Claude Anet
Ariane
Claude Anet

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XIV

Als er ins Hotel zurückkam, war es spät geworden. Sein Herz war beklommen, wie vor einem Unglück. »Sie muß schon zurück sein,« sagte er sich, »was wird sie nur gedacht haben, als sie mich nicht zu Hause fand?« Er öffnete die Tür zum Salon. Er war finster. Nur ein Lichtstrahl fiel durch die angelehnte Tür aus dem Nebenzimmer. Er ging in das beleuchtete Schlafzimmer. Ariane war nicht da, nur ihr Hut und Pelz lagen, unordentlich hingeworfen, auf dem Bett. »Was ist geschehen?« fragte er sich. Eine tödliche Angst ergriff ihn. Er fürchtete das Schlimmste. Er lief ins Badezimmer. Es war leer. Er rief ihren Namen, keine Antwort. Er ging in den Salon zurück und drehte das Licht auf. – Auf dem Diwan erblickte er Ariane, das Gesicht hatte sie in die Polster vergraben, die Haare gelöst. Sie war in ein schottisches Tuch gehüllt und lag zusammengekrümmt, wie ein kleines Kind, das von allen verlassen ist, ein Bild der Verzweiflung...

Er kniete bei ihr nieder, wollte sie küssen; sie wandte sich ab. Er versuchte ihr Gesicht zu heben, sie widerstand. »Laß mich, laß mich. Ich will fort!« schluchzte sie.

Da hob er sie auf und versuchte ihr in die Augen zu sehen, aber sie verbarg ihren Kopf an seinem Hals und als er sie ins Schlafzimmer trug, fühlte er warme Tropfen an seiner Wange. Sie weinte! – Er legte sie aufs Bett und bedeckte sie mit Küssen. Plötzlich sprang sie auf, begann ein klingendes Lachen und rief:

»Gut gespielt. Nicht?«

Er blieb erstarrt, während sie ihm mit spöttischer Stimme erklärte, daß sie jederzeit echte Tränen vergießen könne und daß sie, wenn ihre bornierte Familie sie nicht gehindert hätte zur Bühne zu gehen, eine unerhörte Karriere als Schauspielerin gemacht hätte.

»Warum war ich so feig, ihn nicht anzuhören?« seufzte sie. »Er wollte mich zu sich nehmen, als seine Schülerin ausbilden. Ich wäre im Schauspielhaus aufgetreten. Heute könnte ich berühmt sein...«

Eine Stunde später schlief sie, noch gekränkt, am äußersten Rande des Bettes ein. Aber am Morgen erwachte sie in den Armen ihres Geliebten. –

Seit kurzer Zeit bemerkte Konstantin, daß das junge Mädchen traurig war; sie sprach ganze Abende nicht, las nicht und lag, in den Schal gewickelt, zusammengekauert auf dem Diwan. Wenn er sie fragte, sagte sie: »Es ist nichts. Kümmere dich nicht darum.«

Wenn er weiter in sie drang, lehnte sie jede Erklärung ab, doch ließ sie durchblicken, daß sie von zu Hause unangenehme Nachrichten habe, daß es sich um materielle Fragen handle, die schwierig zu ordnen seien, die ihn aber nicht beträfen. Konstantin versuchte durch Aneinanderreihen ihrer flüchtigen Antworten das Geheimnis, das sie verbarg, zu erraten. Er erinnerte sich an ein Gespräch in der Krim und glaubte mehr denn je an eine rätselhafte dunkle Verkettung, in die Ariane geraten sei und bei der Geldfragen mitspielten.

Eines Abends erfuhr er unerwartet die Wahrheit.

Ariane hatte tagsüber abgelehnt auszugehen. Sie war schweigsam und feindselig gewesen und hatte Konstantin durch ein paar besonders unangenehme Worte verletzt, so daß er sie allein im Hotel ließ und mit einem Freunde auswärts speiste. Er kam bald nach Hause; sie lag auf dem Diwan, las Verse von Puschkin und sprach kein Wort.

Sie waren zur Ruhe gegangen und suchten, in dem engen Bett nebeneinander liegend, den Schlaf. Plötzlich glaubte Konstantin ein verstohlenes Seufzen zu hören. Er rührte sich nicht. Ariane war von kleinen nervösen Zuckungen befallen, die sie vergeblich zu unterdrücken suchte. Wieder schnürte ihm ein unerträgliches Angstgefühl die Brust ein. Nächtliche Szenen fürchtete er mehr als alles. Sobald er die kecken Augen und spöttischen Lippen Arianes nicht mehr sah und nur die Frische ihres jugendlichen Körpers so nahe fühlte, war er ohne Kraft und fühlte sich jeder Feigheit fähig. Aber an diesem Abend war es ihm unmöglich einzuschlafen. Die gefürchtete Aussprache blieb unvermeidlich. Er nahm das Mädchen in seine Arme:

»Was ist dir?«

»Ich habe Kummer«, flüsterte sie, sich an ihn schmiegend. Er bestürmte sie mit Fragen. Sie wollte nicht antworten.

»Nein, nein, ich kann dir nichts sagen. Wenn du die Wahrheit wüßtest, könntest du mich nicht mehr lieben. Fortjagen würdest du mich! Es ist eine schreckliche Sache.«

Diese Worte brachten Konstantin außer sich. »Ach,« sagte er sich, »sie hat mich betrogen; ohne Zweifel. In einem Anfall von Wut hat sie sich nach einer unserer zahllosen Streitigkeiten irgend jemand an den Hals geworfen. Das bedrückt sie. Wenn ich nur die Kraft habe sie anzuhören. Gott soll mir Mut geben, daß ich mich von ihr trennen und allen diesen Qualen ein Ende bereiten kann! Wenn sie nur endlich sprechen wollte, damit ich sie aus meinem Herzen reiße!«

Von widerstreitenden Gefühlen zerrissen, zitterte er doch auch wieder bei dem Gedanken, Ariane zu verlieren, und wollte die Entscheidung verzögern. Und gleichzeitig wieder brannte er darauf, die Wahrheit zu erfahren. Er bemühte sich, seine Geliebte zu beruhigen, sie zu überzeugen, daß er sie nur allzu gerne milde beurteilen werde und daß nur eine Lüge den Bruch unvermeidlich mache. Endlich brachte er sie so weit, zu beichten. Aber von Schluchzen unterbrochen, konnte sie nicht zusammenhängend sprechen. Er mußte Fragen stellen und mehr selbst erraten, als sie ihm zu sagen vermochte.

Es handelte sich also doch in erster Linie um Geld.

»Wovon glaubst du, daß ich hier lebe?« fragte sie.

»Ich weiß nicht, du wolltest ja nie, daß ich davon spreche. Wahrscheinlich von dem, was deine Tante dir schickt, denn sie ist ja reich.«

»Ich habe niemals eine Kopeke von meiner Tante gehabt.«

Es folgte ein langes Schweigen. »Noch ein kleiner Vorstoß,« sagte sich Konstantin, von Schmerz zerrissen, »und ich werde alles wissen.«

Endlich erzählte sie in kleinen, ihr mühsam abgerungenen Sätzen von den Streitigkeiten mit Vater und Tante im vergangenen Sommer und von ihrer Zuflucht, dem Ingenieur.

»Ich dachte, – verstehst du das? – ich könnte, ohne etwas von mir selbst herzugeben, meine Unabhängigkeit erwerben und nur meinen Körper herleihen. Der Zweck, den ich erreichen wollte, rechtfertigte alles in meinen Augen. Ich habe mich nicht verkauft; wenn ich das gewollt hätte, würde ich ein Vermögen bekommen haben. Nein, ich selbst habe die Summe bestimmt, die ich brauchte, um hier zu leben, zweihundert Rubel monatlich. Wenn ich nur eine Kopeke mehr angenommen hätte, würde ich mich verachtet haben. So aber glaubte ich frei zu bleiben...«

Nach und nach erfuhr er alle Einzelheiten, genau und klar. Die Anzahl ihrer Besuche, die streng bemessene Zeit, die sie in jenem kleinen Vorstadthaus verbrachte, ihre Verpflichtung, die ganzen Ferien zu Hause zu verleben. Bis zu dem Tage, an dem sie Konstantin begegnete, hatte sie ihre schreckliche Situation eigentlich nicht begriffen. Dann aber wollte sie nur ihm gehören. Aber der andere dort unten wartete auf sie. Sie mußte ihre Verpflichtungen einhalten und Zinsen zahlen ...

Nach zweistündigem Fragen und Antworten flehte sie Konstantin unter Tränen an, er möge sie nicht mehr nach Hause reisen lassen, oder, wie sie es verdiente, gleich wegjagen.

Konstantin war von Abscheu erfüllt. Er erstickte vor Ekel. Er fand nur einen Ausdruck und der erstarb auf seinen Lippen: »Welcher Schmutz! Welcher Schmutz!« Sie hatte zwischen sich und ihm eine unüberwindliche Mauer aufgerichtet. Wie konnte er sie jemals in seine Arme nehmen ohne zu vergessen, daß sie sich den Zärtlichkeiten eines Kranken überlassen hatte. Also war es zu Ende. Und doch war sein Herz voll Mitleid. Der Fehler Arianes war ein Irrtum in der Berechnung gewesen. Ihr Herz war unbeteiligt. Sie war ihm in dieser Stunde näher als je zuvor – in dieser Stunde des Abschieds.

Seinem Gefühl entsprechend, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte, drückte er sie an sich und versuchte, sie streichelnd, ihren Schmerz zu beruhigen. Er wollte zu ihr sprechen, aber er fand nur die Worte:

»Arme Kleine, arme Liebste!«

Und sie weinten zum ersten Male Arm in Arm, bis sie endlich, von Müdigkeit erschöpft, im grauenden Morgen einschliefen.


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