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Geschichte des sechsten Bruders des Barbiers.

Jetzt bleibt mir nichts weiter übrig, als die Geschichte meines sechsten Bruders zu erzählen, welcher Schakaïk mit der gespaltenen Lippe hieß. Er war anfänglich so betriebsam gewesen, die hundert Silberdrachmen, die er als seinen Erbteil empfangen hatte, so gut anzulegen, daß er sich sehr bald in einer bequemen Lage befunden hatte; allein ein Unfall, der ihn traf, versetzte ihn bald in die Notwendigkeit, sich seinen Lebensunterhalt zu erbetteln. Er betrieb dies Geschäft mit vieler Geschicklichkeit und bemühte sich besonders durch Vermittelung der Diener und Aufwärter sich Eintritt in die großen Häuser und Zutritt zu den Herren selber zu verschaffen und ihr Mitleid zu erregen.

Als er eines Tages vor einem prachtvollen Gebäude vorbeiging, durch dessen hohe Pforten man in einen geräumigen Hof sehen konnte, der von Bedienten wimmelte, wandte er sich an einen derselben und fragte ihn, wem dies Haus gehöre. »Lieber Freund,« erwiderte ihm der Bediente, »aus welchem fernen Lande kommst du, daß du eine solche Frage an mich tust? Kannst du nicht aus allem, was du hier siehst, schließen, daß es das Haus eines Barmekiden ist?« Mein Bruder, dem die Freigebigkeit und Großmut der Barmekiden gar wohl bekannt war, wandte sich an die Pförtner, denn es gab da mehr wie einen, und bat sie um ein Almosen. »Geh hinein,« sagten sie zu ihm, »niemand hindert dich daran, und wende dich selbst an den Herrn des Hauses; er wird dich gewiß zu deiner vollen Befriedigung entlassen.«

Mein Bruder hatte eine solche Höflichkeit gar nicht erwartet. Er dankte den Pförtnern dafür und trat mit ihrer Erlaubnis in das Schloß, welches so weitläufig war, daß er sehr viele Zeit brauchte, ehe er an die Wohnzimmer des Barmekiden gelangte. Er kam endlich an ein viereckiges, im schönsten Stil aufgeführtes Gebäude und trat durch eine Vorhalle hinein, aus welcher er einen sehr schönen Garten mit Gängen von buntfarbigen Kieseln, die das Auge ergötzten, sehen konnte. Die untern Zimmer, welche rings um denselben herumliefen, waren fast alle durchsichtig gebaut. Sie waren gegen die Sonnenstrahlen durch große Vorhänge geschirmt, welche man öffnete, um frische Lust zu schöpfen, sobald die Hitze des Tages vorüber war.

Ein so angenehmer Ort würde die Bewunderung meines Bruders erregt haben, wenn sein Gemüt ruhiger und zufriedener gewesen wäre. Er schritt vorwärts und trat in einen reich verzierten Saal, der mit Malereien von goldnem und himmelblauem Laubwerk geschmückt war. Er sah darin einen ehrwürdigen Mann mit weißem Barte auf dem Ehrenplatze des Sofas sitzen, woraus er schloß, daß es der Besitzer des Hauses selber war. In der Tat war es auch wirklich der Barmekide selber, der ihn auf eine sehr verbindliche Weise willkommen hieß und ihn fragte, was er wünsche. »Gnädiger Herr,« antwortete ihm mein Bruder mit einer Miene, welche Mitleid zu erwecken geeignet war, »ich bin ein armer Mann, welcher die Unterstützung so großer und mächtiger Herren, wie Ihr seid, bedarf.« Er konnte sich wirklich an keinen besseren wenden als an diesen vornehmen Mann, der sich durch tausend herrliche Eigenschaften empfahl.

Der Barmekide schien über die Antwort meines Bruders erstaunt zu sein. Er fuhr mit seinen beiden Händen nach der Brust, gleichsam als wolle er zum Zeichen der Betrübnis sein Kleid zerreißen. »Ist es möglich,« rief er aus, »daß ein Mann wie du in Not ist, während ich in Bagdad bin? Das kann ich nicht dulden!« Auf diese Weise hoffte mein Bruder einen ganz besonderen Beweis von Freigebigkeit zu empfangen, er überhäufte ihn daher mit Segenssprüchen und wünschte ihm alles mögliche Gute. »Es soll niemand sagen können,« fuhr der Barmekide fort, »daß ich Euch verlassen hätte, und ich verlange ebensowenig, daß Ihr mich verlasset.« – »Herr,« erwiderte mein Bruder, »ich schwöre Euch, daß ich heute noch nicht das mindeste gegessen habe.« – »Also wirklich,« rief der Barmekide, »du bist jetzt um diese Stunde noch nüchtern? Ach, der arme Mann! Er ist gewiß schon halb verhungert! He da, Bursche,« rief er mit lauter Stimme, »bringe rasch ein Wasserbecken, damit wir uns die Hände waschen!« Obwohl niemand erschien und mein Bruder weder ein Becken noch Wasser sah, so unterließ der Barmekide doch nicht, sich die Hände zu reiben, wie wenn jemand Wasser darüber hingösse, und während er dies tat, sagte er zu meinem Bruder: »Komm doch her und wasche dich mit mir!« Schakaïk merkte daraus wohl, daß der Herr Barmekide etwas zu lachen haben wolle, und da er selber Scherz verstand und recht gut wußte, welche artige Rücksicht die Armen gegen die Reichen nehmen müssen, wenn sie davon Vorteil ziehen wollen, so trat er näher und machte es ebenso wie jener.

»Wohlan,« sagte hierauf der Barmekide, »man bringe uns jetzt etwas zu essen und lasse uns nicht darauf warten!« Als er diese Worte gesprochen, fing er an, obwohl man gar nichts hereingebracht hatte, so zu tun, als hätte er etwas in einer Schüssel vor sich, langte zu, fuhr nach dem Munde und kaute, indem er zu meinem Bruder sagte: »Iß, lieber Gast, ich bitte dich darum, verfahre ganz so zwanglos, als ob du bei dir zu Hause wärest. Lange doch immer zu, für einen Mann, der so ausgehungert ist, lässest du dich viel zu sehr nötigen.« – »Verzeiht, Herr,« antwortete Schakaïk, indem er genau alle seine Gebärden nachmachte, »Ihr sehet, daß ich keine Zeit verliere, und daß ich meine Schuldigkeit tue.« – »Was sagst du zu diesem Brot,« fuhr hierauf der Barmekide fort, »findest du es nicht ganz vortrefflich?« – »Ach gnädiger Herr,« erwiderte mein Bruder, der weder Brot noch Fleisch vor sich sah, »ich habe niemals so weißes und wohlschmeckendes gegessen.« – »So iß dich nur recht satt,« sagte hierauf der Herr Barmekide, »ich versichere dich, die Bäckerin, welche mir so gutes Brot bäckt, habe ich mit fünfhundert Goldstücken bezahlen müssen+...«

Scheherasade wollte fortfahren, aber der anbrechende Tag nötigte sie, hier innezuhalten. In der folgenden Nacht setzte sie ihre Erzählung also fort:

 

Einhundertundfünfundachtzigste Nacht.

»Nachdem der Barmekide von seiner Bäckerin gesprochen und ihr schönes Brot belobt hatte, welches mein Bruder bloß in der Einbildung speiste, rief er: »Bursche, bringe uns eine andere Schüssel! Mein wackerer Gast,« fuhr er hierauf zu meinem Bruder fort, obwohl kein Bursche sich sehen ließ, »koste jetzt von diesen neuen Speisen und sage mir, ob du jemals Hammelfleisch mit geschältem Korn gegessen hast, welches besser zugerichtet gewesen wäre als dies hier?« – »Es ist ganz bewundernswürdig schön,« antwortete mein Bruder, »ich lasse es mir auch ganz gehörig schmecken.« – »Das ist mir sehr angenehm,« erwiderte der Barmekide; »ich beschwöre dich bei dem Vergnügen, welches ich daran habe, dich so fröhlich essen zu sehen, daß du nichts von diesen Speisen übrig lässest, da du sie so ganz nach deinem Geschmack findest.« Bald darauf verlangte er eine Gans mit süßer Brühe, aus Weinessig, Honig, Rosinen, Kichererbsen und trockenen Feigen bereitet, die ihm denn auch ebenso wie die Schüssel mit Hammelfleisch gebracht wurde. »Die Gans ist sehr fett« sagte der Barmekide, »iß davon bloß einen Schenkel und einen Flügel. Du mußt dir schon noch etwas Appetit übrig lassen, denn es kommen noch verschiedene andere Sachen.« Auch ließ er wirklich noch verschiedene andere Schüsseln mit allerlei Gerichten bringen, die mein Bruder, der vor Hunger fast starb, mitzuspeisen sich stellte. Aber was der Wirt mehr als alles übrige pries, war ein mit Pistazien gefüttertes Lämmchen, welches er sich geben ließ, und welches so wie die übrigen Gerichte ausgetragen wurde. »Ach, ein solches Gericht wie dieses,« sagte der Barmekide, »kann man sonst nirgends als bei mir speisen. Ich wünsche daher, daß du dich recht satt daran essen magst.« Indem er dies sagte, tat er, als hätte er ein Stück in der Hand, näherte es dem Munde meines Bruders und sagte: »Da nimm und schlucke es hinunter; du wirst bald sehen, ob ich unrecht hatte, wenn ich dir dies Gericht herauspries.« Mein Bruder streckte den Kopf vorwärts, öffnete den Mund und stellte sich, als nähme er das Stück, kaute es und schluckte es mit unbeschreiblichem Vergnügen hinunter. »Ich wußte schon,« sagte der Barmekide, »daß du es sehr gut finden würdest.« – »Es gibt auf der Welt keine auserlesenere Speise,« erwiderte mein Bruder; »ganz offen gesprochen, der Tisch, den Ihr führt, ist etwas ganz Köstliches.« – »Man bringe jetzt das Ragout!« rief der Barmekide; »ich denke, du wirst damit nicht minder zufrieden sein als mit dem Lämmchen. Nun, was meinst du dazu?« – »O, es ist wunderschön!« erwiderte Schakaïk; »man schmeckt darin zugleich den Ambra, die Gewürznelken, die Muskatnüsse, den Ingwer, den Pfeffer und die wohlriechendsten Kräuter; und alle diese Gewürze sind in so gehörigem Maße angewendet, daß man eines neben dem andern immer noch hervorschmeckt, welcher Wohlgeschmack!« – »Drum lange zu und iß,« antwortete der Barmekide, »ich bitte dich darum. He da, Bursche,« fügte er mit lauter Stimme hinzu, »man bringe uns noch ein neues Ragout.« – »Ach nein, wenn Ihr es erlaubt!« unterbrach ihn mein Bruder; »in der Tat, Herr, es ist nicht möglich, daß ich noch mehr esse; ich kann nicht mehr.«

»Man trage also das Essen ab,« rief nunmehr der Barmekide, »und bringe die Früchte!« Er wartete einen Augenblick, gleichsam um der Dienerschaft Zeit zu lassen, die Tafel abzuräumen; dann fuhr er fort: »Koste doch von diesen Mandeln; sie sind gut und frisch gepflückt.« Sie taten nun beide so, als ob sie die Mandeln ausschälten und äßen. Hierauf lud der Barmekide meinen Bruder ein, auch von dem übrigen zuzulangen, und sagte zu ihm: »Da sind noch verschiedene Arten von Früchten, Kuchen, trockenem Konfekt und Eingemachtem. Wähle dir nach Belieben davon aus.« Sodann streckte er die Hand aus, als ob er ihm etwas überreichte, und sagte: »Da, nimm dies wohlschmeckende Täfelchen, das dir die Verdauung befördern wird.« Schakaïk stellte sich, als nähme und äße er, und sagte hernach: »Herr, der Bisam ist darin nicht geschont.« – »Diese Art Täfelchen,« erwiderte der Barmekide, »wird bei mir im Hause zubereitet, und es wird darin so wie bei allem übrigen, was bei mir bereitet wird, freilich nichts gespart.« Er forderte jetzt meinen Bruder nochmals auf zu essen und äußerte: »Für einen Mann, der bei seinem Eintritt bei mir noch ganz nüchtern war, scheinst du mir eben nicht viel gegessen zu haben.« – »Herr,« antwortete mein Bruder, dem von dem Kauen bei leerem Munde schon die Kinnbacken wehtaten, »ich versichere Euch, daß ich so voll bin, daß ich auch nicht einen Bissen mehr zu essen imstande wäre.«

»Lieber Gast,« fuhr jetzt der Barmekide fort, »nachdem wir so gut gegessen haben, müssen wir auch etwas trinken.« – »Herr,« sagte mein Bruder zu ihm, »wenn Ihr erlaubt, so werde ich keinen Wein trinken, denn er ist mir verboten.« – »Ihr seid zu ängstlich,« erwiderte der Barmekide, »macht es so wie ich.« – »So werde ich denn bloß aus Höflichkeit mittrinken,« antwortete Schakaïk. »Ihr wollt, wie ich sehe, daß bei Eurem Gastmahl nichts fehlen soll; allein, da ich an das Weintrinken nicht gewöhnt bin, so fürchte ich, irgend einen Fehler gegen den Wohlanstand und gegen die Euch schuldige Ehrerbietung zu begehen; ich bitte Euch daher nochmals, mir das Weintrinken zu erlassen, ich werde mich damit begnügen, Wasser zu trinken.« – »Nein, nein,« sagte der Barmekide, »du wirst Wein trinken.« Zugleich befahl er, welchen zu bringen; aber der Wein war ebensowenig wirklich als früher das Fleisch und die Früchte. Er tat, als schenkte er sich Wein ein und tränke zuerst, dann tat er, als ob er auch meinem Bruder zu trinken einschenkte und ihm das Glas darreichte. »Da, trinke auf meine Gesundheit,« sagte er zu ihm; »wir wollen doch einmal sehen, ob er dir schmecken wird.« Mein Bruder stellte sich, als nähme er das Glas in die Hand, betrachtete es in der Nähe, um zu sehen, ob der Wein eine schöne Farbe habe, brachte es dann an die Nase, um den Duft des Weines einzuschlürfen, machte sodann mit dem Kopfe eine tiefe Verbeugung gegen den Barmekiden zum Zeichen, daß er sich die Freiheit nähme, seine Gesundheit zu trinken, und tat dann, als tränke er, und zwar mit der Gebärde eines Mannes, dem der Wein sehr gut schmeckt. »Herr,« sagte er hierauf zu ihm, »ich finde diesen Wein köstlich; allein, wie es mir vorkommt, ist er nicht sehr stark.« – »Wenn du stärkeren wünschest,« sagte der Barmekide, »so darfst du es nur sagen; in meinem Keller habe ich mehrere Sorten. Sieh einmal zu, ob dir dieser hier behagt.« Bei diesen Worten stellte er sich, als schenkte er zuerst sich selber, sodann meinem Bruder anderen Wein ein. Er tat dies so oft, daß Schakaïk sich stellte, als steige ihm der Wein in den Kopf, und zuletzt sich berauscht stellend, schlug er den Barmekiden so derb an den Kopf, daß er ihn zu Boden warf. Er wollte ihm noch einen Schlag versetzen, aber der Barmekide hielt die Hand vor und rief ihm zu: »Bist du toll?« Da hielt mein Bruder ein und sagte zu ihm: »Herr, Ihr hattet die Güte, Euren Sklaven in Eurem Hause aufzunehmen und ihm einen großen Schmaus zu geben. Ihr hättet Euch nun damit begnügen sollen, denn ich sagte Euch voraus, daß ich leicht die Ehrerbietung gegen Euch dabei verletzen könnte. Übrigens tut es mir sehr leid, und ich bitte Euch tausendmal um Vergebung.«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als der Barmekide, anstatt in Zorn zu geraten, aus vollem Halse zu lachen anfing. »Schon lange,« sagte er zu ihm, »suche ich einen Mann von Eurem Charakter –«

Jedoch, Herr,« sagte Scheherasade zum Sultan von Indien, »ich habe gar nicht darauf acht gegeben, daß es schon Tag ist.« Schachriar stand sogleich auf; in der nächsten Nacht fuhr die Sultanin in ihrer Erzählung fort wie folgt:

 

Einhundertundsechsundachtzigste Nacht.

»Der Barmekide erwies nun meinem Bruder unzählige Liebkosungen. »Ich verzeihe dir,« sagte er zu ihm, »nicht bloß den Schlag, den du mir gegeben hast, sondern ich will selbst, daß wir von nun an Freunde seien, und daß du kein anderes Haus habest als das meinige. Du hast die Gefälligkeit gehabt, dich in meine Laune zu schicken, und zugleich die Geduld, den Scherz bis ans Ende auszuhalten; wir wollen jetzt indes im Ernste essen.« Bei diesen Worten schlug er in die Hände und befahl mehreren Bedienten, die sogleich erschienen, den Tisch herbeizubringen und aufzutragen. Man gehorchte auf der Stelle, und mein Bruder wurde nun mit denselben Gerichten bewirtet, die er bisher bloß in der Einbildung genossen hatte. Als man die Speisen abgeräumt hatte, brachte man Wein, und zugleich trat eine große Anzahl schöner und reich gekleideter Sklavinnen herein, welche zum Klange von Instrumenten einige anmutige Lieder sangen. Kurz, Schakaïk hatte alle Ursache, mit der Güte und Artigkeit des Barmekiden, dessen Wohlgefallen er sich erworben, zufrieden zu sein. Dieser Herr ging nun mit ihm ganz freundschaftlich um und ließ ihm ein Kleid aus seiner Kleiderkammer geben.

Der Barmekide fand in meinem Bruder so viel Verstand und Einsicht, daß er ihm wenige Tage nachher die Besorgung seines ganzen Hauswesens und aller seiner Angelegenheiten übertrug. Mein Bruder verwaltete dies Amt zwanzig Jahre hindurch sehr glücklich. Nach Verlauf dieser Zeit starb der edelmütige Barmekide vor Altersschwäche, und da er keine Erben hinterließ, so nahm man sein ganzes Vermögen für den Sultan des Landes in Beschlag. Man nahm meinem Bruder alles das Geld, welches er gesammelt hatte, so daß er sich bald wieder in seine frühere Lage versetzt sah und sich endlich an eine Karawane, die nach Mekka wallfahrtete, anschloß in der Absicht, diese Wallfahrt von den milden Almosen der Pilger bestreiten zu können. Unglücklicherweise ward die Karawane von einer Schar Beduinen angefallen und geplündert, und mein Bruder wurde Sklave eines Beduinen, der ihm mehrere Tage hindurch Stockschläge gab, um ihn zu zwingen, sich loszukaufen. Schakaïk versicherte ihm, daß er ganz unnützerweise ihn mißhandle. »Ich bin dein Sklave,« sagte er zu ihm, »und du kannst mit mir nach Belieben schalten; aber ich versichere dich, daß ich mich in der tiefsten Armut befinde, und daß ich durchaus nicht imstande bin, mich loszukaufen.« Doch mein Bruder mochte ihm seine Dürftigkeit auseinandersetzen, wie er nur immer wollte, und ihn durch seine Tränen zu rühren suchen, der Beduine blieb unerbittlich, und aus Verdruß darüber, daß ihm eine so bedeutende Summe, auf die er gerechnet hatte, nun entgehe, nahm er sein Messer und schlitzte ihm die Lippen auf, um sich durch diese Unmenschlichkeit für den Verlust zu rächen, den er erlitten zu haben glaubte.

Der Beduine hatte eine sehr hübsche Frau, und oft, wenn er auf seine Streifereien ausging, ließ er meinen Bruder mit ihr allein. Dann unterließ die Frau nichts, was ihn nur irgend über die Härte seines Sklavenloses zu trösten vermochte. Sie ließ ihm sogar merken, daß sie ihn liebe; aber er wagte aus Furcht vor der Reue nicht, ihre Leidenschaft zu erwidern, und vermied ebensosehr alle Gelegenheit, mit ihr allein zu sein, als sie diese Gelegenheit suchte. Sie hatte es sich so sehr angewöhnt, mit dem grausamen Schakaïk, sooft sie ihn nur sah, zu scherzen und ihre Neckerei zu treiben, daß sie es einst sogar in Gegenwart ihres Mannes tat. Mein Bruder, der nicht acht gegeben, daß er sie beobachte, ließ sich zur Strafe seiner Sünden einfallen, ihren Scherz zu erwidern. Der Beduine bildete sich nun sogleich ein, daß sie beide in einem strafbaren Einverständnis lebten, und dieser Argwohn machte ihn so wütend, daß er auf meinen Bruder losstürzte, ihn auf eine grausame Weise verstümmelte und ihn dann auf einem Kamel auf die Spitze eines Berges führte, wo er ihn liegen ließ. Der Berg lag an der Straße nach Bagdad, so daß die Vorüberreisenden, die ihn da sahen, mir von seinem Aufenthaltsorte Nachricht gaben. Ich begab mich in Eile dahin und fand den unglücklichen Schakaïk in einem beklagenswerten Zustande. Ich verschaffte ihm die nötige Hilfe und führte ihn in die Stadt zurück.«

Das war es, was ich dem Kalifen Mostanser Billah erzählte,« fügte der Barbier hinzu. »Der Kalif gab mir wiederum durch ein lautes Lachen seinen Beifall zu erkennen und sagte: »Ich kann jetzt nicht mehr daran zweifeln, daß man dir den Beinamen des Verschwiegenen mit vollem Rechte gegeben; niemand kann das Gegenteil sagen. Indes befehle ich dir aus gewissen Gründen, eiligst die Stadt zu verlassen. Geh und laß nichts mehr von dir hören.« Ich mußte der Notwendigkeit weichen und reiste mehrere Jahre hindurch in entfernten Ländern umher. Endlich erfuhr ich, daß der Kalis gestorben sei, und kehrte nach Bagdad zurück, wo ich aber nur noch einen einzigen meiner Brüder am Leben fand. Bei meiner Rückkehr in diese Stadt war es, wo ich dem jungen Hinkenden den wichtigen Dienst leistete, von dem Ihr gehört habt. Indes Ihr seid Zeugen seiner Undankbarkeit und der schmachvollen Art und Weise, wie er mich behandelt hat. Anstatt mir Erkenntlichkeit zu bezeigen, hat er es vorgezogen, mich zu fliehen und sich aus seiner Heimat zu entfernen. Sobald ich erfuhr, daß er nicht mehr in Bagdad sei, obwohl niemand mir sagen konnte, wohin er seinen Weg genommen, unterließ ich doch nicht, mich aufzumachen und ihn aufzusuchen. Schon seit langer Zeit wandere ich von Land zu Land, und heute, wo ich es am wenigsten dachte, habe ich ihn endlich getroffen. Doch war ich gar nicht darauf gefaßt, ihn so erbittert gegen mich zu finden.«

Scheherasade bemerkte bei dieser Stelle, daß es schon Tag war, und schwieg still; erst in der nächstfolgenden Nacht nahm sie den Faden ihrer Erzählung wieder auf:

 

Einhundertundsiebenundachtzigste Nacht.

»Herr, der Schneider erzählte dem Sultan von Kaschgar nun vollends die Geschichte des jungen Hinkenden und des Barbiers von Bagdad, ganz so, wie ich sie gestern Euer Majestät zu erzählen die Ehre hatte:

»Als der Barbier,« fuhr er fort, »seine Geschichte geendigt hatte, fanden wir, daß der junge Mensch nicht so ganz unrecht gehabt hatte, ihn einer großen Geschwätzigkeit zu beschuldigen. Gleichwohl wünschten wir, daß er bei uns bleiben und an der Mahlzeit teilnehmen möchte, die der Herr des Hauses für uns bereiten ließ. Wir setzten uns zu Tische und erquickten uns bis zum nachmittägigen Gebete. Dann entfernte sich die ganze Gesellschaft, und ich ging in meinen Laden, um da zu arbeiten, bis es Zeit zum Nachhausegehen sein würde.

In dieser Zwischenzeit war es, wo der kleine Bucklige sich halb berauscht bei mir einfand und auf seiner Schellentrommel spielte und dazu sang. Ich glaubte, wenn ich ihn mit in meine Wohnung nähme, würde ich meiner Frau dadurch eine kleine Belustigung verschaffen, und ich nahm ihn daher wirklich mit. Meine Frau setzte uns ein Gericht Fische auf, und ich legte dem Buckligen ein Stück davon vor, welcher es verzehrte, ohne auf die Gräten darin zu achten. Auf einmal fiel er vor uns besinnungslos zur Erde. Nachdem wir alle Mittel, ihn wieder zum Leben zu bringen, vergebens versucht hatten, nahmen wir in der Angst und Verlegenheit, welche uns ein so trauriger Vorfall verursachte, keinen Anstand, die Leiche aus unserer Wohnung fortzuschaffen, und wir wußten es so geschickt anzustellen, daß der jüdische Arzt ihn in sein Haus aufnahm. Der jüdische Arzt ließ ihn sodann in das Zimmer des Lieferanten hinunter, und der Lieferant trug ihn auf die Straße hinaus, wo man glaubte, daß ihn der Kaufmann erschlagen habe. Dies war es, Herr,« fügte der Schneider hinzu, »was ich Euch zu sagen hatte, um Euer Majestät zu befriedigen. Ihr habt jetzt den Ausspruch zu tun, ob wir Eure Gnade oder Euern Zorn, das Leben oder den Tod verdient haben.«

Der Sultan von Kaschgar ließ in seinen Mienen eine Zufriedenheit blicken, welche dem Schneider und seinen Gefährten das Leben wiedergab. »Ich kann nicht leugnen,« sagte er, »daß ich von der Geschichte des jungen Hinkenden, von der des Barbiers und von den Abenteuern seiner Brüder mehr überrascht worden bin als von der meines Narren. Aber bevor ich euch alle vier entlasse und den Körper des Buckligen zur Beerdigung gebe, möchte ich wohl noch jenen Barbier sehen, welcher die Ursache eurer Begnadigung ist. Da er sich in meiner Hauptstadt aufhält, so ist es ja sehr leicht, meine Neugierde zu befriedigen.« In diesem Augenblick fertigte er einen seiner Diener ab, um ihn in Begleitung des Schneiders, welcher seinen Aufenthaltsort ungefähr wußte, aufzusuchen.

Der Diener nebst dem Schneider kehrte sehr bald wieder zurück, und sie brachten den Barbier vor den Sultan geführt. Der Barbier war ein Greis von etwa neunzig Jahren, der einen schneeweißen Bart, ebensolche Augenbrauen, herunterhängende Ohren und eine sehr lange Nase hatte. Der Sultan konnte sich nicht enthalten, bei seinem Anblick zu lachen. »Verschwiegener Mann,« sagte er zu ihm, »ich habe gehört, daß Ihr so herrliche Geschichten wißt, wolltet Ihr mir wohl einige dergleichen erzählen?« – »Euer Majestät,« erwiderte der Barbier, »wenn Ihr es genehmigt, so wollen wir für den Augenblick die Geschichten, die ich etwa wissen mag, sein lassen. Ich bitte dagegen Euer Majestät ganz untertänigst um die Erlaubnis, zu fragen, was dieser Christ, dieser Muselmann und dieser tote Bucklige, den ich hier vor Euch liegen sehe, eigentlich hier machen?« Der Sultan lächelte über die Dreistigkeit des Barbiers und antwortete ihm: »Was geht dich das an?« – »Herr,« erwiderte der Barbier, »es liegt mir sehr viel daran, diese Frage zu tun, damit Euer Majestät sich überzeuge, daß ich kein Schwätzer bin, wie manche Leute behaupten, sondern ein Mann, der mit Recht der Verschwiegene genannt wird ...«

Scheherasade, überrascht von der Tageshelle, welche in das Zimmer des Sultans von Indien hereinzuscheinen begann, schwieg hier still und nahm erst in der nächsten Nacht ihre Erzählung folgendermaßen wieder auf:

 

Fortsetzung und Ende der Geschichte des kleinen Buckligen

 

Einhundertundachtundachtzigste Nacht.

»Der Sultan von Kaschgar hatte die Güte, die Neugier des Barbiers zu befriedigen. Er befahl, daß man ihm die Geschichte des kleinen Buckligen erzählen möchte, da er es so eifrig zu wünschen schien. Als der Barbier sie angehört hatte, bewegte er den Kopf, gleichsam als wollte er damit andeuten, daß es dabei etwas Verborgenes gäbe, was er nicht ganz begreifen könnte. »Gewiß,« rief er aus, »diese Geschichte ist sehr überraschend; indes wünsche ich doch, diesen Buckligen etwas näher zu untersuchen.« Er näherte sich ihm nun, setzte sich neben ihn auf die Erde, nahm den Kopf auf seinen Schoß, und nachdem er ihn aufmerksam betrachtet hatte, lachte er auf einmal so laut und so unmäßig auf, daß er rücklings umfiel, ohne zu überlegen, daß er sich vor dem Sultan von Kaschgar befand. Dann stand er unter fortwährendem Lachen auf und rief: »Wohl sagt man mit Recht, der Tod will seine Ursache haben. Wenn je eine Geschichte es verdient hat, mit goldenen Buchstaben aufgezeichnet zu werden, so ist es die des Buckligen.«

Bei diesen Worten betrachteten alle den Barbier wie einen Narren oder wie einen wahnsinnigen Greis. »Verschwiegener Mann,« sagte der Sultan zu ihm, »worüber lachst du denn so gewaltig?« – »Herr,« antwortete der Barbier, »ich schwöre bei der wohltätigen Sinnesart Euer Majestät, daß dieser Bucklige nicht tot ist; er ist noch lebendig, und ich will für einen Toren gelten, wenn ich es Euch nicht augenblicklich beweise.« Mit diesen Worten nahm er eine Büchse hervor, worin er mehrere Heilmittel hatte, und die er stets bei sich trug, um sie gelegentlich zur Hand zu haben, und zog daraus ein kleines Balsamfläschchen, womit er lange Zeit den Hals des Buckligen einrieb. Hierauf nahm er aus einem Besteck ein sehr feines Brecheisen, schob es zwischen die Zähne desselben, öffnete ihm den Mund, fuhr ihm dann mit kleinen Zängelchen in den Schlund hinab und zog damit das Stück Fleisch nebst der Gräte heraus, welches er nun allen zeigte. Sogleich nieste der Bucklige, streckte die Arme und Beine aus, schlug die Augen auf und gab noch andere Zeichen des Lebens von sich.

Der Sultan von Kaschgar und alle die, welche Zeugen dieser schönen Operation waren, waren weniger darüber erstaunt, den Buckligen wieder neu aufleben zu sehen, nachdem er eine ganze Nacht und den größten Teil des Tages ohne Regung dagelegen hatte, als vielmehr über das Verdienst und die Geschicklichkeit des Barbiers, den man ungeachtet seiner Fehler jetzt als einen ausgezeichneten Mann zu betrachten anfing. Der Sultan befahl, von Freude und Bewunderung ergriffen, daß man die Geschichte des Buckligen nebst der des Barbiers schriftlich aufzeichnen solle. Dabei ließ er es aber nicht bewenden. Damit der Schneider, der jüdische Arzt, der Lieferant und der christliche Kaufmann sich stets mit Vergnügen an das Abenteuer, das der Zufall des Buckligen ihnen veranlaßt hatte, zurückerinnern möchten, entließ er sie nicht eher, als bis er einem jeden von ihnen ein sehr reiches Kleid geschenkt, das sie in seiner Gegenwart anziehen mußten. Dem Barbier dagegen setzte er ein ansehnliches Jahresgehalt aus und behielt ihn in seiner Umgebung.«

So endigte denn die Sultanin Scheherasade die lange Reihe von Abenteuern, welche der angebliche Tod des Buckligen veranlaßt hatte. Da der Tag bereits anbrach, so schwieg sie still. Als ihre Schwester Dinarsade sah, daß sie nicht mehr sprach, sagte sie zur ihr: »Meine Sultanin, ich bin von der Geschichte, die du soeben vollendet hast, umsomehr erfreut, da sie auf eine Weise schließt, wie ich gar nicht erwartet hatte. Ich glaubte, der Bucklige sei wirklich tot gewesen.« – »Diese Überraschung,« sagte Schachriar, »hat mir ebensoviel Vergnügen gemacht als die Abenteuer der Brüder des Barbiers.« – »Auch die Geschichte des jungen Hinkenden von Bagdad hat mich sehr belustigt,« äußerte Dinarsade. »Ich freue mich darüber, liebe Schwester,« sagte die Sultanin, »und da ich das Glück habe, den Sultan, unseren Herrn und Gebieter, nicht zu langweilen, so würde ich, wenn Seine Majestät mich noch länger leben ließe, ihm morgen die Geschichte der seltsamen Abenteuer des angeblichen Kalifen Ali Schach und des Kalifen Harun Arreschid erzählen, welche seiner und deiner Aufmerksamkeit nicht minder würdig ist als die Geschichte des Buckligen.« Der Sultan von Indien, der mit alledem, womit Scheherasade ihn bisher unterhalten hatte, sehr zufrieden war, überließ sich ganz dem Vergnügen, auch noch die Geschichte zu hören, welche sie ihm versprach.

Er stand sodann auf, um sein Gebet zu verrichten und die Ratversammlung zu halten.

 


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