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Geschichte des Prinzen Benasir.

»Es war einmal in Persien ein König, der hatte keine Kinder, obwohl er schon seit langen Jahren verheiratet war. Endlich ward die Königin schwanger, und Freudenfeste feierten in dem ganzen Königreiche dieses glückliche Ereignis.

Als aber die Zeit der Geburt gekommen war und die Königin die Kindeswehen fühlte, da war es unmöglich, sie zu entbinden: fruchtlos berief man dazu die geschicktesten Personen, alle erklärten, man müßte die Mutter oder das Kind aufopfern.

Der König und der ganze Hof waren trostlos, als ein Mann erschien und sagte, er wüßte ein Mittel, der Königin eine glückliche Niederkunft zu verschaffen; aber vor allem forderte er, daß ihm das neugeborne Kind überliefert würde, wenn es achtzehn Jahre alt wäre.

Der König, welcher in der ganzen Erscheinung dieses Mannes etwas Grausames wahrnahm, weigerte sich lange, diese Forderung zu bewilligen, aber sein Wesir redete ihm zu: es würde ihm immer leicht sein, sich von der Verbindlichkeit, welche er gegen diesen Unbekannten einginge, zu befreien, und um seine Gemahlin und sein Kind zu retten, entschloß er sich, das von ihm geforderte versprechen zu leisten.

 

Fünfhundertunddreiundvierzigste Nacht.

Der Unbekannte beschäftigte sich sogleich mit den Mitteln, die Niederkunft der Königin zu erleichtern; und seine Bemühungen waren von solchem Erfolge, daß sie einen Sohn gebar, schön wie der Tag, und welchem man den Namen Benasir gab.

Der Unbekannte entzog sich den Danksagungen und Glückwünschungen, welche man ihm von allen Seiten machte, und sagte nur noch dem König, er würde nicht verfehlen, nach achtzehn Jahren wiederzukommen und die Erfüllung der gegen ihn eingegangenen Verpflichtung zu fordern. Der König nahm sich aber schon vor, das getane Versprechen keineswegs zu halten.

Man gab dem jungen Prinzen die glänzendste Erziehung durch Lehrmeister aller Art, und nichts wurde zu seiner vollkommenen Ausbildung versäumt. Aber schon als er anfing, aus der Kindheit zu treten, ward die Unruhe des Königs und der Königin sehr lebhaft, und beide berieten sich über die Mittel, das gegebene Versprechen zu umgehen. Zu diesem Zwecke hielten sie es für wohlgetan, den jungen Prinzen von dem Hofe zu entfernen und ihn zu einem benachbarten Könige zu senden, damit sein Aufenthalt verborgen wäre, wenn der Unbekannte käme, ihn abzufordern.

Der König von Persien schickte also seinen jungen Sohn, bevor er noch das siebente Jahr erreicht hatte, in die Staaten des Kaisers von China, welcher ihn mit allen Beweisen einer aufrichtigen Zuneigung aufnahm. Benasir wurde in dessen Palast wie die eigenen Söhne des Kaisers behandelt, und dieser benahm sich so, um alle Welt zu überreden, daß der König von Persien ihm nur einen Sohn zurückgesendet, welchen er ihm während seiner Kindheit anvertraut hätte. Der junge Benasir selber war durch dieses Märchen getäuscht, welches man ersonnen hatte, um sein Dasein desto sicherer vor denjenigen zu verbergen, welchen daran gelegen war, es zu entdecken.

In demselben Palast und in geschwisterlicher Vertraulichkeit mit ihm lebte eine junge Prinzessin, die Tochter des Kaisers von China, deren Schönheit so groß war, daß selbst der Pinsel Manis nimmer ihre Vollkommenheiten zu erreichen vermocht hätte.

Der junge Prinz empfand für seine vermeintliche Schwester eine Zuneigung, welche mit den Jahren nur wuchs; aber er bemühte sich, eine Leidenschaft zu unterdrücken, welche er für verdammlich hielt. Als er zu dem Alter der Besinnung gekommen war, gewann seine Liebe neue Stärke, und da er nicht länger seine Empfindungen beherrschen konnte, so eilte er hin, bekannte sie dem Könige, seinem Vater, und beschwor ihn, ihn vom Hofe zu entfernen, damit die Abwesenheit die unselige Leidenschaft heilte, welche seine Vernunft nicht zu besiegen vermöchte.

Benasir war sehr verwundert, als er den Kaiser von China nicht so über sein Geständnis erzürnt sah, wie er geglaubt hatte. Der Kaiser sah mit Vergnügen einen so ausgezeichneten Prinzen wie den Sohn des Königs von Persien um die Hand seiner Tochter werben und setzte sich vor, beide zu vereinigen; er antwortete ihm also:

»Mein Sohn, die Liebe, welche du zu deiner Schwester gefaßt hast, ist eine Eingebung Gottes, dessen Ratschlüsse zu durchdringen uns unmöglich ist; laß uns alles von der Vorsehung hoffen: ich bin überzeugt, er wird Euch fortan nur Empfindungen einflößen, welche Euer würdig sind. Anlangend die Erlaubnis, um welche du mich bittest, dich vom Hofe zu entfernen, so verhindern mich Ursachen, welche ich dir erst nach Vollendung deines achtzehnten Jahres sagen kann, sie dir zu bewilligen. Begib dich wieder zu den Prinzen, deinen Brüdern, und tu alles, was an dir ist, die Empfindungen zu mäßigen, welche deine Schwester in dir erregt hat.«

Benasir konnte die Sorglosigkeit nicht begreifen, mit welcher der Kaiser von China eine so wichtige Entdeckung zu betrachten schien, und gab sich alle Mühe, seine Leidenschaft in Zaum zu halten. Aber die Gelegenheiten, die Prinzessin zu sehen, boten sich so häufig dar, daß er bald der Fruchtlosigkeit seiner Anstrengungen inne ward.

Eines Tages, als er sich mit ihr allein befand, sprach er zu ihr: »Ich weiß nicht, wie ich ausdrücken soll, was ich empfinde: aber ich bedaure, daß du meine Schwester bist; denn ich würde auf dem Gipfel der Freude sein, wenn ich dich zur Gattin haben könnte.«

Bei diesen Worten fühlte die junge Prinzessin ihre Stirn eine lebhafte Röte überziehen, und ihr Schweigen ließ ihren vermeinten Bruder genugsam erkennen, daß sie seine Liebe teilte; aber sie wollte ihm eine so sträfliche Neigung nicht gestehen und entfloh. Seit dieser Zeit verlor Benasir keine Gelegenheit, mit der Prinzessin zusammen zu sein, und je größer er ward, je mehr wuchs seine Liebe.

Schon waren siebzehn Jahre seit seiner Geburt verflossen; der König und die Königin von Persien schmeichelten sich, der Unbekannte würde das ihm getane Versprechen vergessen haben, und dachten schon daran, hinzusenden und ihren Sohn vom Hofe des Kaisers von China heimholen zu lassen, als am achtzehnten Jahrestage der Niederkunft der Königin die plötzliche Erscheinung des Unbekannten in dem Palaste sie mit Schrecken erfüllte.

»Ich komme,« sprach er mit ernstem Tone zum Könige, »dich an die Erfüllung deines mir gegebenen Versprechens zu mahnen und mir deinen Sohn abzufordern; die achtzehn Jahre sind verflossen, und er gehört nunmehr mir an.«

Obgleich der König die Antwort längst in Bereitschaft hatte, so konnte er sie doch nur stammelnd herausbringen.

»Ihr erneuet,« antwortete er ihm, »einen tiefen Schmerz in mir: der Sohn, welchen Ihr von mir verlangt, hat nur wenige Tage die Entbindung der Königin, meiner Gattin, überlebt; ich habe das Unglück, kinderlos zu sein.«

»Herr,« erwiderte der Unbekannte zornig, »Ihr sucht vergeblich mich zu betrügen, um Euch von der Erfüllung Eures Versprechens zu entbinden; ich weiß, daß der Prinz lebt, und ich kenne den Ort seines Aufenthaltes: er ist an dem Hofe des Kaisers von China.«

Als der König von Persien sah, daß alle seine Sorgfalt, womit er seinen Sohn achtzehn Jahre lang verborgen gehalten, und die schmerzliche Entbehrung, welche er sich dadurch auferlegt hatte, vergeblich gewesen, empfand er den heftigsten Schmerz. Er bemühte sich dennoch, seinen Kummer zu beherrschen, und sprach:

»Herr, ich will auch nicht länger versuchen, Euch die Wahrheit zu verhehlen: es ist wahr, mein Sohn ist in China, aber ich beschwöre Euch, beraubet einen unglücklichen Vater nicht des einzigen Trostes, der ihm übrig bleibt, eines einzigen, zärtlich geliebten Sohnes. Wollt Ihr sonst einen Lohn für den wichtigen Dienst, welchen Ihr mir geleistet habt, so fordert ihn, und wenn es mir nur irgend möglich ist, so werde ich nicht säumen, Euch zu befriedigen. Wollt Ihr die Hälfte meiner Schätze oder eine Provinz meines Königreichs?«

»Ich will,« erwiderte der Unbekannte, »die Erfüllung Eures Versprechens und die Bestrafung Eures Treubruches; Ihr habt versucht, mich zu betrügen: Eure Lüge aber, anstatt Euren Sohn zu retten, ist eben die Ursache seines Verderbens.«

Der König, der alle seine Anerbietungen fruchtlos sah, ließ sich zu den demütigsten Bitten herab; als er aber erkannte, daß auch seine Bitten und Versprechungen ohne Wirkung blieben, so griff er endlich zu Drohungen und sprach:

»Nun denn, weil weder meine Reichtümer noch meine Bitten Euch rühren können, so bin ich genötigt, Gewalt zu gebrauchen: ich befehle meiner Wache, Euch festzunehmen.«

Und zu gleicher Zeit gab er seinen um ihn herstehenden Leuten ein Zeichen, sich des Unbekannten zu bemächtigen: dieser aber verwandelte sich zum großen Erstaunen aller Gegenwärtigen plötzlich in einen Adler und entschwand in schnellem Fluge.

Der König und die Königin von Persien zweifelten nun nicht mehr, daß ihr unglücklicher Sohn von einem bösen Geiste verfolgt würde, und blieben in tiefe Betrübnis versunken.

 

Fünfhundertundvierundvierzigste Nacht.

Ihre Furcht war nur zu gegründet: der böse Geist flog von dem Hofe des Königs von Persien gerade nach der Hauptstadt des chinesischen Reichs und ließ sich unweit derselben nieder. Hierauf ging er nach dem Palaste des Kaisers, gab sich für einen Abgesandten des Königs von Persien aus und bat um Gehör. Er wurde sogleich vorgelassen und sprach zu dem Fürsten:

»Herr, die Gefahren, welche der König, mein Herr, für seinen Sohn befürchtete, sind vorüber; dieser hat sein achtzehntes Jahr zurückgelegt und nichts mehr von denen zu besorgen, die er fürchten mußte; er bittet Euch, mir den jungen Prinzen anzuvertrauen.«

Der Kaiser ließ Benasir kommen und sprach zu ihm: »Mein Sohn, denn ich gefiel mir immer darin, dich so zu nennen, wichtige Angelegenheiten, deren Beschaffenheit du später erfahren sollst, fordern deine Anwesenheit an dem Hofe von Persien.«

Diese Worte versetzten den jungen Prinzen in Bestürzung, weil er die schmerzliche Trennung voraussah, zu welcher er nun gezwungen würde. Er bat den Kaiser um Erlaubnis, seinen Brüdern und vor allem seiner Schwester Lebewohl zu sagen.

Die letztere konnte diese Zusammenkunft nicht überstehen, ohne Tränen zu vergießen, was Benasirs Schmerz noch vermehrte. Er gehorchte indessen dem Willen des Kaisers und begab sich auf den Weg mit seinem Gefährten, welcher ihn nach der Ursache seiner tiefen Betrübnis fragte.

»Herr,« antwortete er ihm, »Ihr könnt Euch keine Vorstellung von dem Schmerze machen, welchen ich gegenwärtig empfinde: ich habe eine Schwester, welche ich mehr liebe als mich selbst, und von welcher ich nun gezwungen bin, mich zu trennen.«

Der Geist erwiderte mit einem grinsenden Lächeln: »Wenn Ihr es wünschet, so sollt Ihr alsbald wieder vereinigt sein: erwartet mich einige Augenblicke, ich gehe nochmals nach dem Palast und werde mein mögliches tun, um Eure Schwester mitzubringen.«

Der Prinz versprach, ihn an dem Orte, wo sie sich befanden, zu erwarten, und der Geist kehrte auf der Stelle nach der Hauptstadt von China zurück. Als er dem Prinzen aus dem Gesichte war, verwandelte er sich sogleich in einen Adler, flog hin und ließ sich auf ein flaches Dach des Palastes nieder. Er gewahrte die Prinzessin von China in dem Garten, wo sie in tiefen Schmerz versunken schien: da stieß er auf sie herab, ergriff sie mit seinen Klauen und entführte sie im reißenden Fluge trotz dem Geschrei der Leute, die bei ihr waren.

Er kam bald wieder zu dem Prinzen, der ein Raub der lebhaftesten Unruhe war; er legte Benasirs vermeinte Schwester ohnmächtig zu seinen Füßen und nahm sogleich seine vorige Gestalt wieder an.

Als Benasir sich von seinem Erstaunen über dieses Abenteuer wieder erholt hatte, bemühte er sich in Gemeinschaft mit dem Geiste, die Prinzessin wieder zu sich zu bringen. Er ging hin und holte Wasser von einem Bache, der sich in der Nähe befand, und rief sie bald wieder ins Leben: er bezeigte ihr nun sein großes Vergnügen, wieder mit ihr vereint zu sein, nachdem er schon gefürchtet hätte, für immer von ihr getrennt zu werden.

Die Prinzessin wollte nach dem Palaste des Kaisers zurückkehren; aber Benasir und der Geist widersetzten sich ihrem Vorhaben; und jetzt nahm der letztere das Wort und sprach also zu beiden:

»Wir bedürften mehrere Monate, um nach der Hauptstadt von Persien zu gelangen, wo wir erwartet werden, und übrigens wird man nicht ermangeln, auf allen Seiten tatarische Reiter nach der Prinzessin auszuschicken: ich will euch also eine viel bequemere und schnellere Art zu reisen gewähren.«

Zu gleicher Zeit faßte er den Prinzen und die Prinzessin in die Arme und schwang sich mit ihnen in die Lüfte; aber anstatt nach der Hauptstadt von Persien seine Richtung zu nehmen, schlug er den Weg nach der Küste von Afrika ein.

Der Geist ließ sich mit seiner Bürde auf das sehr hohe Gebirge bei Tunis herab, in eine tiefe enge Schlucht, welche einen grauenvollen Anblick darbot. Und hier nahm der Geist, der sich bis dahin seinen Reisegefährten sehr freundlich bezeigt hatte, plötzlich ein düsteres und strenges Wesen an.

»Wir sind am Ziel unserer Reise!« sprach er und legte den Prinzen und die Prinzessin auf die Erde nieder. Hierauf, als Benasir ihn fragte, ob sie schon dem persischen Hofe recht nahe wären, sprach er etliche geheimnisvolle Worte aus: die Erde öffnete sich sogleich, und er sagte zu dem Prinzen, indem er ihn unsanft beim Arme nahm:

»Vorwärts! Ich werde nachher auf deine Fragen antworten.«

Sie stiegen nun alle drei auf einer Treppe in einen unabsehlichen Gang hinab, und die Erde schloß sich von selber über ihnen wieder zu.

Schon der Anblick dieses Orts hatte die junge Prinzessin mit Grausen erfüllt; ihr Entsetzen aber war noch weit größer, als der Geist sie bei der Hand faßte und ihr gebieterisch befahl, ihm zu folgen. Da stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus, warf sich dem Geiste zu Füßen und beschwor ihn, sie nicht von ihrem Bruder zu trennen; aber ihre Bitten und Tränen waren ebenso fruchtlos als die Drohungen Benasirs. Dieser sah sich so schleunig von seiner Geliebten getrennt, daß er keinen Widerstand zu leisten vermochte.

Der Geist kam bald wieder und gebot ihm zu folgen. Benasir, der nicht imstande war, sich ihm zu widersetzen, ergab sich in sein Schicksal und gehorchte. Er wurde durch mehrere unterirdische Gänge in ein weites Gemach geführt, in welchem sie einen abgelebten und ekelhaften Greis fanden.

»Benasir,« sprach nun der Geist zu dem Prinzen, »hier ist deine Wohnung; füge dich in dein Schicksal, wenn du dir mein Wohlwollen erwerben willst: der Greis, welchen du hier siehst, ist mein Vater, es ist fortan dein Geschäft, ihn zu bedienen; entledige dich deiner Verrichtungen, wie es sich gebühret; denn wenn er sich jemals über dich beklagen sollte, so sollst du dich über mich zu beklagen haben.«

Mit diesen Worten und ohne darauf zu hören, was der Prinz ihm antworten wollte, verschloß er die Türe und verschwand.

Als Benasir sich für immer von der Prinzessin getrennt, zum Sklaven erniedrigt und zu den widerwärtigsten Verrichtungen gezwungen sah, bemächtigte die Verzweiflung sich seiner, und er rief dem Tode mit dem heißesten Wunsche.

Die Prinzessin von China war unterdessen, obwohl in einer viel weniger unangenehmen Lage als die ihres Bruders, doch von nicht minder lebhaftem Schmerze durchdrungen; der Geist hatte sie in prächtige Zimmer geführt, wo sie alles hatte, was sie wünschen konnte, ausgenommen die Freiheit; als sie ihn aber um Auskunft über das Schicksal des Prinzen bat, antwortete er ihr:

»Prinzessin, Ihr seid Herrin in diesem Palast, Ihr habt zu gebieten, und man wird Euch gehorchen; aber ich fordere nur eines von Euch, nämlich, niemals von demjenigen zu sprechen, für den Ihr eine Liebe nähret, über welche Ihr erröten solltet.«

Die Prinzessin verstand wohl den Sinn dieser Worte des Geistes, aber sie war klug genug, den Schmerz und Unwillen, welchen diese Rede ihr verursachte, in ihrem Herzen zu verschließen; und um denjenigen nichts merken zu lassen, welchen die Treulosigkeit zu ihrem Herrn gemacht hatte, verstellte sie sich, tat, als wenn sie mit ihrem Schicksale zufrieden wäre, und antwortete:

»Ihr beschuldigt mich mit Unrecht, Herr, wenn Ihr voraussetzt, daß mein Bruder Benasir mir andere Empfindungen eingeflößt hat, als wie eine Schwester sie gegen einen Bruder hegen soll; ich habe Vertrauen genug zu Eurer Seelengröße und Eurem Edelmute, um versichert zu sein, daß Ihr in seiner Rücksicht die Pflichten der Gastfreundschaft, die Ihr ihm versprochen habt, nicht verletzen werdet: und weil Euch sein Name mißfällt, so könnt Ihr gewiß sein, daß er fortan nicht mehr über meine Lippen kommen wird. Ich bin Euch Dank schuldig für die Art, wie Ihr mich behandelt, und ich werde mich bemühen, alles zu tun, was Euch wohlgefallen kann.«

Diese Worte machten auf den Geist den günstigsten Eindruck; er lächelte so freundlich, als ihm irgend möglich war, und nahm Abschied von der Prinzessin.

 

Fünfhundertundfünfundvierzigste Nacht.

Mehrere Tage vergingen, ohne daß er wieder erschien, und während dieser Zeit hatte die Prinzessin nur eine Alte zur Gesellschaft, deren Hut sie anvertraut war; aber ihr Herz war zu sehr voll Unruhe über das Verschwinden ihres vermeinten Bruders, als daß sie an irgend eine Erheiterung denken konnte. Sie hatte an den Augen des Geistes gesehen, daß sie ihm Liebe eingeflößt, und sie beschloß, seine Schwachheit zu benutzen, um sich zu befreien und Benasir zu retten.

Als derjenige, der sie gefangen hielt, wieder vor ihr erschien, fand er einen sehr freundlichen Empfang.

»Herr,« sprach die Prinzessin zu ihm, »Ihr seid sehr lange entfernt gewesen, ich erwartete, Euch früher wiederzusehen, weil ich an diesem einsamen Orte niemand habe als Euch allein, so hoffe ich, daß Ihr fortan mich nicht mehr so lange Eurer Gegenwart berauben werdet.«

Diese Worte schmeichelten dem Geiste ungemein, und er erkundigte sich angelegentlich, ob man es ihr auch an irgend etwas hätte fehlen lassen, und ob sie sonst etwas wünschte.

»Ich habe nur einen Wunsch,« antwortete sie, »nämlich, die Ursache zu erfahren, weshalb Ihr mich hierher versetzt habt, und was Euch bewegt, mich hier zurückzuhalten.«

»Prinzessin,« erwiderte der Geist, »ist es möglich, daß Ihr mir eine solche Frage tut? Als Benasir mir Eure Reize pries, erregte er mir ein lebhaftes Verlangen, sie kennen zu lernen; als ich seinen Schmerz über die Trennung von Euch sah, so war ich neugierig, den Gegenstand einer so heftigen Leidenschaft zu schauen, und ich faßte den Entschluß, Euch zu entführen. Ich habe gefunden, daß Ihr seiner Zuneigung würdig waret, und Ihr habt zugleich in mir eine Leidenschaft entzündet, welche nichts zu verlöschen vermöchte.«

Die Prinzessin von China erkannte aus diesen Worten den ganzen Umfang der Gefahr, welche ihr drohte, und sie ergriff den Gedanken, diese Gefahr selber zu ihrer Befreiung zu benutzen.

»Herr,« sagte sie, »um die Erwiderung Eurer Neigung zu mir zu verdienen, hoffe ich, Ihr werdet alle meiner Geburt zustehenden Rücksichten beobachten; und mich gefangen halten, ist keineswegs das Mittel, Euch meine Gunst zu erwerben.«

»Ihr seid Herrin an diesem Orte,« antwortete der Geist, »Ihr könnt überall hingehen, und hier sind die Schlüssel aller Gemächer; ich nehme nur zwei Türen aus, welche Ihr nicht öffnen dürft.« (Die eine war die Türe der Wohnung, worin Benasir bei dem Vater des Geistes verschlossen war.)

Die Prinzessin schien sehr erkenntlich für das ihr bezeigte Zutrauen und ließ denjenigen, der sie gefangen hielt, einige Hoffnung schöpfen.

Sobald er sich entfernt hatte, war sie eilig darüber her, alle Türen zu öffnen, deren Schlüssel sie in ihrer Gewalt hatte. Km Ende eines unabsehlichen Ganges fand sie eine Büchersammlung voll allerlei Handschriften in verschiedenen Sprachen. Da die Prinzessin eine treffliche Erziehung erhalten hatte, so gelang es ihr, darunter einige zu entdecken, welche von der Magie handelten; sie verwandte täglich viele Stunden darauf, dieselben fleißig zu studieren. Nach mehreren Monaten Arbeit fand sie an einer Stelle die Geschichte des Geistes selber, in dessen Gewalt sie sich befand, und nur mit dem tiefsten Entsetzen entdeckte sie das Schicksal, welches dem Prinzen Benasir bevorstand. Sie las, daß der Geist nicht anders das Leben seines Vaters verlängern konnte als durch Menschenopfer, und sie zweifelte nicht, daß ihr vermeinter Bruder zu einem dieser Schlachtopfer bestimmt, wenn nicht sogar schon geopfert war.

Getrieben von der lebhaftesten Unruhe, durchlief sie nach und nach alle Räume, welche sie schon durchsucht hatte, aber alle ihre Nachforschungen waren vergeblich. Indessen verlor sie nicht die Hoffnung; denn das Buch, welches sie gelesen, hatte ihr ein Geheimnis enthüllt, welches das Leben des Geistes in ihre Gewalt gab: sie wußte, daß in einem der abgelegensten Winkel des Palastes ein Säbel verborgen war, auf welchem sein Todesurteil geschrieben stand, und sie beschloß, alles anzuwenden, um denselben zu entdecken. Sie zweifelte nicht, daß dieser Säbel an dem Orte verborgen wäre, zu welchem er ihr den Schlüssel vorenthalten hatte; und als er wieder zu ihr kam, verdoppelte sie ihre Liebkosungen und sprach zu ihm:

»Herr, Ihr wißt, wie weit zuweilen der Eigensinn der Frauen geht: daß Ihr mir einen von den Schlüsseln Eurer Gemächer versagt habt, reizt meine Neugier dermaßen, daß ich mich nicht eher beruhige, als bis Ihr die Güte habt, sie zu befriedigen.«

Der Geist schien sehr erzürnt über diese Bitte und antwortete ihr:

»Prinzessin, ich glaubte, daß die Gefälligkeiten, welche ich Euch bisher erzeigt habe, Euch genügen müßten; aber ich sehe mit ebenso großem Mißvergnügen als Erstaunen, daß, je mehr ich Euch bewillige, je mehr Ihr fordert: Ihr werdet erlauben, daß ich mich nicht verpflichtet halte, Eure Launen zu befriedigen.«

»Nun wohl!« erwiderte die Prinzessin, »so gebt fortan alle Hoffnung aus, mir zu gefallen, weil Ihr nichts tut, was dazu führen könnte.«

Der Geist war schon so leidenschaftlich verliebt in die Prinzessin, daß er nicht den Mut hatte, ihren dringenden Bitten zu widerstehen.

»Wohlan denn, weil Ihr darauf besteht,« sprach er zu ihr, »so soll Eure Neugier befriedigt werden: ich werde Euch zwar nicht den verlangten Schlüssel geben, aber Euch dasjenige zeigen, was er verschließt, und Ihr werdet sehen, daß dieser Gegenstand Eurer Neugier eben nicht würdig ist.«

Sie durchschritten nun miteinander alle Gemächer und kamen an einen dunkeln Winkel; hier zog der Geist einen Schlüssel hervor, welchen er sorgfältig in seinem Busen verborgen trug, und öffnete damit einen eisernen Schrank, in dessen Hintergrunde ein Säbel stand.

»Ihr seht,« sprach er zu der Prinzessin, »daß alles dieses kaum Eurer Beobachtung wert ist.«

»Dieser Säbel,« versetzte sie, »muß von sehr köstlicher Arbeit sein, weil Ihr ihn so sorgfältig bewahret: ich möchte ihn wohl sehen.«

»Er hat gar nichts Ungewöhnliches,« sagte der Geist, »und es verlohnt nicht die Mühe, ihn Euch zu zeigen.«

»Eure Weigerung reizt mich nur desto mehr: Ihr werdet mir doch diese letzte Bitte nicht versagen.«

Und sie bestand so sehr darauf, daß der Geist gezwungen war, ihrer Bitte zu willfahren: aber kaum sah sie den Säbel in ihrer Gewalt, so schwang sie ihn dem Geiste über dem Haupte und rief aus: »Elender, bereite dich zum Tode!«

Beim Anblicke des Schwertes, auf welchem sein Todesurteil geschrieben stand, war der Geist von Schrecken betroffen; er warf sich der Prinzessin zu Füßen und bat sie um Gnade, und sie erwiderte ihm, sie wollte ihre Rache verschieben, wenn er ihr das Schicksal ihres Bruders Benasir kundtäte.

Der Geist, um sein Leben zu retten, zeigte ihr den Ort an, wo er versperrt war: die Prinzessin eilte sogleich hin, indem sie sorgfältig den Säbel bewahrte, welcher sie zur Herrin des ganzen unterirdischen Baues machte.

Sie fand den jungen Prinzen von Persien der grimmigsten Verzweiflung hingegeben, denn man hatte ihm angekündigt, daß er übermorgen geopfert werden sollte.

Als die Prinzessin diesen Umstand vernahm, so war sie ihres Unwillens nicht mehr mächtig und gab dem Geiste den Todesstreich.

Sogleich verschwanden mit einem entsetzlichen Getöse die Gemächer, in welchen sie sich befanden, und beide sahen sich wieder in die Talschlucht versetzt, in welche sie bei ihrer Ankunft aus der afrikanischen Küste sich herabgesenkt hatten.

Nach tausend Mühseligkeiten und Gefahren gelang es ihnen, das Ufer des Meeres zu erreichen, wo sie sich nach Persien einschifften.

Hier vernahm nun Benasir das Geheimnis seiner Geburt. Es wurden Gesandte zu dem Kaiser von China geschickt, um seine Einwilligung zu der Vermählung seiner Tochter mit Benasir zu erbitten, und dieser wurde bald darauf mit derjenigen vereint, welche ihm das Leben gerettet hatte.«

Nachdem Scheherasade diese Erzählung vollendet hatte, begann sie in der folgenden Nacht auf die Aufforderung ihrer Schwester Dinarsade und des Sultans von Indien die Geschichte Attafs von Damaskus.

 


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