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Goethe

Die Muttersprache zugleich reinigen und bereichern ist das Geschäft der besten Köpfe; Reinigung ohne Bereicherung erweist sich öfters geistlos: denn es ist nichts bequemer, als von dem Inhalt absehen und auf den Ausdruck passen. Der geistreiche Mensch knetet seinen Wortstoff, ohne sich zu bekümmern, aus was für Elementen er bestehe, der geistlose hat gut rein sprechen, da er nichts zu sagen hat. Wie sollte er fühlen, welches kümmerliche Surrogat er an der Stelle eines bedeutenden Wortes gelten läßt, da ihm jenes Wort nie lebendig war, weil er nichts dabei dachte. Es gibt gar viele Arten von Reinigung und Bereicherung, die eigentlich alle zusammengreifen müssen, wenn die Sprache lebendig wachsen soll. Poesie und leidenschaftliche Rede sind die einzigen Quellen, aus denen dieses Leben hervordringt, und sollten sie in ihrer Heftigkeit auch etwas Bergschutt mitführen, er setzt sich zu Boden und die reine Welle fließt darüber her.

 

Ich habe, im Leben und Umgang, mehr als einmal die Erfahrung gemacht, daß es eigentlich geistlose Menschen sind, welche auf die Sprachreinigung mit so großem Eifer dringen: denn da sie den Wert eines Ausdrucks nicht zu schätzen wissen, so finden sie gar leicht ein Surrogat, welches ihnen eben so bedeutend scheint, und in Absicht auf Urteil haben sie doch etwas zu erwähnen, und an den vorzüglichsten Schriftstellern etwas auszusetzen, wie es Halbkenner vor gebildeten Kunstwerken zu tun pflegen, die irgend eine Verzeichnung, einen Fehler der Perspektive mit Recht oder Unrecht rügen, ob sie gleich von den Verdiensten des Werkes nicht das geringste anzugeben wissen.

Überhaupt ist hier der Fall, der öfters vorkömmt, daß man über das Gute, was man durch Verneinung und Abwendung hervorzubringen sucht, dasjenige vergißt, was man bejahend fördern könnte und sollte. Ich notiere nur einiges.

Eine fremde Sprache ist hauptsächlich dann zu beneiden, wenn sie mit Einem Worte ausdrücken kann, was die andere umschreiben muß, und hierin stellt jede Sprache im Vorteil und Nachteil gegen die andere, wie man alsobald sehen kann, wenn man die gegenseitigen Wörterbücher durchläuft. Mir aber kömmt vor, man könne gar manches Wort auf diesem Wege gewinnen, wenn man nachsieht, woher es in jener Sprache stammt, und alsdann versucht, ob man aus denselben etymologischen Gründen durch ähnliche Ableitung zu demselben Worte gelangen könnte.

So haben zum Beispiel die Franzosen das Wort perche, Stange, davon das verbum: percher. Sie bezeugen dadurch, daß die Hühner, die Vögel sich auf eine Stange, einen Zweig setzen. Im Deutschen haben wir das Wort stängeln. Man sagt: ich stängle die Bohnen, das heißt, ich gebe den Bohnen Stangen, eben so gut kann man sagen: die Bohnen stängeln, sie winden sich an den Stangen hinauf, und warum sollten wir uns nicht des Ausdrucks bedienen: die Hühner stängeln, sie setzen sich auf die Stangen.

Es wird leicht sein, mehrere Beispiele dieser Art anzuführen, zu finden oder zu erfinden; mir kommt sie viel vorzüglicher vor, als wenn man entweder durch Vorsetzung der kleinen Partikeln, oder durch Zusammensetzung Worte bildet. Ich will aber noch kürzlich bemerken, wo solche Ausdrücke besonders zu finden sind.

Man trifft sie häufig an in den eigentümlichen Sprachen der Gewerbe und Handwerke, weil die natürlichen Menschen, die auf einem gewissen Grade der Kultur stehen, bei lebhaftem sinnlichen Anschauen an einem Gegenstande viele Eigenschaften auf einmal entdecken, und da sie kaum in einem Begriff zusammenzufassen sind, welches überhaupt auch dieser Menschenklasse Art nicht ist, so gewinnen sie dem Ganzen etwas Bildliches ab, und das Wort wird meistenteils metaphorisch und also auch fruchtbar, so daß man, mit einigem Geschick, gar wohl andere Redeteile davon ableiten kann, die sich alsdann gar wohl, besonders durch humoristische Schriften, einführen ließen.

 

Ich verfluche allen negativen Purismus, daß man ein Wort nicht brauchen soll, in welchem eine andre Sprache vieles oder Zarteres gefaßt hat.

Meine Sache ist der affirmative Purismus, der produktiv ist und nur davon ausgeht: Wo müssen wir umschreiben und der Nachbar hat ein entscheidendes Wort?

Die Gewalt einer Sprache ist nicht, daß sie das Fremde abweist, sondern daß sie es verschlingt.

 

Wir hörten vor einigen Jahren gar unbedachte Reden; es hieß, die Deutschen sollten ihre verschiedenen Zungen durcheinandermischen, um zu einer wahren Volkseinheit zu gelangen. Wahrlich die seltsamste Sprachmengerei! zu Verderbnis des guten sondernden Geschmackes nicht allein, sondern auch zum innerlichsten Zerstören des eigentlichen Charakters der Nation; denn was soll aus ihr werden, wenn man das Bedeutende der einzelnen Stämme ausgleichen und neutralisieren will?

Alle Sprachverschiedenheit ruht auf der Mannigfaltigkeit der Organe, und diese hängen wieder von mannigfaltiger Totalität menschlicher Organisation ab, die sich weder im einzelnen noch im ganzen verleugnen kann; sodann entscheiden Jugendeindrücke, Zusammenbildung der Gehör-, Sprach- und Denkwerkzeuge. Lassen wir also gesondert, was die Natur gesondert hat, verknüpfen aber dasjenige, was in großen Fernen auf dem Erdboden auseinandersteht, ohne den Charakter des einzelnen zu schwächen, in Geist und Liebe!

 

Die Menschen in Masse werden von jeher nur verbunden durch Vorurteile, und aufgeregt durch Leidenschaften; selbst der beste Zweck wird somit immer getrübt und oft verschoben; aber demohngeachtet wird das Trefflichste gewirkt, wenn auch nicht im Augenblick, doch in der Folge, wenn nicht unmittelbar, doch veranlaßt. Und so wird man erleben, daß Wert und Würde unserer Ahnherrn rein und schön aus der eigenen Sprache hervortreten; denn es ist wahr, was Gott im Koran sagt: Wir haben keinem Volk einen Propheten geschickt, als in seiner Sprache! Und so sind denn die Deutschen erst ein Volk durch Luthern geworden.

 

Die deutsche Sprache gewinnt immer mehr Biegsamkeit sich andern Ausdrucksweisen zu fügen; die Nation gewöhnt sich immer mehr, Fremdartiges aufzunehmen, sowohl in Wort als Bildung und Wendung ... Anlockung für Fremde, Deutsch zu lernen; nicht allein der Verdienste unsrer eignen Literatur wegen, sondern daß die deutsche Sprache immer mehr Vermittlerin werden wird, daß alle Literaturen sich vereinigen. Und so können wir sie ohne Dunkel empfehlen. Man mißgönnet der französischen Sprache nicht ihre Conversations- und diplomatische Allgemeinheit; in dem oben angedeuteten Sinne muß die deutsche sich nach und nach zur Weltsprache erheben.

 

Ganz abgesehen von unsern eignen Produktionen, stehen wir schon durch das Aufnehmen und völlige Aneignen des Fremden auf einer sehr hohen Stufe der Bildung. Die andern Nationen werden bald schon deshalb Deutsch lernen, weil sie inne werden müssen, daß sie sich damit das Lernen fast aller andern Sprachen gewissermaßen ersparen können; denn von welcher besitzen wir nicht die gediegensten Werke in vortrefflichen deutschen Übersetzungen? Die alten Klassiker, die Meisterwerke des neueren Europas, indische und morgenländische Literatur – hat sie nicht alle der Reichtum und die Vielseitigkeit der deutschen Sprache, wie der treue deutsche Fleiß und tief in sie eindringende Genius besser wiedergegeben, als es in andern Sprachen der Fall ist?

 

Es liegt in der deutschen Natur, alles Ausländische in seiner Art zu würdigen und sich fremder Eigentümlichkeit zu bequemen. Dieses und die große Fügsamkeit unserer Sprache macht denn die deutschen Übersetzungen durchaus treu und vollkommen.

 

Die deutsche Sprache ist zum Übersetzen besonders geeignet, sie schließt sich an die Idiome sämtlich mit Leichtigkeit an, sie entsagt allem Eigensinn und fürchtet nicht, daß man ihr Ungewöhnliches, Unzulässiges vorwerfe; sie weiß sich in Worte, Wortbildungen, Wortfügungen, Redewendungen und was alles zur Grammatik und Rhetorik gehören mag, so wohl zu finden, daß, wenn man auch ihren Autoren bei selbsteignen Produktionen irgend eine seltsamliche Kühnheit vorwerfen möchte, man ihr doch vorgeben wird, sie dürfe sich bei Übersetzung dem Original in jedem Sinne nahe halten.

Und es ist keine Kleinigkeit, wenn eine Sprache dies von sich rühmen darf: denn müssen wir es zwar höchst dankenswert achten, wenn fremde Völkerschaften dasjenige nach ihrer Art sich aneignen, was wir selbst innerhalb unseres Kreises Originelles hervorgebracht, so ist es doch nicht von geringerer Bedeutung, wenn Fremde auch das Ausheimische bei uns zu suchen haben. Wenn uns eine solche Annäherung ohne Affektation wie bisher nach mehrern Seiten hin gelingt, so wird der Ausheimische in kurzer Zeit bei uns zu Markte gehen müssen und die Waren, die er aus der ersten Hand zu nehmen beschwerlich fände, durch unsere Vermittelung empfangen.

 

Zu einer Vermittelung und wechselseitigen Anerkennung tragen die Deutschen seit langer Zeit schon bei. Wer die deutsche Sprache versteht und studiert, befindet sich auf dem Markte, wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher, indem er sich selbst bereichert.

 

Zu einem liebevollen Studium der Sprache scheint der Niederdeutsche den eigentlichsten Anlaß zu finden. Von allem, was undeutsch ist, abgesondert, hört er nur um sich her ein sanftes behagliches Urdeutsch, und seine Nachbarn reden ähnliche Sprachen. Ja wenn er ans Meer tritt, wenn Schiffer des Auslandes ankommen, tönen ihm die Grundsilben seiner Mundart entgegen, und so empfängt er manches Eigene, das er selbst schon aufgegeben, von fremden Lippen zurück, und gewöhnt sich deshalb mehr als der Oberdeutsche, der an Völkerstämme ganz verschiedenen Ursprungs angrenzt, im Leben selbst auf die Abstammung der Worte zu merken.

 

Leider bedenkt man nicht, daß man in seiner Muttersprache oft eben so dichtet, als wenn es eine fremde wäre. Dieses ist aber also zu verstehen: wenn eine gewisse Epoche hindurch in einer Sprache viel geschrieben und in derselben von vorzüglichen Talenten der lebendig vorhandene Kreis menschlicher Gefühle und Schicksale durchgearbeitet worden, so ist der Zeitgehalt erschöpft und die Sprache zugleich, so daß nun jedes mäßige Talent sich der vorliegenden Ausdrücke als gegebener Phrasen mit Bequemlichkeit bedienen kann. Kein Wort steht still, sondern es rückt immer durch den Gebrauch von seinem anfänglichen Platz, eher hinab als hinauf, eher ins Schlechtere als ins Bessere, ins Engere als Weitere, und an der Wandelbarkeit des Worts läßt sich die Wandelbarkeit der Begriffe erkennen.

 

Der Sprache liegt zwar die Verstandes- und Vernunftfähigkeit des Menschen zum Grunde, aber sie setzt bei dem, der sich ihrer bedient, nicht eben reinen Verstand, ausgebildete Vernunft, redlichen Willen voraus. Sie ist ein Werkzeug, zweckmäßig und willkürlich zu gebrauchen; man kann sie eben so gut zu einer spitzfindig-verwirrenden Dialektik wie zu einer verworren-verdüsternden Mystik verwenden; man mißbraucht sie bequem zu hohlen und nichtigen prosaischen und poetischen Phrasen.

 

Wort und Bild sind Correlate, die sich immerfort suchen, wie wir an Tropen und Gleichnissen genugsam gewahr werden. So von je her, was dem Ohr nach innen gesagt oder gesungen war, sollte dem Auge gleichfalls entgegenkommen. Und so sehen wir in kindlicher Zeit in Gesetzbuch und Heilsordnung, in Bibel und Fibel sich Wort und Bild immerfort balancieren. Wenn man aussprach, was sich nicht bilden, bildete, was sich nicht aussprechen ließ, so war das ganz recht; aber man vergriff sich gar oft und sprach, statt zu bilden, und daraus entstanden die doppelt bösen symbolisch-mystischen Ungeheuer.

 

Es ist unrichtig zu sagen: ein abgeschlossenes Leben fordert. Ein abgeschlossenes Leben ist kein Leben mehr, es ist tot; jenes kann nichts fordern. Die Keuschheit der Tropen, ihre Proprietät ist Hauptmaxime des Stils im westlichen Europa. Außer dem fällt man ins Bodenlose, Verwirrte, Absurde.

 

Man bedenkt niemals genug, daß eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrücke. Dieses ist besonders der Fall, wenn von Wesen die Rede ist, welche an die Erfahrung nur herantreten und die man mehr Tätigkeiten als Gegenstände nennen kann, dergleichen im Reiche der Naturlehre immerfort in Bewegung sind. Sie lassen sich nicht festhalten, und doch soll man von ihnen reden; man sucht daher alle Arten von Formeln auf, um ihnen wenigstens gleichnisweise beizukommen.

 

Durch Worte sprechen wir weder die Gegenstände noch uns selbst völlig aus.

Durch die Sprache entsteht gleichsam eine neue Welt, die aus Notwendigem und Zufälligem besteht.

Verba valent sicut nummi. Aber es ist ein Unterschied unter dem Gelde. Es gibt goldne, silberne, kupferne Münzen und auch Papiergeld. In den erstern ist mehr oder weniger Realität, in dem letzten nur Konvention.

Im gemeinen Leben kommen wir mit der Sprache notdürftig fort, weil wir nur oberflächliche Verhältnisse bezeichnen. Sobald von tiefern Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich eine andre Sprache ein, die poetische.

 

Die sonoren Wirkungen ist man genötigt beinahe ganz obenan zu stellen. Wäre die Sprache nicht unstreitig das Höchste was wir haben, so würde ich Musik noch höher als Sprache und als ganz zu oberst setzen.

 

Sprache ist ja auch eine Kunst, eine Poesie, d. h. eine Darstellung, und umfassender als alle übrigen Künste. Sie involviert das Ideelle, Abstrakte der Plastik, das Mannigfaltige, Sinnliche der Malerei, das Anregende, Andeutende der Musik. Dem, was sie darstellt, gibt sie, vermöge und mittels des Bewußtseins, eine Form; aber freilich den Gehalt, den ganzen Gehalt des Dargestellten kann sie nur andeuten, wie die Musik. Sie erhebt sich aber über alle diese Künste, ob sie ihnen gleich im einzelnen nachstehen muß, dadurch, daß sie diese Künste selbst erst zu etwas macht und sie durch Ideen, deren sie allein fähig ist, zu etwas erhebt, d. h. zu Stil, Geschmack u. s. w., denn sonst würden alle diese Künste nur rohe Nachahmung der Natur bleiben. Dem Gehalt, der in dem Verhältnis der Geschlechter zu einander, der Kinder gegen die Eltern liegt und das ein Mannigfaltiges von Empfindungen u. s. w. ist, gibt die Sprache eine Form, indem sie es Liebe, Zärtlichkeit, Pietät u. s. w. nennt.

Alle Sprachen sind aus naheliegenden menschlichen Bedürfnissen, menschlichen Beschäftigungen und allgemein menschlichen Empfindungen und Anschauungen entstanden. Wenn nun ein höherer Mensch über das geheime Wirken und Walten der Natur eine Ahnung und Einsicht gewinnt, so reicht seine ihm überlieferte Sprache nicht hin, um ein solches von menschlichen Dingen durchaus Fernliegendes auszudrücken. Es müßte ihm die Sprache der Geister zu Gebote stehen, um seinen eigentümlichen Wahrnehmungen zu genügen.

 

Das Beste unserer Überzeugungen ist nicht in Worte zu fassen; die Sprache ist nicht auf alles eingerichtet, und wir wissen oft nicht recht, was wir endlich sehen, schauen, denken, erinnern, phantasieren oder glauben.


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