen kann und lebendig machen soll, müssen mäßig und bescheiden gebraucht werden, damit das Volk sie allmählich wieder für gute und echte deutsche Münze annehmen lerne. Denn sehr erklärlich und verzeihlich ist das Gefühl, welches einem ein zu sichtbares Streben und Bewußtsein bei Dingen, die natürlich sein und wehen und scheinen sollen wie Luft und Licht, viel unleidlicher macht, als eine unbewußte Nachlässigkeit und Vergessenheit. Auch mir und gewiß vielen andern Biederleuten ist es ein Greuel, daß unsere schöne, reiche und volltönende Sprache bei so vielen Gelegenheiten und Gegenständen immer noch fast wie die verlegene und blöde arme Sünderin da stehen und sich gebärden muß, als wenn sie weder lauten noch sprechen könnte. Denn über manche Dinge, worüber sie vor zwei Jahrhunderten noch ihr gutes und leichtes reines Deutsch sprach, kann sie jetzt nur noch mit französischen Worten sprechen; ja sie hat es hin und wieder so weit gebracht, daß ihre eigenen Worte, wenn sie was bedeuten sollen, auf französisch gestutzt und geschwänzt werden müssen. Ich glaube, wir sind in keiner Hinsicht mit unserer Sprache verlegen. Was schon Leibniz und andere wußten, daß unsere Sprache eine der ältesten, mannigfaltigsten, reichsten und herrlichsten Urbilder der frühesten Zeit ist, das müssen wir bedenken und nicht da nach Schätzen graben, wo sie für uns nicht liegen und wo wir so leicht zur Falschmünzerei verführt werden können. Welch einen Reichtum, den anmutigsten und vielgehaltigsten und vielgestaltigsten, haben wir an Mundarten, mehr als irgend ein anderes bekanntes Volk! Besonders möchte es leicht zu beweisen sein, daß die sassische Mundart, die bis in den höchsten Norden hinaufläuft, unerschöpfliche Minen hat, die künftiger Bearbeitung warten. Ich möchte fast behaupten, daß in dem Bezirke zwischen dem Harz und der Weser und dem Rhein ein solcher Reichtum von Grundwörtern und Grundbildern der Sprache liegt, daß ich die Wurzeln der meisten germanischen Sprachen und gewiß ein gutes Drittel der Wurzeln der griechischen Sprache dort wiederfinden will. Es ist unleugbar durch die Geschichte, daß der sassische Stamm, zu welchem viele Völkerschaften des skandinavischen Nordens und die meisten Völker des nordwestlichen Deutschlands bis an und über den Rhein gehörten, in mancher Hinsicht eine höhere Ausbildung der Verfassung, des Kriegswesens, der Sitten und der Sprache hatte als die östlichen Germanen. Man denke nur an die frühe Ausbildung der angelsächsischen Sprache, an die skandinavische Sprache in Norwegen und Island, an den Wohllaut, die Fülle und Bestimmtheit des Altschwedischen, weswegen eben in Schweden das dem Sassischen ähnlichere Schwedische über das Gotische gesiegt hat; und will man es bis diesen Tag in der klarsten Anschauung sehen, so durchwandre man Westfalen und lebe unter dem Volke und studiere seine Mundarten; dasselbe tue man in den Niederlanden, in Ost- und Westfriesland, in Holstein, Mecklenburg, Pommern, Brandenburg – und man wird erstaunen über den Reichtum von Anschauungen, Bildern und Ideen, welche diese Mundart vor allen andern deutschen Mundarten voraus hat. Was nun in dieser Mundart in Sprichwörtern und Volksscherzen niedergelegt ist oder vielmehr sich ruhig niedergelegt hat (denn in den meisten dieser Orte ruhet die Sprache zum Teil, weil sie keine schreibende ist), das hat jetzt freilich den Charakter des kleinen Volks angenommen, in dessen Kreisen es rundgeht, aber in der inneren Tiefe und in einer gewissen vielseitigen und vielspiegelig abgeschliffenen Feinheit deutet diese Mundart auf eine frühe Entwickelung und Bildung des Volkes hin, welches sie spricht; welche Entwickelung und Bildung wahrscheinlich älter war als die Einwanderung der sassischen Stämme in den Nordwesten Europas und Deutschlands. Vorzüglich ist der sassischen Art eine wundersame schräge Darstellung eigen, wo sie die Dinge im Gegensatz oder gar in völliger Umkehrung betrachtet und abspiegelt. Dieses Schräge könnte klimatisch sein und ist es zum Teil auch. Weil die Natur in schroffen und ziemlich unfreundlichen Gegensätzen gegen den Menschen spielt, so könnte daraus, indem er sich zugleich über sie und über ihre und seine Mängel lustig macht, die Ironie und Satire und die Ausbildung des Komischen, die hier sehr weit getrieben ist, als ein ganz natürliches Gewächs hervorgesprungen sein. Diese Erklärung reicht bis zu einem gewissen Grade hin und findet auch in manchem ihre völlige Lösung; aber die zugleich durchblitzende und spiegelhelle Tiefe der Idee und ein gewisser feiner Schalk (ein ganz anderer als der sassische Eulenspiegel), der aus der Vielseitigkeit und Vielgestaltigkeit der Bilder hervorblitzt, werden wahrlich nicht in den Hütten und Häusern freier Bauern und Bürger gebildet, sondern setzen ein feines, in mancherlei Verhältnissen und Verknüpfungen mit einander spielendes und sich einander beleuchtendes und bildendes gesellschaftliches Leben voraus. Man klagt bei unserer hochdeutschen Sprache mit Recht, daß es ihr an Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit der Bilder mangele, die zarten Lichter und Schatten der geselligen Verhältnisse und des zwischen dem sinnlichen und geistigen Triebe hinspielenden Gemütes, wie es eben im lebendigen Leben spielen muß, auszudrücken und zu malen. Von dieser schrägen und schräg und seitwärts einspielenden gesellschaftlichen Bildung scheint das Volk viel gehabt zu haben, welches ältestens sassisch redete. An Sprichwörtern, Sittensprüchen, feinen Bemerkungen und Vergleichungen, schrägen Anschauungen und Namen, kurz an allem, was ins Gebiet des Lustigen und Komischen und in das lebendig lebende und wirkende Leben einschlägt, ist diese Sprache sehr reich. Viel ist in dieser Hinsicht aus der reichen Fundgrube schon geschöpft; weit mehr aber kann noch geschöpft werden. Auch deucht mir, daß sie viel mehr als die hochdeutschen Mundarten jener glücklichen Mittelfarben und Mittellichter hat, wo ein Wort zugleich das sinnliche und geistige Leben, die leibliche und die geistige Mißgestalt oder Schönheit bezeichnet. Doch schon zu viel über einen Gegenstand, der sich der Darstellung fast weigert und immer nur wie das Leben überhaupt aus der innersten Tiefe angeschaut und erkannt werden muß.


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