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II.
Verkettungen

Ein Stein in die erregte See geworfen, verschwindet spurlos. Wirft man ihn aber in einen Teich, dessen spiegelglatte Oberfläche kein Windhauch kräuselt, dann bringt er das Wasser in Bewegung. Wellenkreise gehen von der Stelle aus, an der er versank und eilen bis an die Ufer. Es gibt bald keinen Punkt der Wasserfläche mehr, der nicht in Unruhe geraten wäre; der Schlag, der sie getroffen hat, läßt sie in ihrer ganzen Ausdehnung erzittern.

Was die Gräfin absichtsvoll ausgeplaudert hatte, traf Rudolf zunächst wie der Stein das sturmbewegte Meer. Auch er war ruhelos, ständig bis in die Tiefen aufgewühlt, unaufhörlich gezwungen, sich gegen den Druck zu wehren, der ihn von allen Seiten zu beeinflussen suchte. Der Name Mary Vetseras schwand rasch wieder aus seinem Bewußtsein.

Nur in seinen seltenen Stunden stiller Einkehr war es Rudolf reizvoll, sich an dieses schöne, reine Antlitz zu erinnern. Ein Kind noch, und sie liebte ihn! Immer wieder kreisten seine Gedanken um sie. Wie rasch verflog so eine romantische Liebe bei einem bezaubernden, verwöhnten jungen Mädchen! Die kleine Baronesse würde nicht lange zu leiden haben! Doch sie schien nicht kokett zu sein; in jenem Blick, der dem seinen begegnet war, hatte ein gewisser Ernst gelegen … Der Wunsch, sie wiederzusehen, erwachte in ihm. Aber die Ruhelosigkeit seines täglichen Lebens hielt ihn unter ihrem Zwang. Wann würde er ihr wieder begegnen? Vielleicht wird sie dann schon verheiratet sein und ihren Gatten lieben …

 

Die Gräfin Larisch berichtete indessen bei der ersten Gelegenheit, die sich ihr bot, mit Mary allein zu sein – und sie führte diese Gelegenheit rasch herbei –, dieser wörtlich, was der Kronprinz über sie gesagt hatte. Mary wurde rot, denn noch immer hatte sie es sich nicht abgewöhnen können, rot zu werden, wenn Rudolfs Name genannt wurde, aber sie erwiderte nichts. Sie griff bloß erregt nach den Händen der Gräfin und drückte sie. Das Gespräch wurde unterbrochen, da ihre Mutter eben in den Salon trat. Die Gräfin dehnte ihren Besuch nicht mehr lange aus. Beim Fortgehen flüsterte Mary ihr zu:

»Kommen Sie bald wieder, ich habe so viel mit Ihnen zu sprechen.« Während der kurzen Augenblicke, die nach der überraschenden Mitteilung der Gräfin vergangen waren, hatte Mary mit einem kühnen Sprung die Mauern übersetzt, die bis dahin ihren Horizont umschlossen hielten. Anfangs hatte es ihr wohl genügt, den Kronprinzen zu sehen und das Glück, das ihr diese Begegnungen brachten, hatte ihre Tage erfüllt. Aber nach jenem beredten Blick im Burgtheater begnügte sie sich nicht mehr mit der bloßen Bewunderung aus der Ferne, sie verlangte, neue Blicke mit dem Mann zu tauschen, den sie liebte. Aber wie unerreichbar war er ihr! Die Bekanntschaft der Gräfin Larisch hatte diesen fernen Helden mit einem Male in die Nähe gerückt. Mary hatte die Möglichkeit, von ihm zu sprechen, mit der Gräfin zu sprechen, die ihn seit seiner Kindheit kannte und so vieles von ihm wußte. Doch es war ihr kaum Zeit geblieben, dieses unerwartete Glück ganz zu erfassen, da erkannte sie schon die Schranken seiner Begrenzung und fühlte sich wie in den Mauern eines Gefängnisses. Und nun wurden die bedrückenden Wände, zwischen denen sie zu ersticken gemeint hatte, wie die Kulissen eines Theaters fortgerückt, und ihr erschloß sich eine neue beglückende Aussicht.

Es war, als hätte eine Fee ihre kühnsten Träume verwirklichen wollen. Ihr Wunsch war es gewesen, mit Rudolf eine Botschaft zu wechseln, und kaum war dieser Wunsch in ihr entstanden, wurden ihr schon jene Worte zugetragen, die er für sie bestimmt hatte. Er fand sie bezaubernd – war das nicht mehr, als hübsch oder schön? Bezaubernd –, so gefiel sie ihm also, und er begnügte sich nicht damit, sie zu bewundern, er wollte, daß sie es wissen sollte! Mary war von ihrem Glück überwältigt; sie wagte es nicht mehr, die Zukunft zu erforschen, sie wagte keinen neuen Wunsch mehr zu denken.

Plötzlich kam ihr aber ein anderer, ein erschreckender Gedanke. Sie wußte jetzt, was Rudolf gesagt hatte, was aber hatte die Gräfin ihm gesagt, als sie ihm von ihr erzählte? Hatte sie ihm verraten, daß er geliebt wurde? Sicherlich hatte sie ihm dieses eifersüchtig gehütete Geheimnis, dessen einzige Mitwisserin sie war, ausgeliefert. Scham und Furcht überwältigten Mary. Sie wurde glühend rot, und Tränen stiegen in ihre Augen. Besorgt fragte die alte Amme, die mit ihr im Zimmer war, was sie bekümmere.

»Ich weiß es nicht«, brachte Mary schluchzend hervor, während die Tränen über ihre Wangen strömten, und sie warf sich der Alten in die Arme, »ich weiß es nicht … ich bin so glücklich!«

Einige Tage vergingen. Dann wurde Mary wieder ungeduldig. Die Liebe ist eine anspruchsvolle Göttin, mit der sich nicht handeln läßt. Sie ist auch listig; anfangs verlangt sie nur wenig, man gewährt es ihr. Gleich wachsen ihre Ansprüche. Schließlich erkennt man, daß sie sich nicht eher zufrieden gibt, ehe sie nicht alles erhalten hat. Was Mary vordem mit Freude erfüllt hatte, schien ihr jetzt wertlos.

Endlich sah sie ihn im Prater wieder. Mit welcher Ungeduld hatte sie diese Begegnung erwartet! Welches Übermaß von Glück hatte sie sich von ihr versprochen! Aber leider wurde es nur eine halbe Freude, denn im Augenblick, als er an ihrem Wagen vorbeiritt, sprach ihre Mutter zu ihr, und sie konnte kaum nach ihm hinblicken. Sie fühlte sich so unglücklich, daß sie Mühe hatte, ihre Tränen zurückzuhalten. Das Schicksal verfuhr zu hart mit ihr! Sobald sie sich gesammelt hatte, trat an die Stelle ihres Schmerzes noch größere Unruhe. Er mußte sie kalt, gleichgültig gefunden haben! Oder hielt er es gar für Koketterie, daß sie sich jetzt von ihm abkehrte, da sie wußte, daß sie ihm gefiel? Beide Möglichkeiten waren ihr unerträglich. Sie brannte darauf, sich zu rechtfertigen. Wenn sie nur mit der Gräfin hätte sprechen können! Sie hätte ihr den unglücklichen Zufall erklärt, und die Gräfin hätte Rudolf sagen können, daß sie, Mary … ja, was hätte sie ihm sagen sollen?

Drei Tage später war sie in der Oper, und auch der Kronprinz erschien. Hier konnte sie ihn nach Herzenslust betrachten. Er beglückte sie sogar mit einem unmerklichen Lächeln. Aber auch diesmal wurde ihre Freude getrübt, denn sie fand Rudolf elend aussehend. Er war abgemagert und bleich, seine Augen waren umschattet, wie die eines Fiebernden. Mary war besorgt. Er mußte krank sein! Oder waren es die ersten Anzeichen einer Krankheit? Seine Umgebung bemerkte natürlich nichts davon. Wer verstand es auch, außer ihr, in seinen Zügen zu lesen? Erst wenn es zu spät ist, wird es ihnen auffallen! Ach, ihm so nahe zu sein und nicht helfen zu dürfen! Sie wußte, daß er am nächsten Tag eine lange, ermüdende Reise nach Galizien antreten sollte. Unterwegs, fern von ihr, würde er vielleicht Schmerzen ertragen.

Mary war verzweifelt. In jener Nacht schloß sie kein Auge. An den folgenden Tagen ließ sie sich zur Verwunderung des Portiers schon zeitig morgens die Zeitungen kommen. Erregt suchte sie nach Berichten vom Kronprinzen. Kein Wort fand sie über seine kostbare Gesundheit.

Das war Marys Leben: ein fieberhaftes Warten … Worauf?


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