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V.
Ein Brief

Einige Tage später kam Rudolf zu später. Nachtstunde nach Hause. Doch statt sein Bett aufzusuchen, zündete er eine Zigarette an, streckte sich in einen Fauteuil und begann mit seinen bitteren Gedanken abzurechnen. Die melancholische Russin hatte für ihn jeden Reiz verloren. Was gab es überhaupt noch Reizvolles für ihn? Was gab es außer diesem grenzenlosen Ekel vor der Welt und dem Leben? Unter dem Lampenlicht glänzte der kahle Schädel und zog seine Augen auf sich. Sein Geist begann um den Gedanken des Todes zu kreisen, einige Augenblicke mit ihm zu spielen, ihn zu verlassen, um wieder zu ihm zurückzukehren. Schon seit langem hatte dieser Gedanke nichts Schreckliches für ihn. »Ein sicherer Friede … als allerletzte Lösung … wenn alles andere versagt …«

Er mußte an Johann Salvator denken und an die reizende Milli Stubel. Die beiden waren glückliche Menschen! Da kam ihm auf einmal ein neuer Gedanke, ein wundervoller, verlockender Gedanke. Er sprang auf, ging an seinen Schreibtisch, warf ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier und verschloß es in einem Umschlag, auf den er rasch die Adresse schrieb. Dann rief er Loschek.

»Diesen Brief läßt du morgen früh, vor neun Uhr, durch einen gewöhnlichen Dienstmann besorgen.«

Loschek nahm den Brief, verneigte sich und ging. Der Kronprinz legte sich zu Bett.

»Wird auch niemand anderer diesen Brief bekommen? Ich habe eine Dummheit gemacht! Ich hätte warten sollen …« so überlegte er, doch dabei fühlte er dunkel, daß er nicht hatte warten können, weil die unbedachte Gefühlswallung, die ihm diesen Brief diktiert hatte, gerade zu jenen Stimmungen gehörte, denen man nicht widerstehen kann.

 

Mary Vetsera verlebte nach jenem Spaziergang im Prater düstere Stunden. Den Kronprinzen hatte sie wohl gesehen, – aber unter welchen Umständen! Wieder einmal fühlte dieses reizende Mädchen, dem ganz Wien zu Füßen lag, ihre Nichtigkeit. Mit der Bescheidenheit, die in ihrer Natur lag und die sie so verführerisch machte, war sie sofort bereit, sich selbst zu erniedrigen und die Vorzüge ihrer glücklicheren Rivalin zu übertreiben. Sie mußte wohl eine fehlerlose Schönheit sein, denn hätte »ihr« Kronprinz sie sonst ausgezeichnet?

Natürlich war diese Begegnung mit Marinka nicht geheim geblieben. Vergeblich hatte Mary ihre Schwester angefleht, nichts darüber zu erzählen. Hanna ließ sich nicht des Vergnügens berauben, den Freunden des Hauses Vetsera eine so pikante Geschichte aufzutischen. Unzählige Ausschmückungen wurden von den Anwesenden hinzugefügt. Mary erfuhr auf diese Weise, daß Rudolf in die schöne Zigeunerin maßlos verliebt sei und daß er sie täglich sehe. Was erzählte man nicht noch alles! Daß er es so arg treibe, daß die Kronprinzessin schon den Gedanken erwogen habe, alle Beziehungen zu diesem flatterhaften Gatten abzubrechen und nach Belgien zurückzukehren … Diese Nachricht an sich hätte Mary nicht sonderlich gestört, aber schmerzlich empfand sie den Anlaß für diesen angeblichen Bruch.

Diese Atmosphäre des Klatsches, in der Mary leben mußte, war Gift für sie. Die Gräfin Larisch war immer noch nicht nach Wien zurückgekehrt. Wo sollte Mary eine Stütze finden, wo gab es einen Trost für sie? Sie flüchtete in die Arme ihrer ratlosen, erschreckten Bonne, um sich auszuweinen.

Eines Morgens – es war der 29. Oktober, ein Montag – als Mary noch im Bette lag, denn sie war seit einigen Tagen so erschöpft, daß sie später als sonst aufstand, übergab ihr die Bonne mit dem Frühstück einen Brief und berichtete ihr:

»Ich war eben allein unten, als ein Dienstmann ihn brachte. Ich habe ihn übernommen und für dich die Bestätigung unterschrieben.«

Mary sah erstaunt auf diesen Brief. Sonst pflegte sie ihre Post, wie ihre Schwester und alle andern, nur aus den Händen ihrer Mutter zu erhalten. Der Umschlag trug ihre genaue Adresse; wer konnte ihr wohl durch einen Boten einen Brief zustellen lassen? Es war das erste Mal, daß sie einen solchen Brief erhielt. Sie riß den Umschlag auf und entfaltete das Schreiben. Oben in der Ecke sah sie die Prägung: »Wien, Hofburg« und darunter das kaiserliche Wappen. Mary meinte zu träumen. Sie las:

 

»Verehrte Baronesse! Würden Sie mir morgen, Dienstag, das Vergnügen machen, ein wenig mit mir im Prater spazieren zu gehen? Wir könnten uns gegen vier Uhr an derselben Stelle treffen, an der ich unlängst die Freude hatte, Sie zu sehen, und von dort abseits gelegenere Pfade einschlagen. Meine Bitte mag Ihnen vielleicht sonderbar erscheinen, aber sehen Sie nichts anderes in ihr als den lebhaften Wunsch eines Mannes, der Sie schon lange aus der Ferne bewundert, endlich auch Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen.

Ihr Rudolf.«

 

Mary rieb sich die Augen und begann, diesen Brief zum zweiten Male zu lesen, ehe sie es wagte, seinen doch recht klaren Sinn zu begreifen. Dann verbarg sie ihn mit einer schnellen Bewegung unter ihrem Kopfkissen. Ihre Mutter oder ihre Schwester konnten eintreten; was hätten sie wohl gesagt? Während ihr Kopf auf dem Kissen, so nahe der Handschrift des Heißgeliebten ruhte, versuchte sie mit weitgeöffneten Augen nachzudenken. Doch ihre Erregung war so groß, daß sie keinen Gedanken fassen konnte. Immer wieder flüsterte sie vor sich hin: »Er hat mir geschrieben! Der Kronprinz hat an Mary Vetsera geschrieben. Rudolf hat an Mary geschrieben … Er hat mich also doch nicht vergessen. Er denkt an mich, er wünscht mich zu sehen … Er wünscht mich zu sehen! Er will mit mir spazieren gehen, sicher, um mir Zärtlichkeiten zu sagen. Dieses Glück wird mich töten! – Im Prater, wir beide ganz allein im Prater! Nach vier Uhr beginnt es schon dunkel zu werden … Kann er mich denn wirklich lieben? Nein, ich bin ihm bloß ein Zeitvertreib; kann es denn anders sein … Was liegt daran, ich liebe ihn, ich werde ihn sehen, ich werde mit ihm sprechen, seine Hand berühren …« Dann wurde sie langsam ruhiger. »Daß dieser Brief wirklich bis zu mir kam, ist ein Wunder. Sonst gehen doch alle Briefe durch Mamas Hände. Und gerade dieser eine …! Gott beschützt uns!«

Während sie noch vor sich hinträumte, kam die Bonne zurück, um die Frühstücksplatte wieder hinauszutragen, doch sie fand sie unberührt.

»Aber Kind, was ist denn mit dir?« fragte sie ganz erstaunt.

Mary sah sie an.

»Jetzt ist keine Zeit für's Frühstück. Trag' es fort. Ich muß gleich aufstehen, ich kann nicht länger im Bett bleiben.«

Seit Monaten hatte die alte Dienerin Mary nicht so vergnügt gesehen, und ihr Herz frohlockte.

»Du mußt aber eine sehr gute Nachricht bekommen haben …«, meinte sie, während sie sich bückte, um das Frühstück abzuräumen.

Mary benutzte den Augenblick, als der Kopf ihrer alten Freundin ganz nahe war, um ihr ins Ohr zu flüstern:

» Er hat mir geschrieben!«

Der guten Alten wäre fast alles aus der Hand gefallen. Sie schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte:

»Jetzt schreibt ihr euch gar noch!«

Mary hüpfte schon fröhlich durch das Zimmer.

Erst ein wenig später begann sie ernsthaft zu überlegen, und da fiel ihr ein kleiner, ganz kleiner Umstand ein, den sie bisher übersehen hatte. »Aber es geht ja gar nicht«, sprach sie betroffen vor sich hin. »Ich bin ja noch nie allein ausgegangen.« Ihr Gesicht drückte Verzweiflung aus. Es gab nichts daran zu deuteln, sie hatte keine Möglichkeit, auch nur für eine Stunde allein das Haus zu verlassen. So würde sie ihn also nicht sehen, nicht mit ihm sprechen, nicht an seiner Seite gehen, seinen Arm in dem ihren fühlen … Nur einen Menschen gab es auf der Welt, der seine Hilfe nicht versagt hätte, das war ihre geliebte Gräfin Larisch. Ja, mit der wäre alles leicht zu bewerkstelligen gewesen, ihr hätte die Mutter sie ohne Bedenken anvertraut. Sie wären zusammen fortgegangen, und dann, dann … Aber das waren zwecklose Träume, die Gräfin war ja nicht in Wien. So war das Leben für Mary; in wenigen Augenblicken verwandelte es jubelnde Freude in trostlosen Kummer.

Aber sie mußte doch etwas tun! Endlich fingen klare und praktische Erwägungen an, in ihr die Oberhand zu gewinnen. Sie mußte dem Kronprinzen schreiben, damit er sie am nächsten Tag nicht vergeblich erwartete. Und auch der Gräfin mußte sie unverzüglich schreiben und sie beschwören, sofort nach Wien zurückzukehren. Welche Möglichkeiten des Glücks, wenn sie erst da wäre! Die Gewißheit, Rudolf in Kürze doch zu sehen, half ihr über die Enttäuschung hinweg, ihn am nächsten Tag nicht treffen zu können.

Sie nahm einen Bogen Papier und schrieb ohne viel zu überlegen an den Kronprinzen:

»Eure Kaiserliche Hoheit! Wie glücklich wäre ich gewesen, Sie morgen im Prater zu treffen! Leider, leider muß ich auf diese große Freude verzichten, denn ich kann ohne Begleitung nicht ausgehen. Aber es schmerzt mich sehr … Ja, wenn die Gräfin Larisch hier wäre! Sie hätte mir die Bitte nicht abgeschlagen, mich zu begleiten. Ich schreibe ihr auf der Stelle, um sie zu ersuchen, nach Wien zurückzukommen.

Glauben Sie mir, Kaiserliche Hoheit, ich bin sehr verzweifelt.«

Sie wußte nicht, wie sie den Brief beenden sollte und setzte einfach »Mary« als Unterschrift. Als sie ihn nochmals überlas, fand sie ihn kalt und unbeholfen. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto schwieriger schien es ihr, einen solchen Brief zu schreiben, wie er ihr wirklich gefallen hätte. So faltete sie also diesen zusammen, legte ihn in einen Umschlag und malte mit einer unbeschreiblichen Freude den Namen des Kronprinzen und als Adresse »Hofburg« darauf. Wie der Kronprinz ihr selbst in einem Nachsatz seines Briefes empfohlen hatte, schrieb sie in eine Ecke des Umschlages »Privat! Zu eigenen Händen!«, damit der Kronprinz selbst und keiner seiner Adjutanten den Brief öffne.

Das Schreiben an die Gräfin wurde nicht so kurz. Es war ein vier Seiten langer, ununterbrochen in allen Tonarten variierter Schrei der Freude, in den sich immer wieder die inständige Bitte mengte, die Gräfin möge ohne einen Tag zu verlieren nach Wien zurückkehren.

Nachdem sie den Brief endlich beendet hatte, überlegte sie, daß er die Gräfin auf ihrem Pardubitzer Schloß erst am nächsten Tage erreichen könne, und entschloß sich, ihr sofort auch noch eine Depesche zu senden. Die alte Amme erhielt den Auftrag, gleich auf die Post zu eilen.


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