Claude Anet
Ariane
Claude Anet

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IV

Vor dem Hause wartete eine elegante Viktoria mit Gummirädern. Bespannt war sie mit einem Paar jener schönen schwarzen Pferde, wie sie in der Provinz gezüchtet werden. Auf dem Fußsteige ging, Zigaretten rauchend, die er nach ein paar eiligen Zügen gleich wegwarf, ein großer breitschultriger Bursche auf und ab. Öfters blieb er stehen, blickte zum Erker des ersten Stockes hinauf, besah seine Uhr und marschierte dann wieder weiter. Nikolaus Iwanow, den man in der Stadt nur als Pferdeliebhaber und als einseitig Verlobten der launenhaften und schon berühmten Ariane Nikolajewna kannte, war ein verwilderter Sonderling, den man selten sah, da er meist auf seinem etwa dreißig Werst entfernten Gut lebte. In der Stadt hatte er nur ein Absteigquartier von zwei Zimmern in einer bescheidenen Wohnung gemietet. Er hatte keine Freunde, er trank nicht, er spielte nicht und keine Liebschaft war von ihm bekannt. Den Vater hatte er früh verloren; seine Mutter lebte in der Krim und man erzählte sich, daß sie geisteskrank sei und im Sanatorium eines bekannten Arztes bewacht werde. Gezwungen allein zu leben, war Nikolaus ein Schweiger geworden, dem das Sprechen geradezu schwer fiel. Er suchte krampfhaft die Worte, wiederholte sich, widersprach sich, verstummte mitten im Satz, um schließlich in das Schweigen zurückzufallen, das allein ihm angenehm war. Er war eine sympathische Erscheinung, hatte große blaue Augen und dunkelbraunes Haar, aber sein Gesicht war bleich, der Mund zusammengepreßt und der Blick unruhig. Die Mütter heiratsfähiger Töchter und diese selbst hatten sich viele Mühe gegeben, diese gute Partie einzufangen, denn man behauptete, daß sein Vermögen nahezu eine Million Rubel betrage.

Eines Abends ließ er sich überreden, den jährlichen Ball des Gymnasiums Znamensky zu besuchen. Ariane, die zum Komitee gehörte, hatte ihm beim Eintritt ein Knopflochbukett überreicht. Er hatte diese Blumen genommen, das junge Mädchen in peinlicher Weise angestarrt, einige Worte des Dankes gestammelt und war ihr den ganzen Abend Schritt für Schritt nachgegangen. Wenn sie tanzte, folgte er ihr mit bewundernden Blicken und einem gerührten Lächeln, oder er verschwand aus dem Ballsaal, drängte sich zum Büfett und stürzte einige Gläser Wein hinunter, als wollte er sich Mut antrinken. Noch vor Ende des Festes machte er Ariane, in einem Anfall verzweifelten Heldenmutes, einen Heiratsantrag. Ariane, mit ihren sechzehn Jahren, musterte ihn mit der größten Unverschämtheit von den Schuhen bis zur Krawatte und lachte ihm dann ins Gesicht. Am nächsten Tage aber erschien er mit einem Bukett bei Varwara Petrowna, die ihm vergeblich auseinanderzusetzen versuchte, daß ihre Nichte noch nicht im heiratsfähigen Alter sei. Am zweitnächsten Tage hatte er einen Verlobungsring angesteckt, in dem der Name Ariane und das Datum des Balles eingraviert waren. Er erzählte in der ganzen Stadt, daß Ariane Nikolajewna Kustnetzowa gleich nach Beendigung ihrer Studien Frau Nikolaus Iwanowna sein werde. Von da ab schickte er Ariane jeden Tag Blumen, die schließlich die schöne duftende tägliche Spende ebenso annahm, wie – allerdings seltener – die Wagenfahrten, zu denen er sie einlud.

Man kann sich keinen Begriff von der tyrannischen Launenhaftigkeit machen, mit der dieses halbwüchsige sechzehnjährige Mädchen den fast doppelt so alten Bären beherrschte. Merkwürdigerweise war ihr nicht erst allmählich die schrankenlose Macht, die sie über ihn besaß, bewußt geworden; vom ersten Tage an wußte sie genau, wen sie vor sich hatte und daß Nikolaus wie weiches Wachs in ihren kindlichen Fingern sein werde. Sie bestimmte seine Besuche und ihre Dauer; Nikolaus kam nur zu den von ihr festgesetzten Stunden. Wehe, wenn er gewagt hätte sich ohne Erlaubnis in der Dworanskaja zu zeigen! Einmal nur geschah es, daß er aus irgend welcher dringenden Ursache zu einer nicht vereinbarten Zeit ins Speisezimmer trat. Ohne ein Wort zu sprechen, ging Ariane in ihr Zimmer und weigerte sich, ihn zu empfangen. Zeitweilig befahl sie ihm, ein oder zwei Wochen auf seinem Gut zu bleiben, und verbot ihm zu schreiben. Manchmal durfte er sie ins Theater begleiten, wo sie abonniert war und nur selten eine ihrer Vorstellungen versäumte, denn sie war eine Theaternärrin. Sie verkehrte auch viel mit den Darstellern und sprach selbst davon, Schauspielerin zu werden, da nur vor den Rampenlichtern das wahre Leben sei. Es kam sogar vor, daß sie in der Pause auf die Bühne ging, mit den Künstlern in der Garderobe plauderte und Nikolaus ganz vergaß, der fluchend mit zusammengebissenen Zähnen allein nach Hause ging.

Einmal wagte sie folgendes Experiment. Im Winter um zehn Uhr nachts, als Nikolaus bei ihr den Tee nahm, sagte sie ihm:

»Nikolaus, ich gehe noch aus, ich hab' eine Verabredung.«

»Ich werde Sie begleiten, wohin gehen Sie?«

»Ein Freund erwartet mich am Domplatz, aber Sie dürfen nicht wissen, wer es ist.«

Der »Verlobte« schaute sie entgeistert an, erst nach einer Weile gewann er seine Fassung. »Gut«, brachte er heraus.

Sie gingen zusammen, bis Ariane im Licht einer Straßenlaterne den jungen Mann erblickte, den sie suchte, sich von Nikolaus verabschiedete und ihm noch einschärfte, sofort direkt nach Hause zu gehen.

Um diese Szene entsprechend würdigen zu können, muß man wissen, daß Nikolaus von wütender Eifersucht geplagt war und dafür, daß Ariane in der Stadt Liebeleien hätte, tausend überzeugende Beweise sammelte, worunter der sicherste wohl der war, daß sie gar kein Geheimnis daraus machte und ihm gegenüber unaufhörlich darauf anspielte. So sagte sie ihm einmal:

»Ach, Nikolaus, wissen Sie schon, wer aus Moskau angekommen ist? Der ältere Sohn von Maklakow; ich fürchte, ich bin in ihn verliebt, er ist unwiderstehlich.«

Und hundert solcher Dinge, wie der Zufall sie ihr in den Mund legte. Am Tage, nach dem sie sich von Nikolaus zu jenem Rendezvous hatte begleiten lassen, erzählte sie, sich vor Lachen krümmend, ihrer Vertrauten das Abenteuer. Olga, die von ihrer Freundin schon an so manches gewöhnt war, konnte sich diesmal doch nicht enthalten, mißbilligend zu sagen:

»Ariane, du bist wirklich boshaft.«

Ariane hörte auf zu lachen und erwiderte ganz ernsthaft:

»Ja, sicherlich war das boshaft. Aber warum, zum Teufel, soll ich nicht boshaft sein, wenn es mir Spaß macht?«

Darauf wußte die dicke Blonde keine Antwort.

Ariane aber fuhr fort: »Soll ich dir etwas verraten, worauf du niemals allein kommen würdest? Gerade deshalb, weil ich boshaft und schlimm bin, liebt mich Nikolaus. Und dich, die du gut wie ein Lamm bist, würde er niemals gern haben.«

Bei diesem Gedanken begann sie im Zimmer herumzutanzen, denn sie war trotz alledem noch ein übermütiges Kind, das in Anfällen toller Ausgelassenheit den Leuten auf der Straße die Zunge herausstreckte, ihren Mitschülerinnen arge Streiche spielte und es besser als jede andere verstand, ihre Professoren zur Verzweiflung zu bringen, ohne sich jemals erwischen zu lassen.

Das Erstaunlichste ist, daß Ariane recht hatte. Nikolaus Iwanow, das einzige, verzärtelte Kind reicher Eltern, dem niemals Schwierigkeiten begegnet waren, dem niemand jemals »nein« sagte, der nur leichte Siege bei gefälligen Frauen kannte, betrachtete anfangs mit unerhörtem Staunen, wie ein unbegreifliches Wunder, dieses zarte junge Mädchen, das nicht anders als im Befehlston mit ihm sprach. Er gehorchte ihr vom ersten Tage, aus dem einfachen Grunde, weil er keinerlei Kräfte in sich fühlte, die stark genug gewesen wären der geheimnisvollen Macht zu widerstehen, die von Ariane ausstrahlte. Während seiner vielen einsamen Stunden hatte er diesem seltsamen Problem immer wieder nachgegrübelt. Wie kam es nur, daß er diese Sklaverei, zu der ihn Ariane verurteilte, ertrug? Und vor allem, warum benahm sie sich in dieser Weise gegen ihn? Die gesuchte Lösung offenbarte sich ihm mit einem Male: »Sie unterwirft mich nur diesen Prüfungen, um sich von meiner Liebe zu überzeugen, Und wenn sie diese Versuche immer wieder erneuert, geschieht es nur, weil ich ihr nicht gleichgültig bin. Wenn sie mich nicht liebte, ließe sie mich meines Weges ziehen. Solange sie mich quält, liebt sie mich. – Sie ist ein wundervolles Mädchen!«

Und so kam es, daß er um so dankbarer wurde, je mehr Leid sie ihm bereitete, und sie dann nur noch heißer liebte als zuvor. Es kam so weit, daß er gar nicht mehr daran zu denken wagte, den Launen des jungen Mädchens den Gehorsam zu verweigern. Und je härter die Prüfungen waren, um so freudiger war er bereit, sich zu unterwerfen, um solcherart die Liebe dieses einzigartigen Mädchens zu erringen. – Am Tage, nachdem er sie zu dem Stelldichein mit dem Nebenbuhler begleitet hatte, kniete er vor ihr nieder und sprach:

»Ariane, ich danke Ihnen. Sie gaben mir gestern den größten Beweis Ihrer Liebe, den ein Mann verlangen kann. Gott segne Sie!«

Das junge Mädchen hatte statt jeder Antwort nur ein Achselzucken und tanzte durchs Zimmer.

Sie spielte aber noch in anderer, böserer Art mit ihm.

An manchen Abenden erlaubte sie ihm, den Tee in ihrem Zimmer zu nehmen. Sie plauderten lange und Nikolaus fand an diesen Abenden wieder die Fähigkeit zu sprechen, ja, er wurde sogar beredt. Sie ließ ihn neben sich auf dem Diwan sitzen und warf ihm lebhafte und zärtliche Blicke zu. Der starke Junge legte seinen Arm bald um ihre schlanke Gestalt, näherte sich ihr immer mehr und drückte schließlich seine Lippen auf ihren nackten, vollen, weichen Arm, ihn mit wilden Küssen bedeckend.

Halbausgestreckt auf dem Diwan liegend tat sie, als ob sie nichts davon bemerkte; es schien, als wäre sie bei dieser leidenschaftlichen Szene gar nicht anwesend.

»Du liebst mich?« wagte Nikolaus zu seufzen.

»Nitschewo!« war die mit einer unbeschreiblichen Betonung gegebene Antwort. Schließlich schritt Nikolaus, der sich kaum noch beherrschen konnte, zu einem entscheidenden Angriff; Ariane entglitt seinen Händen.

»Es scheint hier zu heiß für Sie zu werden. Sie werden unwohl, gehen Sie frische Luft schöpfen!«

Und ihm keine Wahl lassend ging sie ins Speisezimmer hinüber, wo Olga mit einigen Freunden beim Tee saß.

Ohne sich zu verabschieden stürmte Nikolaus gleich einem Orkan davon, sprang in seinen Schlitten und gab Befehl, mit größter Schnelligkeit zehn Werst auf der Chaussee entlang zu fahren. Dann öffnete er seinen Pelz der eisigen Nachtluft und der Kutscher hörte von seinem Sitz den »Barin« unzusammenhängende Sätze in die Nacht brüllen.

»Der Teufel soll sie holen!« verstand er bestürzt. »Ich werde sie umbringen! – Schneller, schneller! – Bestie! – Ich bete dich an...«


An jenem Maiabend war, zum erstenmal im Jahr, die Luft so lind, wie in einer Sommernacht. Der Wagen glitt in rascher Fahrt dahin. Das junge Mädchen kauerte, in einen schwarzen Seidenmantel gehüllt, der ihr weißes Kleid verdeckte, wie betäubt in seiner Ecke und fühlte nicht den Arm von Nikolaus, der sie umschlungen hielt. Die dünne Sichel des Mondes glänzte im Westen. Wenn die Straße an Akazien vorüberführte, umhüllte der starke Duft der blühenden Kerzen Ariane plötzlich wie eine Woge. Dann wieder zog der zartere Hauch der hohen Gräser aus den Wiesen, die zu beiden Seiten der Straße sich weit hinausdehnten. Die milde Luft, die dunkle Klarheit des sternbesäten Himmels und die tiefe Ruhe ringsum kühlten wie Balsam die wunden Nerven des jungen Mädchens. Sie vergaß ihren Begleiter, sie dachte an nichts mehr und genoß schweigend den tiefen Frieden dieser wundervollen Nacht.

Nikolaus hatte lange geschwiegen. Endlich wagte er ein paar Worte; da er keine Antwort erhielt, wurde er kühner und deutlicher. Er sprach zu Ariane davon, daß sie heute frei geworden sei, daß sie mit dem glänzenden Abschluß des Gymnasiums auch einen Abschnitt ihres Lebens beendet habe. Kein Hindernis liege mehr zwischen ihnen und dem seit achtzehn Monaten verfolgten Ziele; nur noch der Tag ihrer baldigen Hochzeit sei zu bestimmen und dann, nach der Hochzeit, hänge es nur von ihr ab, ob sie ins Ausland oder in die Krim reisen oder auf seinem Gut bleiben wolle; er erwarte nur ihre Entscheidung.

Das junge Mädchen blieb in sich versunken. Nikolaus wurde unruhig.

»Antworten Sie mir, ich flehe Sie an!« rief er ängstlich.

Sie wandte sich zu ihm und blickte ihm in die Augen.

»Nikolaus, quälen Sie mich nicht. Ich bin so unglücklich. – In wenigen Tagen erfahren Sie mehr. – Jetzt müssen wir umkehren.«

Der starke Bursche war niedergeschmettert. Noch niemals hatte Ariane in einem solchen Tone mit ihm gesprochen. Niemals früher hatte sie ihm so viel von sich mitgeteilt wie in diesen drei Sätzen. Er fühlte dunkel, daß ein düsteres Verhängnis heraufzog, und konnte es nicht erfassen. Was war im Werden, daß Ariane, die Königin, der die ganze Welt zu Füßen lag, unglücklich sein konnte? Sie hatte sein Mitleid angerufen, das überstieg sein Verständnis. Es kam wie ein Schwindel über ihn, seine Augen füllten sich mit Tränen und er verlor sich in ein bebendes Schluchzen. Die Hand des jungen Mädchens legte sich auf seine fieberheiße Hand. So kamen sie schweigend zu Hause an.

An der Tür sprach sie mit der gleichen Wehmut: »Auf Wiedersehen. In wenigen Tagen werde ich Sie rufen.«


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