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Fünfhundertundeinundsechzigste Nacht.

Geschichte des weisen Heykar.

»Die Geschichte des weisen Heykar ist eine von jenen alten Überlieferungen, welche sich in dem Gedächtnisse der Völker erhalten haben und uns Begebenheiten der Urzeit darstellen.

Als erster Minister des Königs Sencharib von Arabien und Ninive regierte Heykar allein das ganze Reich und verband mit so großer Macht tiefe Wissenschaft und außerordentliche Weisheit; aber bei all seiner Größe quälte ihn heimlich ein Gedanke und störte unaufhörlich seine Ruhe: Heykar war ohne Kinder. Fruchtlos hatte er sechs Frauen geheiratet und für jede derselben eine eigene Wohnung im Umfange seines Palastes erbauen lassen; er hoffte schon nicht mehr vom Himmel einen Erben seines Namens und des hohen Ranges, zu welchem seine Weisheit und das Glück ihn berufen hatten.

Eines Tages endlich, als er aus allen Teilen des Reichs die Weisen, Wahrsager und Sterndeuter hatte versammeln lassen und vor ihnen sein unglückliches Schicksal beklagte, rieten sie ihm, sich an die Götter zu wenden und durch Spenden und Opfer ihre Gunst zu erwerben. »Die Götter,« fügten sie hinzu, »gewähren vielleicht Euren Bitten einen Sohn.«

Heykar befolgte vergeblich ihren Rat, und fruchtlos wurden zahlreiche Schlachtopfer den Altären der Götter dargebracht. Er versank nun wieder in tiefe Traurigkeit, und weil er sah, daß sein Gebet unerhört blieb, schwor er den unmächtigen Götzen des Heidentums ab und erhob seine Gedanken zu dem allmächtigen Gott und rief ihn mit dem Ausdrucke des lebendigen und glühenden Glaubens an:

»Allmächtiger Herr des Himmels und der Erden! O du Schöpfer aller Dinge, ich flehe dich an um einen Sohn, welcher mein Trost und einst mein Nachfolger werde und in der Todesstunde mir die Augen schließen und mir ein Grabmal errichten möge!«

Auf diese Worte ließ sich eine Stimme vom Himmel hören und rief ihm zu:

»Heykar! Heykar! weil du erst zu den falschen Göttern deine Zuflucht genommen und von Menschenhänden gemachten Bildern deinen Weihrauch und Opfer dargebracht hast, so mußt du deinen Irrtum büßen; du sollst keine Nachkommenschaft haben! Aber deine Schwester hat einen Sohn, diesen kannst du an Sohnes Statt annehmen: er mag dein Erbe sein.«

Heykar nahm sogleich seinen Neffen zu sich, der Nadan hieß und noch an der Brust lag, und erwählte für ihn acht Pflegerinnen, welche ihn in der ersten Kindheit aufziehen sollten. Seitdem wurde der Knabe als der angenommene Sohn des Wesirs behandelt und mit seidenen und purpurnen Kleidern angetan.

Als er erwachsen war, brachte man ihn zu seinem Oheime, der selber die Vollendung seiner Erziehung übernahm und ihn nach und nach Lesen, die Sprachlehre, Sittenlehre und Weltweisheit lehrte: und in wenigen Jahren war Nadan schon mit allen Wissenschaften vertraut.

Der König Sencharib, der unterdessen mit Bedauern das zunehmende Alter seines Ministers sah, redete ihn eines Tages mit folgenden Worten an:

»O du treuster und aufrichtigster aller Freunde! Du, dessen Erfahrung und Weisheit die Glückseligkeit meines Reichs macht! Du mein Minister und der Vertraute aller meiner Geheimnisse! Schon häufen sich die Jahre auf deinem Haupte, und mit Schmerz sehe ich eine unvermeidliche Trennung voraus. Welcher Mann ist würdig, dein Nachfolger in meinem Vertrauen zu sein, und wer wird wie du mein zuverlässiger Ratgeber und die Stütze meines Reichs sein?«

»Herr,« antwortete Heykar, »möge die Dauer Eurer Tage ewig sein! Ich muß Euer Majestät sagen, daß ich meinen Neffen Nadan an Sohnes Statt angenommen, ihn, weil er noch jung ist, in den Wissenschaften unterrichtet und ihn alles gelehrt habe, was ich selber von der Sittenlehre und Weisheit inne hatte.«

»Wohlan,« sagte Sencharib, »so erscheine er vor mir, und wenn ich ihn für fähig erkenne, meine Staaten zu verwalten, so will ich ihm von Stund an dein Amt anvertrauen. Ich will wenigstens deinem Alter eine nunmehr schon notwendig gewordene Ruhe vergönnen. Du sollst aber an meinem Hofe alle Vorrechte eines Ranges behalten, welchen du so lange Zeit durch deine Tugenden verherrlicht hast. Mögen, mein lieber Heykar, deine übrigen Tage nur Tage des Friedens und der Ehre sein!«

Von seinem Oheim vor den König von Assyrien geführt, warf Nadan sich mit tiefer Ehrfurcht nieder, und einige glatte, mit einem zugleich edlen und bescheidenen Ton ausgesprochene Worte verführten den König Sencharib dergestalt, daß er sich sogleich zu seinem Wesir wandte und sprach:

»Du hast recht, Heykar, diesen Jüngling deinen Sohn zu nennen, er scheint solcher Ehre würdig; und so wie du mir und vor mir meinem Vater Sarchadom gedient hast, so soll auch dein Sohn mir dienen, und ich will die Wohlfahrt meines Reichs seiner Obhut anvertrauen und ihn deinetwegen erhöhen, um dich in seiner Person zu ehren.«

Heykar, von Dankbarkeit durchdrungen, warf sich dem Könige zu Füßen, wünschte seiner Regierung eine lange und ruhmvolle Dauer und bat ihn zugunsten Nadans um all seine königliche Nachsicht für die Fehler, welche seine Jugend ihn möchte verschulden lassen.

»Ich schwöre,« rief Sencharib aus, »ihn zum besten meiner Freunde nächst dir zu machen.«

Heykar ging mit seinem Neffen heim, und hier allein mit ihm, wiederholte er ihm nochmals alle die guten Lehren, welche er ihm von Kindheit an gegeben hatte. Mehrere Tage und Nächte währten diese lehrreichen Unterhaltungen in welchen er ihm Lebensregeln und Weisheitslehren einschärfte.

»Mein Sohn,« sprach er zu ihm, »sei aufmerksam auf meine Rede, und möge mein Rat deinem Gedächtnisse immerdar gegenwärtig sein!

Erinnere dich, mein Sohn, daß man demütig sein muß in seiner Jugend, um in seinen alten Tagen geehrt zu werden.

Neige bescheiden dein Haupt zur Erde und wandere mit Festigkeit auf dem Pfade der Tugend.

Wenn du sprichst, so mäßige deine Stimme; denn wenn man durch Geschrei Häuser errichten könnte, so würde der Esel sich weitläuftige Besitzungen erbaut haben.

Mein Sohn, erzähle niemals weder, was du gesehen, noch was du gehört hast: ist ein geheimes Wort vor dir ausgesprochen worden, so laß es in deinem Herzen begraben sein und hüte dich, es jemand mitzuteilen, damit es nicht eine glühende Kohle werde, welche deine Zunge verbrennt, und du vor Gott und Menschen verschmähet werdest.

Höre geduldig jeden an, der zu dir redet, und unterbrich ihn nicht voreilig: man beginnt keine Unterhaltung mit Fragen.

O mein Sohn! trachte nicht nach äußeren Schönheiten: sie sind vorübergehend und vergänglich, während das Gedächtnis des tugendhaften Mannes nimmer verlischt und keinen Wechsel kennt.

Laß dich nicht durch die Reden eines verkehrten Weibes verführen, damit du nicht in ihre Netze fallest und elendiglich umkommest. Flieh vor allem eine mit Wohlgerüchen überschwemmte oder mit prächtigen Kleidern geschmückte Frau: unter diesem glänzenden Äußern verbirgt sich eine niedrige und verächtliche Seele; ihr etwas vertrauen, das dich betrifft, hieße sich an Gott versündigen und sich seinem Zorne aussetzen.

Der Mann ohne Kinder gleicht einem unfruchtbaren Stamme, entblößt von Zweigen, Blättern und Blüten. Sei lieber wie ein am Ufer eines Baches und in der Nähe der Heerstraße stehender Baum: er bietet seine saftigen Früchte den Reisenden, und die Tiere der Wüste flüchten sich unter den Schirm seines Schattens.

Sei nicht wie der Mandelbaum, der früher als alle anderen Bäume Blüten hervortreibt, aber der letzte ist, der Früchte bringt. Gleiche vielmehr dem Maulbeerbaume; denn dieser ist unter allen Bäumen derjenige, der sich am spätesten mit Blättern bedeckt, nachdem er schon lange reife Früchte trägt.

Solange deine Füße beschuhet sind, wandere ohne Furcht über Dornen und bahne zum voraus den Weg für deine Söhne und Enkel.

Zieh deine Rinder mit Strenge; denn die Strenge ist bei der Erziehung, was der Dünger beim Ackerbau, was der Zügel beim Renner.

Beuge deinen Sohn, bevor er aufwächst, damit er nicht, dein Ansehen verspottend, es dahin bringe, daß du an öffentlichen Orten und in Versammlungen das Haupt senken mußt: er würde dich in den Augen deiner Freunde entehren, und auf dich allein würde die Schande seiner Unzucht zurückfallen.

Bei ruhigem Wetter mußt du dein Schiff ausbessern; denn wenn der Sturmwind sich erhebt und dich überfällt, ist dein Schiffbruch unvermeidlich.

Bevor du dich auf den Weg begibst, versieh dich mit deinen Waffen, weil du nicht weißt, wo du deinem Feinde begegnen wirst.

Laß nicht deinen Gefährten dich auf die Füße treten: er würde dich auch bald auf die Brust treten.

Hüte dich, den Haß eines mächtigen Mannes zu erregen; denn er würde deine Schwäche ermessen und dich durch seine Rache vernichten.

Mein Sohn, ich habe manchmal Wermut und Myrrhen genossen, aber ich habe nichts bitterer befunden als die Armut.

Wenn jemals die Armut dich heimsucht, so verbirg deine Dürftigkeit vor aller Augen; denn deine Nachbarn würden zuerst darüber lachen, und deine Klagen würden dir nur Verachtung einbringen.

Man verschwendet den Namen des Weisen an den Reichen, dessen Hand voll ist, selbst wenn er dumm und unwissend ist, indessen derjenige, der nichts zu geben hat, mit dem Namen des Narren verunglimpft wird, wäre er auch der allerweiseste.

Wenn der Reiche eine Natter ißt, so sagen die Leute, er tut es aus Weisheit. Ißt sie ein Armer, so sagt man, es geschieht aus Dürftigkeit.

Beneide nicht den Reichtum eines andern und freue dich nicht über das Unglück deines Nächsten: ebendieses Unglück könnte auf dich zurückfallen. Komm dem Feinde, der dir schaden will, durch deine Wohltaten zuvor. Stirbt er, so freue dich nicht: du wirst bald bei ihm sein, vielleicht in demselben Grabe!

Man muß einem Manne in den Tagen seiner Macht nicht trotzen, so wenig als einem Flusse in der Zeit seiner Überschwemmung.

Sprich nicht: »Mein Herr ist unsinnig; ich allein bin weise.«

O mein Sohn, ein Schaf, welches seinen Lauf zu sehr beschleunigt und sich zu weit von dem Hirten entfernt, der es beschützt, wird die Beute des Wolfes.

So sehr du die Gesellschaft derjenigen suchen mußt, welche in der Furcht Gottes leben, ebensosehr mußt du diejenigen fliehen, welche dich zu ihren verderblichen Wegen verführen würden.

Prüfe zuvor den Freund, welchen du dir erwählst, und sodann geh mit ihm um.

Es ist besser, in der Gesellschaft eines weisen Mannes Steine tragen und sich den härtesten Arbeiten unterziehen, als köstliche Getränke mit einem Bösen trinken. O mein Sohn, vergieß lieber deinen Wein auf dem Grabe der Guten, als daß du ihn mit verderbten Menschen trinkst.

Gib niemals deinen ersten Freund auf: du würdest auch den zweiten nicht lange behalten.

Hilf dem Unglücklichen in seiner Not und sprich für ihn bei dem Könige.

Mein Sohn, laß dich lieber von dem Stocke des Weisen züchtigen, als dich von einem Unwissenden mit Wohlgerüchen und Blumen beschütten.

Die Verblendung des Herzens ist tausendmal schlimmer als die Blindheit der Augen. Der des Gesichts beraubte Mensch kann nach und nach seinen Weg wiederfinden; aber derjenige, dessen Vernunft verfinstert ist, schlägt einen falschen Weg ein und findet sich nie wieder zurecht.

Wenn das Wasser in seinem Laufe stillsteht, wenn der Vögel Flug den Himmel erreicht, wenn der Rabe weiß wird und die Myrrhe die Süßigkeit des Honigs hat – alsdann werden die Unwissenden und Unsinnigen die Weisheit begreifen und die Vernunft zu ihrem Führer annehmen.

Der Unweise stößt sich an einen Stein und fällt: der Weise stolpert, aber fällt nicht, oder wenn er einen Fehltritt tut, so richtet er sich wieder auf. Befällt ihn eine Krankheit, so weiß er sich selber zu heilen: die Krankheit der Unweisen hat aber kein Heilmittel.

Der wahrhafte Weise ist zurückhaltend mit drei Dingen: mit der Zunge, mit den Händen und mit den Augen. Laß deinem Munde kein Wort entschlüpfen, was du nicht zuvor in deinem Herzen überlegt hast.

O mein Sohn, es gibt vier Dinge, bei welchen weder eine Regierung noch ein Kriegsheer bestehen kann, nämlich die Tyrannei eines Ministers, die Ungeschicklichkeit in der Verwaltung, die Gewissenlosigkeit in der Politik und die Bedrückung des Volks.

Es gibt vier andere Dinge, welche sich nicht geheimhalten lassen: Wissenschaft und Unwissenheit, Armut und Reichtum.«

Dies waren die Lehren, welche der weise Heykar dem Nadan gab; er wähnte, sein Neffe hätte sie tief in sein Herz geschrieben, und er war weit entfernt, zu argwöhnen, daß so viel auf seine Erziehung verwendete Sorgfalt noch einst mit dem schwärzesten Undank bezahlt werden sollte.

Nachdem Heykar sich nun der öffentlichen Geschäfte entledigt hatte, zog er sich in sein Haus zurück und vertraute Nadan auch die Verwaltung seiner Reichtümer; er gab ihm unbeschränkte Macht über sein ganzes Haus, über seine Sklaven, seine Pferde, seinen Hausrat, seine Herden, kurz, über alles, was er besaß. Er führte ihn sodann bei dem König ein und übergab seinen Händen das Amt des ersten Ministers von Assyrien.

 

Fünfhundertundzweiundsechzigste Nacht

Die Macht erzeugt den Hochmut: Nadan, der jetzt Herr von allem war, nur seine Neigungen als Gesetz, seinen Willen als Zügel erkannte und nach Gefallen über die unermeßlichen Reichtümer seines Oheims schaltete, behandelte seinen Wohltäter bald nur mit Verachtung. Ja, er fügte zu dem Undanke noch die Unverschämtheit und wagte es sogar, ihn öffentlich zu verspotten, indem er zu jedem sagte, der es hören wollte:

»Mein Oheim ist fast schon wieder in der Kindheit, seine Reden schmecken etwas nach seiner Hinfälligkeit: der Arme versteht fast nichts mehr von den Angelegenheiten des Lebens.«

Dabei schlug er seine Sklaven, verkaufte seine Besitztümer und Pferde und verschwendete töricht die langsam erworbenen Güter.

Entrüstet über diese Aufführung seines Neffen, jagte ihn Heykar aus seinem Hause und unterrichtete den König von dem, was vorging.

Sencharib ließ Nadan kommen und erklärte ihm, solange Heykar lebte, hätte keiner das Recht, sich die mindeste Gewalt in seinem Hause anzumaßen.

Der alte Minister war tief betrübt; er bereute bitterlich alle Mühe, welche er sich mit Nadans Erziehung gegeben hatte. Nadan hatte aber noch einen jüngeren Bruder namens Ebnasadam: diesen berief nun Heykar zu sich, überhäufte ihn mit Ehren, vertraute ihm alle die Macht an, welche er den Händen seines Bruders wieder entzogen hatte, stellte ihn an die Spitze seines Hauses und ernannte ihn zum Verwalter aller seiner Güter.

Als Nadan den von Heykar gefaßten Entschluß sah, ergriff ihn eine grimmige Eifersucht. Sein Oheim ward der stete Gegenstand seiner Klagen oder seiner Spöttereien. »Da er mich aus seinem Hause gejagt,« sagte er, »und meinem Bruder die mir gebührenden Vorzüge und Vorteile eingeräumt hat, so verlange ich vom Himmel nichts mehr als die Macht, mich zu rächen; und diese Macht soll die List mir verschaffen.« Und von Stund an sann er im stillen auf Mittel, Heykar zu verderben, indem er ihn in irgend eine Schlinge verwickelte, die seinen Sturz unvermeidlich machte. Auf folgende Weise fing er es an.

Er schrieb an Akis, den König von Persien, einen Brief, der also lautete:

»Heil und Ehre dem Könige von Persien von seiten Sencharibs, des Königs von Assur und Ninive!

Sobald dieser Brief dir zukommt, so mache dich auf und komm eilig in die Ebene von Baschrin: dort will ich dir ohne Streit meine Hauptstadt und mein Reich überliefern.«

Ein ähnlicher Brief wurde an den Pharao, König von Ägypten, geschrieben. Nadans Schrift glich völlig der Schrift seines Oheims, und um dies noch täuschender zu machen, setzte er Heykars Siegel darauf; und nachdem er beide Briefe versiegelt hatte, warf er sie in den Palast des Königs.

Als dies geschehen war, schmiedete er einen dritten Brief im Namen Sencharibs, welcher sich darin also vernehmen ließ:

»Der König von Assur und Ninive an Heykar, seinen ersten Minister und vertrauten aller seiner Geheimnisse.

Versammle alle unsere Truppen, laß sie wie zu einem Treffen ausrüsten und führe sie nächsten Donnerstag in die Ebene von Baschrin. Sobald du mich dort ankommen siehst, so befiehl den Truppen, auf mein Gefolge loszustürzen und mich wie einen Feind anzugreifen. Du weißt, daß die Gesandten des Pharaos, des Königs von Ägypten, gegenwärtig an meinem Hofe sind: ich will, daß sie Zeugen dieser kriegerischen Übung seien, damit sie daraus die Gewandtheit meines Heeres erkennen und uns fürchten.«

Dieses Schreiben vertraute Nadan einem Sklaven des Palastes, der es zu Heykar trug.

Unterdessen wurden die beiden an die Könige von Persien und Ägypten gerichteten Briefe gefunden und dem Könige Sencharib übergeben. Erstaunt und entrüstet über ihren Inhalt zeigte er sie dem Nadan, welcher mit angenommener Verlegenheit, und als wenn dieses Bekenntnis ihn viel kostete, sie für die Handschrift seines Oheims erkannte.

»Was habe ich denn Heykar Böses getan,« rief der König aus, »um zu verdienen, daß er meine Wohltaten mit solcher Treulosigkeit vergilt!«

»Herr,« sagte der hinterlistige Nadan darauf, »Euer Majestät überlasse sich nicht zu frühzeitig diesem Schmerze: wartet, bis die Tat solche Anzeigen bestätigt und Ihr Euch mit Euren eigenen Augen von Heykars Verrat überzeugen könnt. Nur auf der Ebene von Baschrin wird Euch dieses Geheimnis aufgeklärt werden.«

Als der Donnerstag gekommen war, begab sich Sencharib auf Nadans Rat mit den Großen seines Hofes und in Begleitung eines zahlreichen Gefolges und der Truppen des Palastes nach der Ebene von Baschrin. Dort angelangt, sah er Heykar an der Spitze eines in Schlachtordnung gestellten Heeres.

Kaum hatte dieser den König erblickt, als er in seinem unbeschränkten Diensteifer und im Wahne, daß er nur genau die in dem untergeschobenen Briefe Nadans ihm vorgeschriebenen Befehle seines Herrn erfüllte, den Truppen das Zeichen gab, auf die Begleitung des Königs loszustürzen: er wußte nicht, welchen Abgrund ihm sein Neffe unter seinen Füßen gegraben hatte.

Zeuge dieser Handlung des Wesirs, konnte der König weder seine Bestürzung noch seinen Zorn verbergen. »Ihr seht mit Euren eigenen Augen,« sagte nun Nadan, »alles, was der Verräter Heykar imstande ist gegen Euer Majestät zu unternehmen. Aber verbannet alle Furcht; Euer Palast ist ein sicherer Zufluchtsort, kehret dahin zurück; es ist meine Sorge, Euch den Schuldigen mit gebundenen Händen und Füßen vorzuführen.«

Der Rat wird befolgt: Sencharib kehrt nach seinem Palast zurück, und Nadan begibt sich eilig zu seinem Oheim und spricht im Namen des Königs zu ihm:

»Der König ist mit Euch zufrieden, er erteilt der Genauigkeit, mit welcher Ihr seine Befehle soeben ausgeführt habt, die größten Lobsprüche. Gegenwärtig will er, daß Ihr Eure Truppen umkehren lasset und Ihr selber, an Händen und Füßen mit Ketten belastet, vor seinem Thron erscheinet, damit die Gesandten von Ägypten, welche hier Zeugen Eurer Macht gewesen, es auch von Eurer Unterwerfung seien. Diese Fremdlinge können hieraus die ganze Ehrfurcht ermessen, welche die Hoheit des Königs von Assyrien den Großwürdenträgern des Reichs einflößt, und sie werden die Kunde davon an den Hof Pharaos bringen.«

Heykar antwortete auf diese hinterlistige Rede durch neue Beteuerungen seines Gehorsams in allem, was Sencharibs Wille wäre. Er ließ sich sogleich die Füße und Hände binden und durch Nadan nach dem Palaste des Königs führen, und hier neigte er in der Gebärde der tiefsten Unterwürfigkeit seine Stirn bis auf den Boden.

Als Sencharib ihn so zu seinen Füßen sah, warf er ihm mit Heftigkeit seinen Undank vor und zeigte ihm die beiden Briefe, welche in seinem Namen und mit seinem Petschaft besiegelt an die Könige von Persien und Ägypten geschrieben waren.

Bei diesem Anblicke war Heykar bestürzt; sein Geist verwirrte sich, alle seine Glieder zitterten, die Zunge klebte ihm fest am Gaumen, und vergeblich wollte er seine so lange bewährte Weisheit zu Hilfe rufen: er konnte kein einziges Wort hervorbringen. So stand er mit gesenktem Haupte in stummer Bestürzung.

Der erzürnte König legte dieses Stillschweigen zu seinem Nachteil aus und befahl, ihn mit dem Tode zu bestrafen.

Und jetzt fügte Nadan auch noch Niederträchtigkeit zu der tiefsten Verworfenheit und überhäufte seinen Oheim mit Schmähungen.

»Nichtswürdiger Heykar,« wagte er ihm zuzurufen, »was hilft dir nun deine Spitzbüberei? Welchen Lohn erwartest du von dem Verrate, welchen du gegen deinen Wohltäter und Herrn anstiftetest?«

 

Fünfhundertunddreiundsechzigste Nacht

Unterdessen kommt der Scharfrichter: er hieß Abu-Someika. Der König befiehlt ihm, Heykar zu ergreifen und ihm vor seiner eigenen Haustür das Haupt abzuschlagen.

Heykar, der jetzt erst wieder zu sich gekommen war, ließ sich nur in folgenden Worten vernehmen: »Ihr habt meinen Tod befohlen, und ich ehre den Willen meines Königs: möge mein Hintritt zur Wohlfahrt Eures Reiches ausschlagen. Aber ich bin unschuldig, und es wird ein Tag kommen, wo die Bösewichter von ihren Handlungen Rechenschaft geben müssen. Ich bitte nur um die letzte Gnade, daß mein Leichnam meinen Sklaven übergeben werde, damit sie mir die Ehre der Bestattung erweisen.«

Der König bewilligte diesen letzten Wunsch Heykars; und als dieser den Augenblick seiner Hinrichtung herannahen sah, schickte er zu seiner Gattin und hieß sie eine große Anzahl junger Sklavinnen versammeln, sie prächtig ankleiden und mit ihnen zu ihm kommen, um seinen Tod zu beweinen. Zugleich trug er ihr auf, für Abu-Someika und die Soldaten seines Gefolges eine prächtige Tafel zu bereiten, welche mit Speisen und Weinen aller Art im Überflüsse besetzt wäre.

Heykars Gemahlin, die mit durchdringendem Scharfsinne begabt war und viel Verstand und Klugheit damit vereinigte, begriff bald die Absicht dieses Befehls und vollzog ihn getreulich. Und als der Scharfrichter mit seinen Leuten ankam, fanden sie ein prächtiges Mahl, welches sie erwartete: man schenkte ihnen den köstlichsten Wein im Übermaße, und da sie sich gierig den Vergnügungen der Tafel überließen, so wurden sie bald berauscht.

Heykar, der diesen Augenblick mit Ungeduld erwartete, nahm Abu-Someika beiseite und sprach also zu ihm:

»Erinnere dich, Abu-Someika, des Tages, wo der König Sarchadom, Sencharibs Vater, deinen Tod befahl: du weißt, daß ich dich mit in mein Haus nahm und dich an einem heimlichen Orte verbarg, um abzuwarten, bis der Zorn des Königs sich besänftigt hätte. Was ich vorausgesehen hatte, geschah: auf die Entrüstung folgte bald die Reue; und als ich überzeugt war, daß Sarchadom deinen Verlust bitterlich bedauerte, stellte ich dich ihm vor, und sein Herz wurde bei deinem Anblicke von Freuden erfüllt. So verdankst du meiner Veranstaltung dein Leben, vergiß nicht dieser Wohltat, o Abu-Someika! Tu heute für mich, was ich damals tat, dich zu retten. Ich bin das Schlachtopfer einer Verleumdung, und der König ist nur getäuscht: heute verurteilt er mich, und morgen vielleicht schon beweint er meinen Tod.

In meinem Hause befindet sich ein aller Welt unbekanntes unterirdisches Gemach; erlaube, daß dieses mein Zufluchtsort sei und meine Frau allein um das Geheimnis wisse. Einer meiner Sklaven, dessen Verbrechen den Tod verdient haben, ist gegenwärtig in meinen Gefängnissen versperrt: der muß alsbald herausgezogen, mit meinen Kleidern bedeckt und an meiner Statt hingerichtet werden. Deine Leute, die berauscht sind, vermögen nicht, die Verwechslung zu bemerken. Du überlieferst hierauf den Leichnam meinen Sklaven, um ihn zu bestatten, so wie es Sencharib verfügt hat. Auf solche Weise, o Abu-Someika, wirst du dir ewigen Anspruch auf meine Erkenntlichkeit erwerben und zugleich dem Könige und Heykar einen Dienst leisten.«

Abu-Someika war kein Undankbarer, er tat getreulich alles, was sein alter Wohltäter ihm vorschrieb, und die Täuschung gelang vollkommen. Man ging auf der Stelle hin zu dem Könige und verkündete ihm, daß sein Minister aufgehört hätte zu leben.

Heykars Gattin, welche allein seinen Aufenthalt kannte, stieg alle Wochen nur einmal in das Gewölbe hinab, um ihm Lebensmittel zu bringen.

Bald verbreitete sich in Ninive und in den Provinzen das Gerücht, daß der König seinen ersten Minister hatte hinrichten lassen, und das allgemeine Bedauern, welches dieser Verlust verursachte, ward in allen Teilen des Reichs laut. »Tugendhafter Heykar,« rief man überall aus, »wie sehr vermissen wir deine Wissenschaft, deine Geschicklichkeit, deine Weisheit! Wie groß wird nicht nach deinem Tode die Schmach des Reichs werden! Wo wird der König von Assyrien jemand finden, einen Minister, wie du warst, zu ersetzen?«

Sencharib seinerseits fühlte auch bald den ganzen Umfang seines Verlustes; die Reue preßte ihm Tränen aus, und er überließ sich vergeblichen Wehklagen.

Eines Tages wollte er öffentliche Beweise seiner Betrübnis ablegen und befahl Nadan, alle Freunde seines Oheims zu versammeln, mit ihnen Trauerkleider anzuziehen, auf dem Grabe Heykars zu wehklagen und seinem Gedächtnis eine Totenfeier zu widmen. Aber der greuliche Nadan, anstatt diesen Befehl, der ihm hätte geheiligt sein sollen, zu erfüllen, versammelte eine Bande ebenso nichtswürdiger und verderbter junger Leute, wie er war, und lud sie zu einem Feste in das Haus seines Oheims selber: und hier überließ er sich mit ihnen allen Ausschweifungen einer zügellosen Lustigkeit. Er schlug die Sklaven mit der äußersten Grausamkeit, ehrte selbst nicht die Witwe seines Oheims, welche ihm in seiner Kindheit so viel Sorgfalt erwiesen hatte, und trieb die Niederträchtigkeit so weit, sogar verruchte Reden gegen sie zu führen.

Der unglückliche Heykar hörte all diesen Lärm in der Tiefe seines Zufluchtsortes. Er hob seine Arme gen Himmel und schickte zu Gott heiße Gebete empor, welche nur durch seine Seufzer unterbrochen wurden.

Abu-Someika kam manchmal unter Begünstigung der Nacht in das Gewölbe, und seine Tröstungen erleichterten die Leiden des Gefangenen: er vermischte seine Tränen mit den seinigen und verließ ihn niemals ohne heiße Wünsche für seine Befreiung.

Unterdessen gelangte die Nachricht von Heykars Tode bald in die benachbarten Königreiche. Schon lange eifersüchtig auf die wachsende Macht Ninives, freuten sich alle Könige darüber. Sie wußten aus Erfahrung, welches Übergewicht Heykar dem Throne Assyriens über seine Nachbarn zu geben vermochte. Nunmehr durch den Tod eines so furchtbaren Mannes ermutigt, erhob der König von Ägypten zuerst das Kriegsbanner und suchte einen Vorwand zur Feindseligkeit, um die Staaten Sencharibs zu überziehen: er schrieb ihm einen Brief, welcher also lautete:

»Heil und Ehre dem Könige Sencharib! Ägypten ist die Mutter der Welt: alle Völker nennen seine Gebäude Wunderwerke; ich nun will noch weitergehen als die Pharaonen, meine Vorfahren. Ich will einen Palast zwischen Himmel und Erde bauen. Findet sich in deinen Staaten ein so geschickter Baumeister, dieses Wunderwerk auszuführen, der zugleich so unterrichtet ist, um ohne Anstoß die schwierigsten Fragen aufzulösen, so sende ihn mir. Ich verspreche dir dafür die dreijährigen Einkünfte von Ägypten: wo nicht, so sollst du mir die dreijährigen Einkünfte von Assyrien entrichten.

Pharao.«

 

Fünfhundertundvierundsechzigste Nacht.

Die erste Bewegung Sencharibs bei Lesung dieses Briefes war Unwillen; bei alledem mußte er einen Entschluß fassen, und die Verlegenheit begann.

Nachdem er den Großen seines Hofes die seltsame Forderung des Königs von Ägypten mitgeteilt und sich völlig überzeugt hatte, daß keiner von ihnen es übernehmen wollte, darauf zu antworten, berief er eine große Versammlung von Gelehrten, Weisen, Naturkundigen und Sterndeutern.

»Wer unter euch«, sprach er zu ihnen, »will sich an den Hof Pharaos begeben und seine Aufgaben lösen?«

Bei dieser Aufforderung standen alle bestürzt da.

»Es gab in Euren Staaten nur einen einzigen Mann,« sprachen sie zu ihm, »der imstande gewesen wäre, diese spitzfindigen Fragen zu lösen, und dieser Mann war der weise Heykar. Keiner von uns vermöchte, ihn zu ersetzen: sein Neffe Nadan allein, dem er seine Weisheit mitgeteilt hatte, könnte die Lösung von dergleichen Schwierigkeiten unternehmen.«

Als nun Nadan befragt wurde, begnügte er sich zu erklären, daß Pharaos Forderung unsinnig wäre, und man müßte ihn nach seinem Gefallen eingebildete und unmögliche Dinge erträumen lassen, ohne sich mit einer Antwort darauf zu behelligen.

Bei diesen Worten versank Sencharib wieder in tiefe Traurigkeit: jetzt erst fühlte er mit ganzer Bitterkeit Heykars Verlust. Er stieg von seinem Throne, setzte sich in die Asche, und Tränenströme entstürzten seinen Augen.

»Heykar, mein geliebter Heykar!« rief er mit dem Tone des tiefsten Schmerzes aus, »warum bist du nicht mehr an meiner Seite? Du hättest mit einem einzigen Worte die Rätsel Pharaos aufgelöst. Du, der alle Geheimnisse der Wissenschaft inne hatte, und dem nichts verborgen war, was auf Erden vorgeht. Du wärest mein Ruhm, und ich habe dich hinrichten lassen! Ich Unglückseliger! wie konnte ich dich töten lassen auf das bloße Wort eines Jünglings ohne Erfahrung – und vielleicht ohne Tugend? Wehe! ich habe dich mit beklagenswerter Übereilung verdammt, und ich ernte jetzt die Früchte davon. Gewissensbisse werden unaufhörlich mein Leben beunruhigen und nur mit demselben enden. Ach! wenn jemand dich wieder ins Leben rufen und mir wieder zuführen könnte, die Hälfte meines Reichs sollte ihm gehören!«

Abu-Someika, der Zeuge dieses Schmerzes des Königs war, zweifelte nicht mehr an seiner Reue; die Tränen, welche er fließen sah, verhießen ihm Heykars Begnadigung, und er erkannte, daß die Stunde der Befreiung für den unglücklichen Wesir geschlagen hatte.

Er nahte sich also ehrfurchtsvoll dem Könige, fiel ihm zu Füßen und sprach:

»Herr, befehlet meinen Tod!«

»Was hast du denn verbrochen?« fragte Sencharib verwundert.

»Jeder Untertan, der seinem Herrn nicht gehorcht, verdient den Tod,« fuhr Abu-Someika fort, »und ich bin Euch ungehorsam gewesen.«

Und hierauf erzählte er, wie er, überzeugt von Heykars Unschuld, an seiner Stelle einen schuldigen Sklaven hingerichtet hatte. »Heykar«, fügte er hinzu, »ist noch am Leben. Und wenn Ihr es erlaubt, so will ich ihn auf der Stelle Euren Augen zeigen. Indem ich ihn für Euch erhielt, glaubte ich dem Staat einen Dienst zu leisten. Das, Herr, ist mein Verbrechen: gebietet nun meinen Tod oder meine Begnadigung; mein Leben steht in Eurer Hand.«

Die Wirkung dieser Rede auf das Gemüt des Königs von Assyrien war wundersam. Anfangs konnte er nicht glauben, was er soeben hörte; sodann, durch die wiederholten Beteuerungen Abu-Someikas überzeugt, überließ er sich einer so lebhaften und unmäßigen Freude, daß er beinahe den Verstand darüber verloren hätte. Das erste Wort, was er sprach, war, daß man Heykar herführen sollte.

Der edelmütige Abu-Someika war schon an der Türe des Gewölbes: in eben diesem Augenblicke betete Heykar zu Gott und überließ sich mit steter Ergebung in sein Mißgeschick frommen Betrachtungen.

»Befreiung!« rief ihm Abu-Someika aus der weitesten Ferne zu, sobald er ihn erblickte, »Befreiung!«, und sogleich erzählte er ihm, was eben vorgegangen war, und beide erschienen vor dem Könige.

Sencharib konnte nicht, ohne von Mitleid gerührt zu werden, den Zustand ansehen, in welchem sich gegenwärtig Heykar befand. Seine Gesundheit war untergraben, sein Gesicht bleich, sein Leib ganz mit Staub bedeckt, seine Haare und seine Nägel waren von übermäßiger Länge; er hatte beinahe nicht mehr das Ansehen eines Menschen. Der König stand auf, lief ihm entgegen und umarmte ihn mit Tränen.

»Gelobt sei der Ewige,« sagte er zu ihm, »daß er dich dem Tode entrissen und meiner Freundschaft wiedergeschenkt hat!«

»Meine Ungnade«, antwortete Heykar, »ist das Werk eines Treulosen und Undankbaren gewesen: das ist's, was man von den Kindern des Frevels zu erwarten hat. Ich habe einen Palmbaum gezogen, damit er zur Stütze meines Alters dienen sollte, und dieser Palmbaum hat sich auf mich gestürzt und mich umgeworfen. Aber da der Himmel ein Eurem Dienste gewidmetes Leben erhalten hat, so verbannet fortan alle Unruhe und ladet die Sorgen des Reichs auf mich.«

»Nicht weniger erwarte ich von deinem Eifer,« sagte Sencharib; »aber ich will, daß diese ersten Tage deiner Freiheit gänzlich der Ruhe gewidmet seien.«

Heykar beurlaubte sich nun von dem Könige von Assyrien, der ihm die Bezeigungen einer zärtlichen Freundschaft wiederholte. Der treue Abu-Someika wurde mit einem Ehrenpelze bekleidet und der Dienst, welchen er dem Fürsten geleistet hatte, durch reiche Geschenke und glänzende Freigebigkeit belohnt.

Nadan aber, als Zeuge von allen diesen Vorgängen, war dergestalt von Unruhe und Schrecken ergriffen, daß er in seiner Angst nicht mehr wußte, wozu er sich entschließen, an wen er sich wenden sollte.

Unterdessen waren die Tage, welche Heykar der Ruhe widmen sollte, verflossen und seine Gesundheit hergestellt: er legte nun seine prächtigsten Kleider an, und mit einem zahlreichen Gefolge erschien er wieder vor Sencharib mit allen Zeichen seines vorigen Ranges.

Sencharib empfing ihn mit großer Auszeichnung, ließ ihn an seiner Seite sitzen und zeigte ihm den Brief Pharaos. Zugleich machte er ihm bekannt, daß schon eine große Menge Assyrer nach Ägypten entflohen wären aus Furcht, daß sie gezwungen werden möchten, ihren Teil an der von Pharao geforderten Schatzung zu bezahlen, wenn seine Aufgabe nicht gelöst würde.

»Wohlan,« rief Heykar aus, nachdem er den Brief gelesen hatte, »ich selber will nach Ägypten gehen: ich will alle seine Fragen beantworten und alle seine Aufgaben auflösen. Ich verspreche es Euch, nicht allein alle Flüchtlinge zurückzubringen, sondern auch Pharao zu nötigen, selber Euch die Schatzung zu zahlen, welche er von Euch fordert. Verbannet, Herr, von diesem Augenblicke an alle Furcht; mit Gottes Hilfe will ich alle Eure Feinde zuschanden machen. Ich verlange nur vierzig Tage zu den Vorbereitungen meiner Reise.«

Diese Versicherung erfüllte Sencharibs Herz mit Freuden; alle seine Unruhe verschwand; er vertraute der Kunde des geschickten Ministers, welchen die Vorsehung ihm gewährt hatte, und die Anforderung des ehrgeizigen Pharao erschien ihm nur noch als eitle Spitzfindigkeit, welche vor der bewährten Weisheit Heykars von selber in ihr Nichts verschwinden müßte.

 

Fünfhundertundfünfundsechzigste Nacht.

Als Heykar nach Hause gekommen war, ließ er einige Jäger rufen und befahl ihnen, zwei große Adler zu fangen. Man brachte sie ihm; und nun ließ er zwei Kästen von sehr leichtem Holze machen und zwei seidene Stricke, zweitausend Ellen lang, drehen.

Als alles dieses fertig war, ließ er sich zwei junge Knaben bringen und übte sie täglich, sich in den beiden Kästen, welche er an die Klauen der Adler befestigte, aufrecht zu halten, so daß diese Vögel, wenn sie sich zum Fluge emporschwangen, sie mit in die Lüfte führten, während Heykar das Ende der Stricke, woran die Adler geknüpft waren, in seinen Händen behielt. Sehr oft wurde diese Übung wiederholt, und allmählich gewöhnten sich die Adler daran. Man gab ihnen Hammelfleisch zur Speise, und diese Nahrung stärkte sie sehr. Anfangs ließ man sie nur zu einer mäßigen Höhe emporsteigen, sodann wagte man sich etwas höher; kurz, die vierzig Tage waren noch nicht verflossen, als sie sich schon so hoch erhoben, wie die Länge der Seile es nur verstattete. Heykar hatte dabei die Knaben abgerichtet, wenn sie in der Luft schwebten, mit aller Macht auszurufen:

»Bringet uns Steine und Mörtel, damit wir hier dem Könige Pharao einen Palast erbauen. Wir warten nur noch auf dieses Bauzeug. Sputet euch doch, es uns zukommen zu lassen! ... Es ist unerhört, daß ihr uns hier so müßig lasset!«

Nunmehr des Erfolges seiner Erfindung versichert, verfügte Heykar sich wieder zu dem Könige von Assyrien und erbot sich, in seiner Gegenwart einen Versuch damit zu machen. Sencharib in Begleitung der Großen seines Hofes begab sich auf eine Ebene in der Nähe, um Zeuge dieses neuen Schauspiels zu sein. Er war so verwundert über die sinnreiche Erfindung seines Wesirs, daß er ihn vor seinem ganzen Hofe umarmte, ihm neue Ehren zuteilte und ihm erlaubte, auf der Stelle nach Ägypten abzureisen.

Heykar nahm Abschied von dem König, und im Gefolge einer zahlreichen Bedeckung machte er sich noch denselben Tag auf den Weg und nahm die beiden Knaben und Adler mit sich.

Bald verbreitete sich durch ganz Ägypten das Gerücht, daß der König von Ninive einen Gesandten an Pharao geschickt hätte, welcher sein Rätsel auflösen sollte. Als die Kunde davon auch zu Pharaos Ohren kam, befahl er den vornehmsten Beamten seines Hofes, dem assyrischen Gesandten entgegenzugehen und ihn seinem Range gemäß zu empfangen.

Sobald Heykar angekommen war, wurde er mit Gepränge zum Palaste des Königs geführt, und nachdem er sich hier ehrfurchtsvoll vor ihm niedergeworfen hatte, redete er ihn also an:

»Herr, der König Sencharib, mein Gebieter grüßt Euch! Ihr seht vor Euch denjenigen seiner Sklaven, welchen ihm gefallen hat Euch zu senden, um auf Eure Fragen zu antworten. Ihr habt ihm Euer Verlangen ausgedrückt, einen Palast zwischen Himmel und Erde zu erbauen: ich komme mit Gottes Hilfe und in Voraussetzung Eurer erhabenen Genehmigung, diesen Wunsch Eurer Majestät zu erfüllen. Wenn dieses Unternehmen mir mißlingt oder ich eine einzige Eurer Fragen unbeantwortet lasse, wird mein Herr Euch die dreijährigen Einkünfte seiner Staaten entrichten. Wenn dagegen ich die von Euch auferlegten Bedingungen erfülle, so werdet Ihr ihm denselben Tribut senden. König von Ägypten! Solches ist Euer Versprechen gewesen, und Ihr werdet dasselbe halten: das Wort der Könige ist unwiderruflich wie die Beschlüsse des Himmels.«

Die edle Einfachheit dieser Worte und der zuversichtliche Ton, mit welchem sie ausgesprochen wurden, überraschten den König von Ägypten dermaßen, daß er den Namen des Gesandten Sencharibs zu wissen wünschte.

»Ich nenne mich Abimakam,« antwortete Heykar, der nicht erkannt sein wollte, »und ich bin nur einer der geringsten Würmer in den Staaten des Königs von Assyrien.«

»Hat denn dein Herr«, fuhr Pharao fort, »keinen Mann von höherem Ansehen und Rang gehabt, welcher der wichtigen und schwierigen Sendung, womit er dich bei mir beauftragt hat, angemessener gewesen wäre?«

»Um dieser Sendung zu entsprechen,« sagte Heykar, »habe ich nur die Gnade des Himmels anzuflehen: der Himmel bedient sich oft der Schwachen, um den Mächtigen in Erstaunen zu setzen.«

Hiermit endigte diese erste Zusammenkunft. Der König von Ägypten befahl, den Gesandten von Assyrien und die Leute seines Gefolges in die für sie bestimmte Wohnung zu führen, wo sie alle Bequemlichkeiten des Lebens finden würden.

Am dritten Tage wurde Heykar zu Pharao berufen, der auf seinem Throne saß, umgeben von den Großen seines Reichs und angetan mit dem königlichen Purpur. Sobald der Minister Sencharibs hereingeführt war, redete der König ihn lebhaft mit folgenden Worten an:

»Blicke umher auf diese Versammlung, o Abimakam, und sage uns ohne Besinnen, wem gleiche ich, und wem gleichen die Großen meines Hofes?«

»Ihr, Herr,« antwortete Heykar, »Ihr gleichet einem Götzen, und die Euch umgebenden Großen gleichen den Götzendienern.«

Zufrieden mit dieser Antwort, entließ der König den Gesandten von Assyrien und befahl ihm, am folgenden Morgen wieder zu erscheinen.

Pharao hatte heute ein rotes Kleid angezogen und die Großen des Reichs sich weiß kleiden lassen.

»Wem gleiche ich nun,« fragte er abermals Heykar, »und wem gleichen die Großen meines Hofes?«

»Ihr gleichet der Sonne,« antwortete Heykar, »und die Großen Eures Reichs gleichen den Strahlen dieses Gestirns.«

Hierauf entließ ihn Pharao wieder, und am folgenden Morgen kleidete er sich ebenfalls weiß wie die Großen seines Hofes, und als Heykar erschien, wiederholte er dieselbe Frage:

»Wem gleiche ich nun, o Abimakam, und wem gleichen meine Hofleute?«

»Ihr gleichet dem Monde,« antwortete Heykar, »und Eure Hofleute gleichen den Sternen, welche ihm als Hofstaat dienen.«

Heykar wurde abermals entlassen, und am folgenden Tage, als er vor dem Könige von Ägypten erschien, fand er ihn wieder rot gekleidet, die Großen seines Hofes aber trugen Kleider von verschiedenen Farben.

»Womit vergleichst du mich jetzt?« fragte ihn Pharao, »und womit vergleichst du die Großen meines Reichs?«

»Euch,« antwortete Heykar, »Euch vergleiche ich dem Monat Nisan und die Großen Eures Hofes den Blumen, welche er hervorbringt.«

»Wohlan,« fuhr Pharao fort, der durch alle diese Antworten höchst befriedigt war, »weil du uns, mich und die Großen meines Hofes, zuerst einem Götzen und seinen Priestern, sodann der Sonne und ihren Strahlen, ferner dem Monde und den Gestirnen und endlich dem Monat Nisan und seinen Blumen verglichen hast, so sage nun auch, womit vergleichst du deinen Herrn Sencharib und die Großen seines Hofes?«

Bei dieser Frage stieß Heykar einen lauten Schrei aus. »Gott behüte mich,« sprach er, »hier den Namen meines Herrn auszusprechen, während Ihr auf Eurem Throne sitzet! Nur wenn ich Euch stehen sehe, kann ich von dem Könige von Assyrien zu Euch reden.«

Ganz erstaunt über die Seltsamkeit dieser Anrede und über die Zuversichtlichkeit dieses Redners, stieg Pharao von seinem Thron, und indem er so vor dem Gesandten Sencharibs stand, wiederholte er seine Frage:

»Sage mir nun, o Abimakam, womit vergleichst du deinen Herrn und die Großen seines Hofes?«

»Mein Herr,« rief Heykar aus, »gleicht dem Gotte des Himmels und der Erden, und seine Diener um ihn her sind wie die Blitze und der Donner: er gebietet, und das Ungewitter bricht los, die Sonne verbreitet nicht mehr ihr Licht, der Mond und die Gestirne werden in ihrem Laufe gehemmt: er gibt ein Zeichen, und der Donner grollt, der Regen sinkt in Strömen hernieder, und die entfesselten Stürme stürzen auf die Erde herab, verstören den Monat Nisan und zerstreuen seine Blumen!«

Diese so unerwartete und dreiste Antwort des vorgeblichen Abimakam machte den Pharao für einen Augenblick bestürzt. Er konnte nicht glauben, daß eine solche Antwort aus dem Munde eines gemeinen Menschen käme.

»Abgesandter von Assyrien,« sprach er zu ihm, »verhehle mir nicht die Wahrheit: wie ist dein wahrer Name? Wer bist du?«

Heykar wollte sich nicht länger verbergen, er antwortete alsbald:

»Ich bin Heykar, Minister des Königs Sencharib, der Vertraute all seiner Geheimnisse, der Ratgeber und Lenker seines Reichs.«

»Ja,« rief Pharao aus, »du bist, ohne Widerrede, der weise Heykar! Diesmal hast du mir die Wahrheit gesagt. Aber woher kommt es, daß man das Gerücht deines Todes verbreitet hatte?«

»Der König Sencharib,« antwortete Heykar, »hatte, durch boshafte Verleumdungen getäuscht, in der Tat meinen Tod befohlen: aber Gott, der auch die geheimsten Dinge kennt, hat mein Leben gerettet. Glücklich ist der Sterbliche, der auf ihn seine Hoffnung setzt!«

Pharao erlaubte nun Heykar, sich zu entfernen, und verlangte von ihm, er sollte den folgenden Morgen wieder erscheinen und ihm etwas kundtun, was weder er noch irgend einer seiner Untertanen jemals gehört hätte.«

Als Heykar allein war, schrieb er einen Brief, welchen er am folgenden Morgen Pharao überreichte. Derselbe lautet also:

 

Fünfhundertundsechsundsechzigste Nacht.

»Der König von Ninive und Assyrien entbeut dem Könige von Ägypten seinen Gruß!

Der Bruder bedarf manchmal seines Bruders, und du bist es, zu dem ich meine Zuflucht nehme: ich brauche sechshundert Talente Goldes, um einen Teil meines Heeres auszurüsten. Ich hoffe, du wirst geruhen, mir diese Summe zu leihen.«

»Es ist sehr wahr,« sagte lachend der König von Ägypten, »daß niemals eine solche Forderung an mich gemacht worden ist, und daß ich zeitlebens nicht dergleichen gehört habe.«

»Gleichwohl,« versetzte Heykar, »es ist eine Schuld, welche Ihr gegen meinen Herrn eingegangen seid, und deren Ihr Euch bald entledigen müßt.«

Pharao verstand die Meinung Heykars und rief aus:

»Dir, Heykar, sollten alle Diener der Könige gleichen! Ehre dem ewigen Wesen, welches dir die Weisheit verliehen und deinen Geist mit so viel Verstand und Wissenschaft geschmückt hat. – Aber noch eine schwere Bedingung bleibt dir zu erfüllen: du hast versprochen, mir einen zwischen Himmel und Erde schwebenden Palast zu bauen.«

»Ich erinnere mich dessen wohl,« antwortete Heykar, »und Ihr sehet mich bereit, auszuführen, was ich verheißen habe: ich habe die Baumeister mitgebracht. Befehlet nur, daß man ihnen Steine, Mörtel und Kalk bereit halte, und daß Handwerker da seien, um ihnen das nötige Bauzeug zukommen zu lassen.«

Dieser Befehl wurde auf der Stelle erteilt, und am folgenden Morgen begab sich Pharao mit seinem ganzen Hofstaat auf eine weite Ebene, wo schon eine zahllose Volksmenge zusammengeströmt war voll Neugierde, zu sehen, wie Heykar sein Versprechen erfüllen würde.

Dieser erschien in Begleitung der beiden von ihm abgerichteten Knaben. Die Käfige, worin er die beiden Adler verschlossen hatte, wurden von den Leuten seines Gefolges hinter ihm hergetragen.

Als Heykar durch das Gewühl mitten in die aufgerichteten Schranken gelangt war, zog er die beiden Adler aus ihren Behältnissen hervor, ließ jeden der Knaben in einen Kasten steigen, und nachdem er dieselben fest an die Klauen dieser Vögel gebunden hatte, ließ er das Seil nach, und in einem Augenblick erhoben sie sich zu einer erstaunlichen Höhe. So schwebend zwischen Himmel und Erde, riefen nun die Knaben aus Leibeskräften herab:

»Bringet uns doch Steine, Kalk und Mörtel, damit wir den Palast des Königs Pharao bauen! Wir warten nur noch auf dieses Bauzeug. Auf, auf, ihr Herren Handlanger! Wir sind hier schon eine Stunde lang mit müßigen Händen! Es ist unerhört, uns so lange in Untätigkeit zu lassen! ...«

Während die Knaben aus den Lüften herab diesen Zuruf wiederholten, schlugen unten die Leute von Heykars Gefolge vor den Augen der ganz verdutzten Menge auf die Werkleute Pharaos, indem sie sagten:

»Tut doch eure Schuldigkeit, ihr Handlanger, und reichet den Mauermeistern droben das nötige Bauzeug: lasset sie doch nicht müßig!«, und damit fuhren sie fort zu schlagen, während Pharao und seine Höflinge lachten.

Bei alledem konnte der König von Ägypten sich einer kleinen Beschämung nicht erwehren; und um diesem Auftritt ein Ende zu machen, sagte er zu Heykar:

»Hast du denn den Verstand verloren? Wie verlangst du, daß meine Leute so schweres Bauzeug so hoch in die Luft bringen sollen?«

»Offenbar«, antwortete Heykar, »hat mein Herr Sencharib viel geschicktere Arbeitsleute; denn wenn er wollte, so könnte er zwei Paläste zugleich in einem einzigen Tage bauen lassen.«

Pharao fühlte den Stich dieser Scherzrede und sagte:

»Nun wohl, ich verzichte auf den Bau meines Palastes: aber bereite dich, morgen auf verschiedene Fragen zu antworten, welche ich dir tun will.«

Heykar entfernte sich, und am folgenden Morgen stellte er sich bei guter Zeit bei Pharao ein, welcher zu ihm sprach: »Was ist das für ein Pferd, welches dein Herr in seinem Stalle hat, und das jedesmal, wenn es zu Ninive wiehert, meinen Stuten solchen Schreck verursacht, daß sie zur Unzeit fohlen?«

Heykar sagte hierauf zu dem Könige von Ägypten, er würde sogleich eine Antwort auf diese Frage herbeiholen, und ging hinaus.

 

Fünfhundertundsiebenundsechzigste Nacht.

In seiner Wohnung angelangt, nahm er eine Katze und peitschte sie heftig mit einem Riemen. Die Nachbarn hörten das Geschrei dieses Tieres und gingen hin, es dem Könige zu melden, der sogleich den Heykar holen ließ und ihn fragte:

»Warum mißhandelst du ein so wehrloses Tier, das dir nichts zuleide getan hat?«

»Es ist schuldiger, als Ihr wähnt,« antwortete Heykar; »mein Gebieter Sencharib hatte mir einen schönen Hahn geschenkt, der eine klangvolle Stimme hatte und unermüdlich alle Stunden des Tages und der Nacht ausrief: und nun ist diese Katze, die ich hier züchtige, letzte Nacht nach Ninive gelaufen und hat ihn erwürgt.«

»Diese Worte,« versetzte der König, »könnten glauben machen, daß dein hohes Alter deinen Verstand zu schwächen beginnt: wie soll denn, o weiser Heykar, diese Katze in einer einzigen Nacht nach Ninive gelaufen und wieder zurückgekommen sein, da du doch weißt, daß zwischen Ninive und meiner Hauptstadt ein Raum von dreihundertundsechzig Meilen ist?«

»Aber, da Ihr selber wißt,« rief Haykar aus, »daß ein so großer Abstand zwischen Eurer Hauptstadt und Ninive ist, wie könnt Ihr mir denn sagen, daß Eure Stuten das Wiehern eines in den Ställen meines Königs befindlichen Rosses hören?«

Pharao erkannte hierin eine Beantwortung seiner Frage und suchte nun den Heykar auf eine andere Weise in Verlegenheit zu bringen.

»Was sagst du,« fragte er ihn, »von einem Baumeister, der einen Palast aus achttausendsiebenhundertundsechzig Steinen erbaut und darin zwölf Bäume gepflanzt hat, deren jeder dreißig Äste und an jedem Ast eine weiße und eine schwarze Traube trägt?«

»Ein solches Rätsel,« antwortete Heykar, »würde von den unwissendsten Bauern zu Ninive verstanden und erklärt werden. Der Baumeister ist Gott, der Palast ist das Jahr, und die achttausendsiebenhundertundsechzig Steine bedeuten die Zahl der Stunden, aus welchen es besteht. Ich habe nicht nötig, hinzuzufügen, daß die zwölf Bäume und die beiden Trauben von verschiedenen Farben mit ihren Zahlen die Monate, die Tage und Nächte vorstellen.«

»Nun wohl,« fuhr Pharao fort, »weil du mein Rätsel so gut aufgelöst hast, so fordere ich noch einen letzten Dienst von dir. Ich habe hier einen Mühlstein in einer Kornmühle, der zersprungen ist: wärest du wohl so gefällig, ihn mir wieder zusammenzunähen!«

»Es gibt nichts, das ich nicht Euch zu Gefallen unternähme,« antwortete Heykar; und sogleich ließ er sich durch einen seiner Sklaven einen Kiesel bringen, hielt ihn dem Könige hin und sprach dabei:

»Ihr wißt wohl, mein Fürst, daß ich hier in einem fremden Lande bin und nicht das nötige Werkzeug bei mir habe, um mich an die Arbeit zu setzen: geruhet also, einem Eurer Werkleute zu befehlen, mir aus diesem Kiesel eine Ahle, Schere und Feile zu machen, damit ich Euren Mühlstein zusammennähe.«

Bei dieser Antwort Heykars konnte der König von Ägypten sich nicht enthalten zu lachen: er bewunderte je mehr und mehr den Scharfsinn seines Geistes und das Treffende seiner Antworten. Da er nun sah, daß der Minister Sencharibs auf so sinnreiche und genügende Weise alle die schwierigen Aufgaben gelöst, welche er ihm vorgelegt hatte, so war er der erste, der sich für überwunden bekannte, und wollte auf edle Weise die Bedingungen der Ausforderung erfüllen. Er ließ Heykar mit einem prächtigen Chila bekleiden, überhäufte ihn mit Geschenken, zählte ihm die dreijährigen Einkünfte Ägyptens auf, und nachdem er ihm die höchsten Ehren erwiesen hatte, befahl er, Kamele zu bereiten, um die dem Könige von Ninive bestimmten Geschenke zu tragen.

»Kehre in Frieden heim,« sagte er zu Heykar; »und möge Sencharib in den Geschenken, welche ich ihm sende, ein Zeichen meiner Freundschaft erkennen. Diese Geschenke sind zwar seiner nicht würdig; aber eine Kleinigkeit vergnügt die Könige. Und du, der Ruhm und die Ehre deines Herrn, o weiser Heykar, sage ihm vor allen, daß ich ihm Glück wünsche, einen solchen Minister zu haben, wie du bist!«

Sencharibs Gesandter warf sich vor Pharao nieder, drückte ihm seine Erkenntlichkeit aus und bat ihn, zu befehlen, daß alle assyrischen Untertanen, die nach Ägypten ausgewandert waren, in ihre Heimat zurückkehren sollten.

Dieser Befehl wurde auf der Stelle erlassen; und Heykar, zufrieden, seine Sendung erfüllt zu haben, nahm endlich Abschied von dem ägyptischen Könige.

Kaum hatte Sencharib die Nachricht von seiner Heimkehr vernommen, als er Ninive verließ und ihm entgegenkam. Bei seinem Anblicke entflossen Freudentränen seinen Augen; er überließ sich ganz dem Ergusse der Freundschaft und Dankbarkeit, er nannte ihn seinen Vater, seine Stütze, den Ruhm seiner Herrschaft, den Retter seines Reichs, er bat ihn, selber die Belohnung seiner Verdienste zu bestimmen, und versprach ihm alles zu gewähren, und wenn er selbst seine Krone verlangte.

»Herr,« antwortete Heykar, »mein einziger Ehrgeiz war, Euch zu dienen, und dieser Ehrgeiz ist befriedigt. Nicht also für mich nehme ich Eure Wohltaten an; aber daß ich mich noch des Lebens erfreue, verdanke ich, wie Ihr wißt, allein Gott und dem edelmütigen Abu-Someika. Übernehmet diese Schuld der Dankbarkeit für mich, und ich werde immerdar Euren Namen segnen.«

»Diese Schuld ist auch die meinige,« rief Sencharib aus, und als er in seinen Palast zurückgekommen war, kannte seine königliche Freigebigkeit keine Grenzen mehr: obwohl Abu-Someika schon mit seinen Geschenken überhäuft war, so glaubte er doch noch nicht genug getan zu haben, er erteilte ihm neue Begünstigungen und wies ihm ansehnliche Einkünfte an.

Sobald der König mit Heykar allein war, verlangte er von ihm den Bericht seiner Reise und umständliche Erzählung von allem, was zwischen ihm und dem Pharao vorgegangen wäre. Heykar befriedigte auf der Stelle seine Neugier und ließ ihm die Geschenke und den Tribut des Königs von Ägypten darbringen.

»Ich sage dem höchsten Wesen Dank,« sprach Sencharib, »der dich siegreich aus des Pharaos Händen geführt, nachdem er dich den Nachstellungen eines Verleumders entzogen hat. Der König von Ägypten ist durch deine Weisheit besiegt, o Heykar, nunmehr ist es an mir, dich an der Treulosigkeit und Undankbarkeit deines Neffen zu rächen!«

Zugleich befahl der König von Assyrien, den Nadan festzunehmen und hinzurichten. Da warf sich Heykar zu seinen Füßen und sprach:

»Mein König, überlasset mir die Sorge meiner Rache: übergebet den Nadan meiner Gewalt, damit ich selber ihm die Strafe zufüge, welche sein Verbrechen verdient hat, ich nehme dieses als Recht in Anspruch: sein Blut gehört mir zu, nachdem Ihr beschlossen habt, es für mich zu vergießen.«

Heykars geheime Absicht war, dem Undankbaren das Leben zu retten, welcher dem seinigen nachgestellt hatte. Anstatt aller Rache wollte er ihn fortan nur in die Unmöglichkeit versetzen, Schaden zu stiften, und ihn so seinen Gewissensbissen überlassen, überzeugt, daß dies keine geringe Strafe für den Schuldigen wäre.

 

Fünfhundertundachtundsechzigste Nacht.

Nadan wurde, mit Ketten belastet, vor Sencharibs Thron geführt und den Händen seines Oheims übergeben, welcher ihn in ein finsteres Loch sperren und darin genau bewachen ließ. Er erhielt jeden Tag zur Nahrung nur ein Brot und ein wenig Wasser, und jedesmal, wenn Heykar ihn besuchte, warf er ihm die Undankbarkeit und die Verruchtheit seines Herzens vor.

»Mein Sohn,« sagte er zu ihm, »ich habe dich als Kind aufgenommen; ich habe dich erzogen, geliebt, mit Ansehen und Ehren überhäuft; ich habe dir meinen Rang abgetreten und meine Reichtümer anvertraut; ich habe dich frühzeitig in die Wissenschaften eingeweiht, weil ich dich zum Erben meiner Weisheit machen wollte, wie du dereinst mein Vermögen erben solltest: kurz, ich habe mehr für dich getan, als nur ein Vater getan hätte. Und wie hast du meine Wohltaten belohnt? Du hast mich verleumdet, mich mit Schmach überhäuft, meinem Leben nachgestellt! Ja, mein Untergang war unvermeidlich, wenn nicht Gott, der im Grunde des Herzens liest, die Unterdrückten tröstet und die Hochmütigen demütigt, meine Unschuld erkannt und mich von deinen Nachstellungen errettet hätte.

Einst wollte jemand einen Stein gegen den Himmel schleudern, der Stein fiel auf ihn zurück und zerschmetterte ihn: das, mein Sohn, ist deine Geschichte.

Du hast dich gegen mich betragen wie jener Hund, welcher in ein Töpferhaus ging, um sich zu wärmen, und dann die Leute des Hauses anbellte, so daß sie sich genötigt sahen, ihn hinauszujagen, damit sie nicht gebissen würden.

Ich glaubte, mein Sohn, du würdest mir einen Zufluchtsort für mein Alter erbauen, und du grubest einen Abgrund unter meinen Füßen.

Ich hatte dich zu der ersten Würde des Reichs erhoben, und du hast dich nicht begnügt, undankbar zu sein, du hast gegen deinen Wohltäter auch die Gewalt mißbrauchen wollen, welche er dir gegeben hatte! –

Holzhauer wollten einen Baum abhauen; der Baum rief ihnen zu: »hätte ich selber euch nicht das Heft eurer Axt geliefert, so würdet ihr nicht imstande sein, mich zu fällen.« –

Mußtest du also die Sorgfalt vergelten, welche ich dir von Kindheit auf widmete? Weißt du denn nicht, daß die Erziehung eine viel größere Wohltat ist als das Leben? So lautet ein Spruch der Weisen:

»Nenne das Kind, welchem du das Leben gibst, deinen Sohn; aber das Kind, welches du erzogen hast, kannst du mit Recht deinen Sklaven nennen, weil es dir mehr als das Dasein verdankt.«

Gleichwohl hast du mir bewiesen, daß die Erziehung nichts vermag gegen die angeborene böse Art: ich habe dich die Tugend gelehrt, und du bist auf der Bahn des Lasters fortgeschritten. – Man sagte einst zu einer Katze: »Enthalte dich des Stehlens, und du sollst ein goldenes Halsband und täglich Zucker und Mandeln zu essen haben.« – »Stehlen,« antwortete die Katze, »war das Handwerk meines Vaters und Großvaters: wie wollt ihr nun, daß ich darauf verzichte?« –

Man ließ einen Wolf in die Schule gehen, um ihn lesen zu lehren; der Schulmeister sagte ihm vor: »A, B, C ...«, der Wolf antwortete: »Lamm, Bock, Ziege ...«, weil diese stets in seinen Gedanken waren.

Man wollte einen Esel zur Reinlichkeit gewöhnen und ihm eine bessere Lebensart beibringen: man wusch ihm den Leib und stellte ihn in einem prächtigen Gemache auf einen reichen Teppich. Was geschah? Sobald sein Herr ihm einen Augenblick Freiheit ließ, ging er auf die Straße hinaus, fand dort Staub und wälzte sich darin. »Lasset ihn sich wälzen,« sagte hierauf ein Vorübergehender; »denn das ist seine Natur, und ihr vermöget nicht, sie zu ändern.« –

»Verzeihet mir,« sagte manchmal Nadan zu seinem Oheim, »verzeihet mir, ich verspreche, in Zukunft ein tadelloses Leben zu führen. Meine Verbrechen sind groß, aber nichts übersteigt Euren Edelmut; ich bin schuldig, aber Ihr seid großmütig. Liegt es in meiner Art, zu fehlen, so ist es solchen Männern, wie Ihr seid, eigen, zu verzeihen. Seid gnädig, vergebet mein Verbrechen, und ich will wie der niedrigste Eurer Sklaven in Eurem Hause leben. Mein ganzes Leben soll fortan Eurem Dienste geweiht sein, um meine Undankbarkeit wieder gutzumachen. Vertrauet mir die niedrigsten Verrichtungen: ich unterwerfe mich zum voraus allen Demütigungen.«

Heykar ließ sich durch diese falschen Beteurungen nicht täuschen. »Ein Baum,« sprach er, »stand am Ufer eines Wassers im fruchtbaren Erdreiche und trug doch keine Früchte; sein Herr wollte ihn abhauen, da sagte der Baum: »Versetze mich an einen andern Ort, und wenn ich dann keine Früchte gebe, so hau mich ab.« – »Du stehst hier am Ufer des Wassers,« antwortete sein Herr, »und hast nichts hervorgebracht: wie willst du denn fruchtbar werden, wenn ich dich anderswohin verpflanze?«

Sage mir nicht, daß du noch jung bist, Nadan, denn das Alter des Adlers ist der Jugend des Raben vorzuziehen, und man entsagt niemals seinen ursprünglichen Neigungen. Man sagte zu einem Wolfe: »Nahe dich nicht den Herden, ihr Staub wird dir das Gesicht verderben!« – »Ihr Staub,« antwortete er, »ist im Gegenteil eine Stärkung für meine Augen.«

Was brauche ich, mein Sohn, dir noch mehr von deinen Fehlern zu sagen? Jeder wird nach seinen Taten belohnt. Gott liest in allen Herzen, Gott wird zwischen uns beiden richten.«

So sprach Heykar, und jeder Vorwurf drang wie ein scharfer Pfeil in Nadans Herz. Die Gewissensbisse verzehrten ihn: bald bemächtigte sich düstere Verzweiflung seines ganzen Wesens, und ein gewaltsamer Ausbruch erfolgte; seine Adern schwollen an, sein Blick war stier, seine Glieder erstarrten, und schluchzend vor Schmerz und Wut gab er unter furchtbaren Zuckungen den Geist auf: ein jammervolles und schreckliches Ende, welches allen Gottlosen zum abschreckenden Beispiele dienen sollte!

Das Schicksal des schuldvollen Nadan bestätigt die ewige Wahrheit:

»Die Strafe folgt immer dem Verbrechen; und wer seinem Bruder eine Grube gräbt, fällt selber hinein.«

Als Scheherasade diese Erzählung geendigt hatte und sah, daß der Tag noch nicht anbrach und der Sultan noch geneigt war, sie anzuhören, fing sie sogleich die folgende Geschichte an.

 

*

Die folgenden Erzählungen stammen aus Caussins Fortsetzung der Tausend und Einen Nacht. Sie sind nicht in einzelne Nächte eingeteilt.

*

 


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