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Geschichte des ersten Bruders des Barbiers.

»Herr,« fing ich an, »mein ältester Bruder, welcher Babbuk, der Bucklige, hieß, war seinem Gewerbe nach ein Schneider. Nach Vollendung seiner Lehrjahre mietete er sich einen Laden einer Mühle gegenüber, und da er noch keine Kunden hatte, so konnte er sich mit seiner Arbeit nur mühsam nähren. Der Müller dagegen lebte ganz bequem und hatte eine sehr schöne Frau. Eines Tages hob mein Bruder, als er eben in seinem Laden arbeitete, den Kopf in die Höhe und erblickte an einem Fenster der Mühle die Müllerin, welche in die Straße hinuntersah. Er fand sie so schön, daß er von ihr ganz bezaubert wurde. Die Müllerin dagegen beachtete ihn nicht weiter, sie machte das Fenster zu und ließ sich den ganzen Tag über nicht mehr sehen. Der arme Schneider indes hob seitdem während seiner Arbeit beständig die Augen nach dem Mühlenfenster empor, stach sich mehr als einmal in die Finger und arbeitete gar nicht mehr so sorgfältig wie sonst. Als er am Abend seinen Laden zumachen mußte, konnte er sich gar nicht dazu entschließen, weil er immer noch hoffte, die Müllerin würde sich zeigen; allein endlich mußte er ihn doch schließen und sich nach seinem kleinen Häuschen begeben, wo er die Nacht sehr traurig zubrachte. Freilich stand er dafür auch weit früher auf und eilte, von Ungeduld, seine Geliebte wiederzusehen, beflügelt, nach seinem Laden. Er war indes nicht glücklicher als am vorigen Tage; die Müllerin zeigte sich den ganzen Tag nur einen Augenblick. Aber eben dieser Augenblick machte ihn vollends zum verliebtesten aller Männer. Den dritten Tag war er zufriedener als die beiden vorigen. Die Müllerin warf zufällig einen Blick auf ihn und überraschte ihn, als er sie gerade ansah; sie wußte nun sogleich, was in seinem Herzen vorging –«

Der anbrechende Tag nötigte Scheherasaden, ihre Erzählung an dieser Stelle abzubrechen. Die folgende Nacht nahm sie den Faden wieder auf und sagte zu dem Sultan von Indien:

 

Einhundertundzweiundsiebenzigste Nacht.

»Die Müllerin hatte kaum die Gefühle meines Bruders erkannt, als sie auch, anstatt darüber böse zu werden, beschloß, ihren Scherz damit zu treiben. Sie sah ihn mit einer lächelnden Miene an; mein Bruder sah sie gleichfalls an, aber mit einer so possierlichen Gebärde, daß die Müllerin schnell das Fenster zumachte, aus Furcht, darüber laut auflachen zu müssen und dadurch meinem Bruder zu erkennen zu geben, daß sie ihn höchst lächerlich finde. Der gutmütige Babbuk legte dies indes zu seinem Vorteil aus und unterließ nicht, sich zu schmeicheln, daß man ihn mit Vergnügen betrachtet habe.

Die Müllerin faßte nun den Entschluß, mit meinem Bruder ihren Scherz zu treiben. Sie hatte ein Stück schönen Seidenstoff, woraus sie sich schon längst hatte ein Kleid machen lassen wollen. Sie wickelte dies nun in ein schön gesticktes Tuch ein und schickte es ihm durch eine junge Sklavin zu, die sie im Hause hatte. Die Sklavin, welche von allem gut unterrichtet war, kam zu dem Laden des Schneiders und sagte zu ihm: »Meine Gebieterin läßt dich grüßen und bittet dich, ihr aus dem Stück Stoff, welches ich dir hier bringe, ein Kleid zu machen, und zwar nach dem beifolgenden Muster. Sie wechselt oft mit den Kleidern, und sie ist überhaupt ein Kunde, mit welchem du sehr zufrieden sein wirst.« Mein Bruder zweifelte jetzt gar nicht mehr daran, daß die Müllerin wirklich in ihn verliebt sei. Er glaubte, daß sie bloß darum so unmittelbar nach dem neuesten Vorfalle ihm Arbeit sende, um ihm zu zeigen, daß sie im Innern seines Herzens gelesen, und ihn von dem Glück zu versichern, welches er in ihrem Herzen gemacht habe. Von dieser günstigen Meinung befangen, trug er der Sklavin auf, ihrer Gebieterin zu sagen, daß er um ihretwillen alles übrige liegen lassen und daß das Kleid den folgenden Morgen fertig sein würde. Auch arbeitete er wirklich so emsig, daß er das Kleid noch denselben Tag fertig machte.

Den folgenden Tag kam die junge Sklavin, um nachzusehen, ob das Kleid fertig sei. Babbuk gab es ihr, gut zusammengelegt, mit den Worten: »Es liegt mir zu viel daran, deiner Gebieterin Genüge zu leisten, als daß ich ihr Kleid nachlässig gemacht haben sollte; ich möchte sie gern durch meine Sorgfalt einladen, künftig bloß bei mir arbeiten zu lassen.« Die junge Sklavin tat einige Schritte, um wegzugehen, drehte sich dann um und sagte ganz leise zu meinem Bruder: »Ach, ich hätte beinahe vergessen, einen Auftrag auszurichten; meine Gebieterin läßt dich grüßen und fragen, wie du die vergangene Nacht geschlafen hast; die arme Frau liebt dich so unaussprechlich, daß sie kein Auge hat zutun können.« – »Sag ihr nur,« erwiderte mein einfältiger Bruder, »ich hätte zu ihr eine so heftige Zuneigung gefaßt, daß ich schon seit vier Nächten kein Auge zugeschlossen.« Nach diesem Gruß von seiten der Müllerin glaubte er hoffen zu dürfen, daß sie ihn nicht lange mehr nach ihren Gunstbezeigungen würde schmachten lassen.

Es war kaum eine Viertelstunde verflossen, daß die Sklavin meinen Bruder verlassen hatte, als er sie schon wieder mit einem Stück Atlas kommen sah. »Meine Gebieterin,« sagte sie zu ihm, »ist mit dem Kleide sehr zufrieden; es steht ihr ganz vortrefflich. Allein da es so schön ist, und da sie es nur mit neuen Unterbeinkleidern tragen will, so läßt sie dich bitten, ihr wenigstens ein Paar von diesem Stück Atlas zu machen.« – »Ganz wohl,« antwortete Babbuk, »es wird heute noch fertig gemacht werden, ehe ich aus meinem Laden fortgehe; du darfst es nur gegen Abend abholen.« Die Müllerin zeigte sich oft am Fenster und verschwendete all ihren Liebreiz, um meinem Bruder Mut zu machen. Es war ein angenehmer Anblick, ihn arbeiten zu sehen. Die Unterbeinkleider waren sehr bald gemacht. Die Sklavin holte sie ab, brachte ihm aber weder Geld für die gemachten Auslagen zum Kleide und zu den Unterbeinkleidern noch das Macherlohn für seine Arbeit. Unterdes hatte dieser unglückliche Liebhaber, mit dem man, ohne daß er es merkte, einen Scherz trieb, den ganzen Tag über nichts gegessen und mußte sich endlich etwas Geld borgen, um zu Abend essen zu können. Als er am folgenden Tage eben seinen Laden geöffnet hatte, meldete ihm die junge Sklavin, daß der Müller ihn zu sprechen wünsche. »Meine Gebieterin,« fügte sie hinzu, »hat ihm deine Arbeit gezeigt und so viel Gutes von dir gesagt, daß er jetzt auch bei dir arbeiten lassen will. Sie hat dies absichtlich getan, damit die Verbindung, welche sie zwischen dir und ihm einzuleiten gedenkt, auch zur Erreichung des Zieles beitrage, wonach ihr beide gleich sehnlich trachtet.« Mein Bruder ließ sich überreden und ging mit der Sklavin in die Mühle. Der Müller empfing ihn sehr gut und überreichte ihm ein Stück Leinwand, indem er sagte: »Ich brauche Hemden, hier ist Leinwand dazu; ich wünschte, daß du mir zwanzig Stück machtest. Sollte etwas davon übrig sein, so kannst du mir es ja zurückgeben ...«

Bei diesen Worten wurde Scheherasade durch die Tageshelle überrascht, welche in das Zimmer Schachriars hineinzuleuchten begann, und schwieg daher plötzlich still. In der folgenden Nacht fuhr sie in der Geschichte Babbuks folgendermaßen fort:

 

Einhundertunddreiundsiebenzigste Nacht.

»Mein Bruder,« fuhr der Barbier fort, »hatte fünf bis sechs Tage an diesen zwanzig Hemden für den Müller zu arbeiten, der ihm hierauf ein anderes Stück Leinwand gab, um ihn daraus ebensoviel Unterbeinkleider machen zu lassen. Sobald sie fertig waren, trug sie Babbuk zu dem Müller, der ihn fragte, was er ihm für seine Mühe schuldig sei. Mein Bruder sagte, daß er sich mit zwanzig Silberdrachmen begnügen würde. Der Müller rief sogleich seine junge Sklavin und befahl ihr, ihm die Goldwage zu bringen, um nachzusehen, ob das Geld, welches er ihm geben wollte, auch wohl vollwichtig sei. Die Sklavin, welche in die Verabredung eingeweiht war, sah meinen Bruder zornig an, um ihm anzudeuten, daß er alles verderben würde, wenn er Geld nähme. Er nahm die Sache nun für entschieden an und weigerte sich, etwas anzunehmen, obwohl er gar sehr Geld bedurfte und sich sogar das Geld zu dem Zwirn hatte borgen müssen, womit er die Hemden und Unterbeinkleider genäht hatte. Beim Weggehen aus dem Hause des Müllers kam er zu mir und bat mich, ich möchte ihm doch etwas zu seinem Lebensunterhalt leihen, wobei er mir zugleich erzählte, daß man ihn gar nicht bezahle. Ich gab ihm etwas Geld, das ich grade bei mir hatte, und davon lebte er denn einige Tage hindurch. Freilich lebte er da bloß von Brei und aß sich selbst daran nicht einmal satt.

Eines Tages kam er in das Haus des Müllers, welcher eben damit beschäftigt war, seine Mühle in Gang zu bringen und in der Meinung, er komme, sich das Geld zu holen, ihm sofort Bezahlung anbot. Doch die junge Sklavin, welche zugegen war, gab ihm nochmals ein Zeichen, welches ihn bewog, nichts anzunehmen, sondern dem Müller zu sagen, er komme nicht deshalb, sondern bloß, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Der Müller dankte ihm dafür und gab ihm noch obendrein ein Kleid zu machen. Babbuk brachte es ihm schon den folgenden Tag. Der Müller zog seinen Geldbeutel; die junge Sklavin sah in diesem Augenblick meinen Bruder bloß an. »Lieber Nachbar,« sagte dieser sogleich zu dem Müller, »es drängt ja nicht; wir können uns ein andermal berechnen.« – Somit ging denn der arme Narr, mit drei großen Krankheiten behaftet, nach seinem Laden zurück, nämlich mit Liebe, Hunger und Armut.

Die Müllerin war geizig und boshaft. Es war ihr nicht genug, daß sie meinen Bruder um die schuldige Bezahlung gebracht hatte, sondern sie reizte auch ihren Mann noch auf, Rache zu nehmen für die Liebe, die er zu ihr hegte. Sie taten demnach folgendes. Eines Abends lud der Müller meinen Bruder zum Abendessen ein, und nachdem er ihn sehr schlecht bewirtet hatte, sagte er zu ihm: »Lieber Bruder, es ist für dich zu spät, um nach Hause zu gehen; bleibe nur hier.« Mit diesen Worten führte er ihn an einen Ort, wo ein Bett stand. Dort verließ er ihn und begab sich mit seiner Frau nach ihrem gewöhnlichen Schlafgemache. Um Mitternacht kam der Müller und suchte meinen Bruder auf. »Lieber Nachbar,« sagte er zu ihm, »schläfst du? Meine Mauleselin ist krank, und ich habe sehr viel Getreide zu mahlen; du würdest mir einen großen Gefallen tun, wenn du anstatt ihrer die Mühle drehen wolltest.« Babbuk, um sich ihm als einen gefälligen Mann zu zeigen, antwortete ihm, er sei bereit, ihm diesen Dienst zu leisten, wofern er ihm nur zeigen wolle, wie er die Sache anzugreifen habe. Der Müller band ihn hierauf mitten um den Leib wie eine Mauleselin, um die Mühle in Umschwung zu bringen, gab ihm hierauf einen tüchtigen Peitschenhieb über die Lenden und rief ihm dabei zu: »Vorwärts, lieber Nachbar!« – »Ei, was schlägst du mich denn?« erwiderte ihm mein Bruder. »Je nun, um dich anzuspornen,« antwortete der Müller; »denn ohne dergleichen mag mein Esel niemals recht gehen.« Babbuk war von dieser Behandlung sehr überrascht, gleichwohl wagte er nicht, sich darüber zu beklagen. Als er etwa fünf- bis sechsmal die Runde gemacht hatte, wollte er ausruhen; allein der Müller gab ihm ein Dutzend derbe Peitschenhiebe und rief ihm zu: »Immer rasch und munter, lieber Nachbar, bleibe ja nicht stehen, ich bitte dich, du mußt immerfort gehen, ohne dich zu verschnaufen, sonst verdirbt mir ja das Mehl ...«

Scheherasade hielt bei dieser Stelle inne, da sie sah, daß es bereits Tag war. Die folgende Nacht nahm sie ihre Rede folgendermaßen auf:

 

Einhundertundvierundsiebenzigste Nacht.

»Der Müller zwang auf diese Weise meinen Bruder, die ganze Nacht hindurch die Mühle herumzudrehen. Bei Tagesanbruch verließ er ihn, ohne ihn loszumachen, und begab sich in das Schlafgemach seiner Frau. Babbuk blieb eine ganze Weile in diesem Zustande. Endlich kam die junge Sklavin und machte ihn los. »Ach, wie haben wir beide, meine gute Gebieterin und ich, dich beklagt!« rief diese Treulose, »wir haben nicht den mindesten Anteil an dem bösen Streiche, den ihr Mann dir gespielt hat!« Der unglückliche Babbuk antwortete ihr nichts, so sehr war er von den Hieben zerbleut und abgemattet; allein als er sein Haus erreicht hatte, faßte er den festen Entschluß, nie mehr an die Müllerin zu denken.«

Die Erzählung dieser Geschichte,« fuhr der Barbier fort, »machte den Kalifen zu lachen. »Geh,« sagte er zu mir, »und kehre nach Hause zurück; man wird dir in meinem Namen etwas verabreichen, um dich zu trösten, daß du den Schmaus, auf den du dich gefaßt gemacht hattest, versäumtest.« – »Beherrscher der Gläubigen,« erwiderte ich, »ich bitte Euer Majestät, es nicht übelzunehmen, wenn ich nicht eher etwas annehme, als bis ich Euch auch die Geschichte meiner übrigen Brüder erzählt haben werde.« Da der Kalif mir durch sein Stillschweigen andeutete, daß er mich anzuhören geneigt sei, fuhr ich in folgender Weise fort:


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