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V.
Gerüchte

In den eingeweihten Kreisen des Hofes und der hohen Aristokratie begann man zu wispern. »Es stimmt doch nicht ganz«, sagten manche, »daß nur zügellose Abenteuer den Kronprinzen fesseln. Diesmal scheint es eine ernstere Sache …« Schlauere fügten hinzu, daß es diese »ernstere Sache« schon seit langem gegeben habe, und daß die Orgien bei Sacher nur den Zweck gehabt hätten, die Öffentlichkeit von der eigentlichen Wahrheit abzulenken. Man bewunderte das Doppelspiel des Kronprinzen und die »fesche« Art, in der er sein Geheimnis verdeckt hatte.

Was war aber diese »ernstere Sache«? Mancherlei Gerüchte wurden laut. Es wurde erzählt, daß es einem schönen jungen Mädchen gelungen sei, das Herz dieses Mannes, der bisher nur seinen Sinnen gefolgt war, zur Liebe zu bekehren. Andere lehnten ein so sentimentales Märchen mit überlegener Miene ab. Konnte denn wirklich jemand glauben, daß ein Mann wie der Kronprinz sich mit einem weißen Gänschen begnügen würde, und wäre es auch noch so hübsch? War es auszudenken, daß ein so blasierter Mann wie der Kronprinz mit einemmal nichts weiter verlangen sollte als ein paar Blicke, die in der Oper von Loge zu Loge gewechselt werden, als eine flüchtige Begegnung im Prater? (Die Begegnung im Prater galt als ziemlich erwiesen.) Denn darüber waren sich alle einig, daß Begegnungen andern Orts nicht stattgefunden haben konnten. Das junge Mädchen, dessen Namen man einander ins Ohr flüsterte, war noch niemals und nirgends allein gesehen worden, immer nur in Begleitung ihrer Mutter oder der Gräfin Larisch. – Allerdings gab es vereinzelte Menschen in Wien, die den Schlüssel zu allen Geheimnissen der Hofgesellschaft besaßen, und die bei Erwähnung des Namens der Gräfin verstohlen verständnisvolle Blicke wechselten, aber sie hatten ihre guten Gründe, sich mit diesen wortlosen Blicken zu begnügen. – Die Annahme war nicht ganz von der Hand zu weisen, daß auch dieses schöne junge Mädchen, dem der Kronprinz allerdings wohl nicht ganz gleichgültig gegenüberstand, zu nichts anderem dienen sollte, als allzu neugierige Blicke abzulenken. Was aber gab es eigentlich zu verbergen? An diesem Punkt verloren selbst die besten Spürhunde die Fährte. Man munkelte von einer hochstehenden polnischen Dame deutscher Abstammung. … Natürlich eine Spionin! – Man drückte es wohl nicht so brutal aus, man sprach vielmehr davon, daß sie eine Vertraute des teuflischen eisernen Kanzlers sei, der, mit den liberalen Ansichten unzufrieden, die der Kronprinz bei jeder Gelegenheit äußerte, versuchen wollte, ihn durch zartesten Zuspruch zu bekehren … Andere erzählten wieder von einem kleinen Bürgermädchen erlesenster Schönheit, das dem Kronprinzen derartig den Kopf verdreht hätte, daß ihm Krone und Reich nichtig erschienen neben der Möglichkeit, sie zu besitzen.

Wie immer die Meinungen auch auseinandergingen, über eines war man sich einig, daß dieser Unbeständige, der bisher allen Frauenhänden entschlüpft war, nun seine Meisterin gefunden hatte. Die Folgen, die daraus für Staat, Krone und Dynastie, für die politischen Parteien und die Regierung entstehen konnten, waren unübersehbar.

Bald wurde der Name der kleinen Baronesse Vetsera von so vielen Leuten ganz offen genannt, daß es ein Wunder gewesen wäre, wenn sie selbst und der Kronprinz nichts davon erfahren hätten. Graf Josef Hoyos, der Rudolf in wahrer Freundschaft ergeben war, meinte, obwohl er sich sonst von allem Hofklatsch fernehielt, ihn warnen zu müssen. Zu seiner großen Überraschung erwiderte ihm der Kronprinz bloß:

»Ich danke dir, Hoyos. Ich liebe tatsächlich dieses junge Mädchen, aber ich rechne auf dich, daß du allem Gerede entschieden entgegentrittst, durch das sie mit mir in Zusammenhang gebracht wird.«

Mary erfuhr unter peinlicheren Umständen davon, daß sie der bevorzugte Gegenstand des Stadtgesprächs geworden war.

Sie ging eines Abends, vor Beginn der Vorstellung, im Logengang des Opernhauses auf zwei Freundinnen ihrer Mutter zu, um sie zu begrüßen. Die Damen waren aber in ein so eifriges Gespräch vertieft, daß sie das Herankommen des jungen Mädchens gar nicht bemerkten. Mary streifte sie schon fast, da hörte sie von den Lippen der einen Dame ihren eigenen Namen und den Namen des Kronprinzen erwähnen … Im gleichen Augenblick wurde sie bemerkt, das Gespräch brach unvermittelt ab, und die beiden Damen verloren so sehr ihre Fassung, daß sie ihre Verwirrung kaum zu verbergen wußten. Mary selbst war sprachlos vor Schreck, und erst das Hinzutreten der ahnungslosen Baronin beendete das peinliche Schweigen.

Hätte sich ein solcher Zwischenfall nur einen Monat früher zugetragen, wäre Mary verzweifelt gewesen. Jetzt aber ging sie mit Fatalismus darüber hinweg. Sie fühlte sich als Spielball fürchterlicher, geheimnisvoller Mächte, gegen die sie nicht ankämpfen konnte, und die sie, früher oder später des Spiels müde, lebend oder tot beiseite werfen würden. Was lag auch schließlich daran, ob man in Wien über sie sprach oder nicht … Ehe es jemand wagte, solche unerwiesene Gerüchte ihrer Mutter zu Ohren zu bringen, würde noch viel Zeit vergehen! Mary aber lebte nur der unmittelbaren Gegenwart, ihre ganzen Pläne reichten nicht weiter als für drei Tage. Wußte sie denn, was in einem Monat, in einer Woche aus ihr werden würde?

Rudolf war wieder einmal für achtundvierzig Stunden verreist. Das traf sie viel unmittelbarer. Welche Neuigkeiten würde er bei seiner Rückkunft für sie haben? War wohl schon eine Nachricht aus Rom unterwegs? Ihr Leben klammerte sich an diese Hoffnung.

Als der Kronprinz von der zweitägigen Jagd auf Schloß Orth zurückkehrte, fand er die so sehr ersehnte Antwort des Papstes nicht vor. Dagegen fühlte er aus der Stimmung bei Hofe die Notwendigkeit, seine Begegnungen mit Mary mit noch größerer Vorsicht zu umgeben. Die Kronprinzessin machte einige Anspielungen, aus denen er entnehmen sollte, daß ihr seine Beziehungen zu Mary Vetsera vollkommen bekannt waren; er wagte es nicht, Mary in die Hofburg kommen zu lassen. Seine gefällige Kusine, die Gräfin Larisch, mußte Mary abends in den Prater bringen, wo man im Winter nach neun Uhr tatsächlich ganz ungestört war.

In Bratfischs Fiaker fand Mary zu ihrer Überraschung einen Rudolf, der zwar nicht gerade fröhlich, aber doch wenigstens ruhig war und fähig, über alle Dinge mit einer Gelassenheit zu sprechen, die sonst nicht seine Art gewesen war. Er hatte seinen dicken Mantel geöffnet und um sie geschlagen; so lehnte sie in seinem Arm und drängte sich, vor der Winterkälte flüchtend, an ihn. Da er keine andere Sehnsucht mehr kannte, als sie bei sich zu haben, war er an diesem Abend restlos glücklich. Das Raunen, das sie beide verfolgte, drang nicht bis hieher, die versteckten Drohungen seiner Frau hatte er vergessen und die Verspätung der päpstlichen Antwort …? Nun, wenn der Papst seine Hilfe versagte, würde man andere Wege gehen …

»Solange mir deine Liebe gewiß ist«, sprach er zärtlich zu Mary, »gibt es nichts, was mich wirklich berühren könnte.«

Die Freude Marys über solche Worte war grenzenlos. Hätte sie nicht gerne auch alle Qualen der Hölle erduldet, um sie aus dem Mund ihres Geliebten zu hören?

Die Nacht umgab sie. In der Ferne blinkten die Lichter der feindlichen Stadt. Frost überzog die Fenster des Wagens, in dem zwei Menschen für kurze Augenblicke alles vergaßen, außer dem höchsten Glück, beisammen zu sein.


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