Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)
Für und über die deutschen Frauen
Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Im Postwagen.

»Honni soit qui mal y pense!«

In jener bald vergessenen Zeit, wo man noch in gelb angestrichenen Postkutschen reiste, fuhr ich einst von der Hauptstadt Schlesiens nach einem kleinen, gegen sieben Meilen entfernten Landstädtchen. Ich war sehr jung; der erste Flaum sproßte mir auf der Oberlippe, und die Epaulettes, die ich aufgeknöpft hatte, waren nagelneu, denn ich hatte noch keine Zeit gehabt, ein Paar derselben durch längeren Gebrauch abzunutzen. Mit all den unbestimmten Hoffnungen auf erwünschte Abenteuer, wie sie die Phantasie einem jugendlichen Offizier so gern vorgaukelt, war ich zur Post gegangen, und ich war ein wenig enttäuscht, den Wagen, den ich auf die schmetternde Aufforderung des hornkundigen Postillons bestieg, völlig leer zu finden. Trotz des nichtswürdigsten Schneetreibens hatte ich möglichst auserlesene Toilette gemacht, da ja die reizendsten und liebenswürdigsten jungen Damen meine Reisegefährten sein konnten, und nun kein einziges fühlendes Herz in der Tiefe der großen, sechssitzigen Postkutsche?

322 »Machen wir denn die Reise zu Zweien, Schwager?« – fragte ich den Postillon, der sein Horn eben zu einem neuen Rufe an die Lippen setzen wollte.

»Es kommen 'r noch vier Stück,« erwiderte der biedere Quadrigurius im reinsten Platt seiner Geburtslandschaft; »der Deixel weiß, wo sie stecken! 's wird nachgerade bald die allerhöchste Zeit« – und er schmetterte einen herzbewegenden, schrittebeflügelnden Alarmruf in Wind und Schnee hinaus.

Meine Hoffnungen stiegen wieder. In gespannter Erwartung schob ich den Degen quer durch die Maschen des vom Verdeck hängenden Netzes, suchte im Dämmerschein, den die beiden brennenden Wagenlaternen nothdürftig gewährten, im Polster oberhalb meines Sitzes das weiße Porzellantäfelchen, das mir den Platz »Nummer Eins auf dem Orte« anzeigte, setzte mich, zog die kurzen Schöße meines eleganten, aber durchaus nicht winterlichen Paletots über die Kniee, und wartete behaglich der Dinge, die da kommen sollten.

»Na, da ist er ja noch! ich hab' es gleich gesagt: so gefährlich ist das mit der Personenpost nicht! Danke schön, liebe Clara – nun mach', daß Du nach Hause kommst – das ist ja ein Hundewetter! Ich werde mit den Kindern schon hineinkrabbeln – da drinnen sitzt ja schon ein Herr, der wird mir ein Bissel helfen. Herr du meines Lebens, ich bin wirklich ganz außer Athem; wir hätten nicht so laufen sollen. Nicht wahr, mein lieber Herr, Sie nehmen mir wohl freundlichst die Reisetasche herein? Hier, und die Kleine auch! 323 Emma, so paß doch auf! der Herr bietet Dir die Hand. So, das geht vortrefflich! Marie, jetzt kommst Du dran; immer munter! such' Dir einen Platz! hier, nimm die Tücher und meine Muff, und hier das Körbchen – zerschlag' mir die Milchflaschen nicht! Aber, Clara, Du bist noch immer hier; ich dulde es nicht länger! Hab' Dank für Dein Geleit und gehe jetzt! Du siehst ja, ich bin in bester Gesellschaft und unter dem Schutze eines Herrn, eines Offiziers, wie ich jetzt erst sehe – es ist so dunkel hier! – nun besser konnte ich es gewiß nicht treffen! Adieu, mein Herz! grüß' Deinen Bruder! ich schreibe Dir, sobald ich mit der ganzen Bagage glücklich angekommen bin. Carlchen, paß auf! jetzt kommst Du d'ran! Eins, zwei – drei! hopsa! siehst Du? das ging prächtig! Und nun steigen wir selbst ein, mein kleiner Liebling! weine nicht, Fritzchen! Du sollst gleich Deine Milch haben – und dann schlafen wir so süß, wie im warmen, weichen Federbettchen. Guten Abend, mein lieber Herr! ich danke vielmals. Das ist ja wohl hier Nummer Zwei? So, da säßen wir! Kinder, habt ihr auch alles? Nichts vergessen? nichts verloren? Nein? das ist brav! Nun kann die Reise losgehen!«

Diese Worte waren wie eine Ueberschwemmung über mich gekommen. Athemlos sprudelte sie die kleine, corpulente, bewegliche, und wie ich zu bemerken glaubte, bildhübsche Frau hervor, die da mit ihrem Gottessegen von drei, wie Orgelpfeifen rangirten Kleinen und einem Allerkleinsten auf dem Schooße in die Kutsche 324 hineingestürmt war und mich so vertraulich und zwanglos behandelte, als wären wir die ältesten Freunde von der Welt. »Noch 'r vier Stück!« hatte der Postillon gesagt, und, wenn ich recht zählen konnte, waren es vier und ein halbes Stück oder eigentlich fünf Stück, wenn ich das Fritzchen auf dem Schooße als Individuum, d. h. als untheilbares Einzelwesen gelten lassen wollte. Himmel, halt ein mit deinem Segen! dachte ich still bei mir, indem ich ängstlich berechnete, daß, wenn der sechste Platz auch noch verkauft war, der Aufenthalt in dieser Kleinkinderbewahranstalt jedenfalls nicht zu den angenehmsten gehören würde, denn jetzt schon versuchte ich, auf meinem Platze »Nummer Eins aus dem Orte« zu einer möglichst mathematischen Linie zusammenzuschrumpfen, um meiner gesegneten Nachbarin, die den Platz Zwei und Drei für sich und ihr Schooßkind völlig ausnutzte, nicht im Wege zu sein; – Emma, Marie und Carlchen saßen rückwärts.

Ein alter Schnauzbart von Wagenmeister leuchtete mit einer Handlaterne in den Wagen, zählte uns, wie ein Schäfer seine Herde, und rief zum Postillon: »'s ist richtig!« Darauf ein letztes, kurzes Signal; die Wagenthür flog zu; der Schwager klatschte mit der Peitsche, und schwankend und schütternd rollte die Personenpost aus dem verschneiten Posthofe hinaus auf die Straße und durch der Straßen lange Zeilen hinaus aus der Stadt auf die verschneite, öde, nachtumfangene Chaussee.

Im Anfange ließ sich die Sache erträglicher an, 325 als ich erwartet hatte; die kleine Welt, durch die Neuheit der Situation in Anspruch genommen, verhielt sich ziemlich ruhig, lauschte den Melodien, die der schwärmerische Postillon seinem Instrumente entlockte, betastete abwechselnd meinen Degen im Netze, die Polster des Wagens, die mit feinen Eisblumen bedeckten Fensterscheiben, und kicherte bei jeder stärkeren Bewegung der schlecht gefederten Kutsche, weil dann immer eines oder das andere der Kinder Gefahr lief, vom Sitze zu fallen. Als aber der Schwager draußen die allbekannte Melodie: »Seht ihr drei Rosse vor dem Wagen« – mit einer Menge verunglückter, ins Ohr stechender Töne freventlich zum Besten gab, fing das Carlchen, das mir gegenüber saß, mit seinen fünfjährigen Beinchen zu strampeln an und wischte bei dieser Gelegenheit vor lauter Vergnügen seine schmutzigen Stiefelchen an meinen Knieen ab, was die Temperatur des Postkutschen-Inneren schon um einige Grade verminderte und die Situation weniger behaglich machte.

Das Fritzchen wurde auch wieder unruhiger; es befand sich in jenem göttlich-reflexionslosen Lebensalter, wo sich die Außenwelt nur im Spiegel der Sinne, aber nicht in dem des Intellektes abspiegelt; zwei dieser Sinnenspiegel hatte der kleine Weltbürger schon verhüllt, indem er die müden Augen halb geschlossen hielt, was ihn jedoch nicht hinderte, ein bewegliches Adagio zu wimmern, das stellenweise in ein entschiedenes Furioso überging und den Appetit des Sängers unzweideutig bekundete.

326 »Still, mein Liebling, still! Du willst ›Mille‹ haben; warte nur! gleich soll Dein Wunsch erfüllt werden.«

Hätte sich diese Beschwörungsformel der Mutter nicht unverkennbar auf die zu beseitigende Magenleere Fritzchens bezogen, so hätte ich den kleinen Tausendsaßa für ein angehendes Börsengenie halten können, das schon den Begriff des Wörtchens »Mille« in seine Verstandeskategorien aufgenommen hatte; so aber erschien es klar, daß »Mille« hier nur als Diminutiv des Zauberwortes »Milch« gelten sollte und daß die ungewöhnliche Diminutivform nur der onomatopoetischen Begabung der Mutter, die das Lallen ihres Kindes nachahmte, ihre Entstehung verdankte.

»Emma, reich' mir mal das Körbchen, aber vorsichtig!«

Das älteste, vielleicht achtjährige Töchterchen gab der Mutter das geforderte Reiserequisit, das bisher neben Emma auf dem Rücksitze geschaukelt und geklirrt hatte. Vergeblich bemühte sich die Mutter, das jetzt mörderlich heulende Fritzchen zu beruhigen und zu gleicher Zeit das Körbchen zu öffnen. Der ungeduldige Bursch gestattete keine freie Verfügung der rechten Hand seiner Trägerin. Unbefangen reichte mir die Mama das Körbchen mit den freundlichen Worten:

»Nicht wahr, Herr Lieutenant, Sie haben die Güte und machen mir das verzwickte Ding gefälligst auf?«

»Sehr gern!« stotterte ich ein wenig verblüfft, und schon hatte ich die Bescheerung auf meinem Schooße und bastelte mit etwas erstarrten Fingern an dem 327 Vorsteckhölzehen, welches das strohgeflochtene Verschlußstück auf der Krampe des Korbes festhielt.

»So, gnädige Frau! ich hab's geöffnet.«

»Ach, bitte – der Kleine läßt mir keine Ruhe – würden Sie mir wohl die Milchflasche herausgeben? Nein, Emma! Du bleibst davon weg! Du hast mir erst heut' Nachmittag die kleine Flasche zerschlagen; der Herr wird das besser besorgen. Danke sehr! danke tausendmal!«

Ich hatte das Körbchen durchgewühlt und eine in eine Serviette gehüllte Flasche gefunden, die sich durch ihr Gummimundstück als die gesuchte kennzeichnete. Die junge Frau that einen Probezug durch den Sauger, schüttelte sich (was ich im Geiste nachahmte) und sagte entsetzt:

»Pfui wie kalt! Wir müssen die Milch wärmen.«

Fritzchen, das die Flasche begehrlich angeschielt hatte und in seinen Erwartungen nun getäuscht wurde, heulte mit einer Lungenkraft, die ich einem so kleinen Geschöpfe gar nicht zugetraut hätte, und die Mutter, sich abwechselnd an den Schreihals und an mich wendend, rief:

»So sei doch artig mein Junge; gleich bekommst Du warme Mille! Bitte, suchen Sie doch den Kocher heraus und das Spiritusfläschchen – zscht! zscht! nur nicht so ungeberdig! – Ja, das ist der Kocher; die Spiritusflasche ist in Zeitungspapier gewickelt – da ist sie! Danke sehr! Ruhig, mein Liebling, ruhig! Nun wird's Dir gleich gut schmecken!«

Emma, Mariechen und Karlchen hatten sich vor meinen Knieen auf einen einzigen Klumpen 328 zusammengeballt und starrten mit neugierigen Augen in die Tiefe des Korbes, dessen geheimnißvolle Schätze ich nach Weisung der Mama durchwühlen durfte; ich hätte den Kindern das Geschäft gern überlassen. Da ich aber, durch angeborene Höflichkeit und durch die schönen Augen meiner Nachbarin überwunden, nun einmal A gesagt hatte, so wollte ich auch B sagen, und legte gewissenhaft die kleine blecherne Kochmaschine und das Spiritusgefäß in die Hand der jugendlichen Mutter; freilich ahnte ich nicht, daß ich auch C und E und so fort das ganze Alphabet bis zum Z würde hersagen müssen.

Die Frau hielt mit der Linken das noch immer brüllende Fritzchen, mit der Rechten die Spiritusflasche, und auf ihrem Schoße ruhte die Kochmaschine; hülflos sah sie mich an.

»Meine Emma ist noch zu klein, um mit feuergefährlichen Dingen umzugehen; würden Sie, Herr Lieutenant – –? Nein, ich schäme mich wirklich, Ihre Güte so zu mißbrauchen.«

Ich hatte vollkommen begriffen, daß ich, ich, der königlich preußische Seconde-Lieutenant eines bevorzugten Regiments, die Milch wärmen sollte. Lächelnd fand ich mich mit der mir ganz neuen Lage ab und erklärte gutmüthig meine Bereitwilligkeit auch noch zu ferneren Dienstleistungen. Es war dies eine Höflichkeitsphrase, hinter der ich meine Verwirrung verbarg; aber ich wurde später furchtbar beim Wort gehalten.

Vorerst nahm ich die Kochmaschine, füllte das Lämpchen 329 mit Spiritus, setzte es mit Hülfe eines damals noch mit Schwefel behafteten Streichhölzchens in Brand und stellte das mit Milch gefüllte Gefäß über die Flamme. Den ganzen Apparat mußte ich vorsichtig in der Hand halten, um zu verhüten, daß durch die Erschütterungen des Wagens nicht brennender Spiritus überfloß und uns in Gefahr brachte. Die Sache war gar nicht so leicht; aber sie ging ohne Unfall von Statten, und bald erklärte die Mutter:

»Herzlichen Dank! Die Milch ist warm genug. Bitte, gießen Sie mir etwas hier in die Flasche.«

Sie hatte mit den Zähnen den Gummisauger von der Flasche gezogen und hielt mir den Flaschenhals hin, während ich die erwärmte Milch durch einen Papiertrichter in denselben hineinschüttete. Emma freute sich im Stillen, Mariechen klaschte laut in die Hände, Karlchen strampelte so heftig mit den Beinen gegen meine Kniee, daß ich sehr aufmerksam sein mußte, um nichts zu verschütten, und Fritzchen richtete sich, brüllend vor Verlangen, im Schoße der Mutter halb auf und zeigte die erst mit wenigen Zähnen besetzte Höhle seines weit geöffneten Mäulchens. Die Mama stülpte das entsetzliche Gummimundstück wieder auf die Flasche, probirte das Gebräu und sagte befriedigt:

»Vortrefflich! So, mein kleiner Saufaus, nun trink' Dich satt. Würden Sie, Herr Lieutenant, wohl die Güte haben, die ganze Prositmahlzeit wieder fortzupacken? Nein, Sie sind zu liebenswürdig! ich muß dem Geschick 330 wirklich Dank sagen, daß ich einen solchen Reisegefährten gefunden habe!«

»Mir her, mir!« schrie mir Karlchen gierig zu, als ich den kleinen Rest warmer Milch, der im Kochgeschirr geblieben war, ausschütten und zu diesem Zwecke das Wagenfenster öffnen wollte.

Ich sah mich fragend um, da aber die Mama erklärte: »Geben Sie's ihm nur, damit er ruhig wird,« so hielt ich dem Schleckermaul das Blechgefäß unter die Nase, und stöhnend wurde der Inhalt ausgetrunken. Jetzt erst konnte ich die Kochmaschine und die Spiritusflasche wieder in Papier wickeln und in der Tiefe des noch auf meinem Schoße stehenden Körbchens bergen; ich schob den Vorstecker wieder durch die Krampe und gab den Korb an Emma zurück, die ihn neben sich auf den Sitz legte und als Armlehne benutzte.

Fritzchen hatte inzwischen sein Fläschchen ausgelutscht; die Mama sagte: »So, mein Liebling, nun wirst Du gewiß recht schön schlafen«; sie reichte die leere Flasche der ältesten Tochter zum Aufbewahren und bedeckte den Kleinen mit einer Unzahl herziger schmatzender Küsse, als müßte er für sein Bravourstück besonders belohnt werden.

Es trat jetzt eine Pause verhältnißmäßiger Ruhe ein, die aber Karlchen damit ausfüllte, daß er meinen Degen aus dem Netze zog, um ihn aufmerksamer zu betrachten.

»Laß den Degen lieber stecken, mein Junge; Du könntest damit Unheil anrichten,« wagte ich bescheiden 331 zu bemerken; auch die Mama verbot dem Knaben sein Unterfangen; er hörte aber weder auf meinen Rath, noch auf das Verbot der Mutter, sondern hielt den Degen schon triumphirend in der Hand und erfreute sich an dem matten Glanze, den das vergoldete Gefäß im Dämmerlichte des Wagens ausstrahlte. Da das Portepee an meinem Degen kein neues war und schon ein wenig röthlich leuchtete, so hatte ich keine Ursache, um das Schicksal desselben besorgt zu sein; ich überließ daher dem Nichtsnutz die Waffe, obgleich es mich eigentlich gelüstet hätte, dem Schlingel ein wenig Disciplin beizubringen. Ich drückte mich still in die Ecke und wollte wirklich versuchen, etwas zu schlafen, unbekümmert darum, daß Karlchen an dem Portepee zerrte und den silberumsponnenen Griff des Degens mit der Zunge zu belecken anfing. Auch meine Nachbarin saß ruhig in der anderen Ecke und hielt sich ihr Fritzchen wie eine Wärmflasche vor den Magen; vielleicht erbarmte sich der Gott der Träume unser aller; vielleicht entführte er uns alle in sein Reich und wand auch meinen Degen aus der müden Hand des wißbegierigen Karlchens.

Wie das so beim Einschlafen zu gehen pflegt, kreuzten allerlei Bilder und Vorstellungen mein Hirn. Ich dachte an die Unermüdlichkeit und Opferfreudigkeit einer Mutter, die mit einer Schaar unmündiger Kinder eine Postreise zu bewältigen hat. Ein Vater würde den Kindern viel mehr Unbequemlichkeiten und Entbehrungen auferlegen, blos um seinen Mitreisenden nicht beschwerlich zu fallen; er würde die Kinder unter Verhältnissen hungern und 332 dürsten lassen, nur um nicht Anderen Gefälligkeiten und Hülfsleistungen zuzumuthen, die man höchstens von seinen vertrautesten Freunden und Bekannten einmal ausnahmsweise verlangen darf. Wie anders solch eine Mutter! Sie setzt Himmel und Erde in Bewegung, sie streift jede falsche Scheu und jeden Zwang ab, nur um das Wohlbefinden und Gedeihen des die Continuität der Menschheit sichernden Nachwuchses zu erzielen, und gerade diese scheinbare Rücksichtslosigkeit ist in Wahrheit die erschöpfendste und zärtlichste Rücksicht gegen das ihrer Pflege anvertraute Wesen. Daher erschien mir die Art und Weise dieser vortrefflichen Mutter durchaus nicht abstoßend und unweiblich; im Gegentheil, das, was ich an einem Manne als dreist und zudringlich verurtheilt haben würde, gereichte dieser Frau zur höchsten Zierde; es kleidete sie vortrefflich; sie war durch die Natürlichkeit und Unbefangenheit, mit der sie einen ihr wildfremden Menschen zu Handreichungen für ihr Jüngstes heranzog, geradezu liebenswürdig, und das Ueberraschendste in dieser Hinsicht verlieh ihr nur erhöhten Reiz und Grazie.

»Au!« und »Klirr!« tönte es durch die Stille im Wagen. Ein klägliches Geschrei Mariechens machte mich jäh emporfahren, und auch meine Nachbarin fragte erschrocken: »Mein Gott, was giebt es denn?«

Es war nur dasjenige eingetreten, was ich eigentlich längst befürchtet hatte: Karlchen hatte die Klinge aus der Scheide gezogen, mit ihr umhergefuchtelt und endlich seinem Schwesterlein Marie eine blutige Schramme an 333 der Stirn beigebracht. Verdutzt die Waffe zurückziehend hatte er mit dem Degenknopfe die Fensterscheibe des Wagens eingestoßen und nun saß er zitternd und zagend, wie ein in flagranti ertappter Verbrecher, in der Wagenecke und starrte die Mama ängstlich an.

»Du bist ein unartiger Bube!« grollte es von den Lippen der Mutter – »gleich legst Du den Degen wieder an seinen Platz! Mein armes Mariechen! Laß doch einmal sehen, was Dir der ungezogene Bruder gethan hat. Eine Schramme – nun das schadet nichts – weine nicht! das ist, wenn Du heirathest, längst geheilt – siehst Du, jetzt thut es schon nicht mehr weh.«

Sie hatte das Töchterlein an sich gezogen, tupfte mit dem Taschentuch die kleine Wunde, pustete darauf und sagte endlich:

»Wenn wir ein kleines Pflästerchen hätten, dann wäre der Schaden gleich beseitigt; wir wollen Löschpapier nehmen.«

»Gnädige Frau,« wandte ich hülfsbereit ein, »mit etwas englischem Pflaster kann ich dienen.« Ich zog mein Geldtäschchen hervor, nahm ein Päckchen schwarzseidenes Pflaster heraus und schnitt mit einem scharfen Taschenmesser ein kleines Verbandstück für Mariechen zurecht.

»Geh' hin zu dem Herrn, mein Kind! Siehst Du, er wird die kleine Wunde gleich heilen!« sagte die Mutter zu Mariechen, und gegen mich gewendet fuhr sie fort: »Ich danke Ihnen vielmals für Ihre wahrhaft rührende Freundlichkeit und würde in der That glücklich 334 sein, wenn ich Ihnen einmal irgend welchen Gegendienst erweisen könnte!«

»Aber ich bitte Sie, gnädige Frau – ich thue dies mit dem größten Vergnügen; der kleine Dienst ist ja gar nicht der Rede werth.«

Indem ich diese Versicherungen gab, – und als höflicher Mann konnte ich doch unmöglich anders sprechen – hatte ich Mariechen schon dicht vor mich hingestellt und klebte ihr das angefeuchtete Pflaster quer über die Stirn. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich erst, daß das Kind seiner Mutter auffallend ähnlich war, und wie es mich mit seinen großen, dunklen Augen, schon wieder durch Thränen lächelnd, anblickte, konnte ich mich nicht enthalten und gab dem lieblichen Geschöpfe einen herzhaften Kuß auf die durch das schwarze Pflaster noch zarter und weißer erscheinende Stirn. Ich weiß nicht, ob es dieser väterliche Kuß oder das aufgeklebte Pflaster bewirkt hatte, genug, Mariechen faßte von diesem Augenblicke an ein unbegrenztes Vertrauen zu mir; sie warf beide Aermchen um meinen Hals, barg ihr verweintes Gesichtchen an meiner Schulter und kletterte während dieser Liebkosung auf meinen Schooß. Unverkennbar richtete sie sich auf dem neugewonnenen Platze zum Schlafen ein. Mir war ganz wunderbar zu Muth; erst wollte ich eine Anwandlung von Besorgniß wegen meiner Toilette verspüren, deren militärische Tadellosigkeit mir durch das thränengebadete Gesichtchen einigermaßen bedroht erschien, doch der Zauber des kindlichen Vertrauens nahm mich derart gefangen, daß ich jede 335 Zurückhaltung schwinden ließ, um die Kleine zärtlich meinen Arm schlang und es ihr so bequem wie möglich auf meinem Schooße machte.

»Aber, Mariechen, Du wirst den Herrn belästigen! Bitte, Herr Lieutenant, jagen Sie den Kobold doch fort! sie ist so unruhig wie ein Quirl und mißbraucht Ihre große Freundlichkeit.«

Die Mutter meinte es gut mit mir, indem sie mir diesen Rath gab – aber konnte ich ihn befolgen? Durfte ich das Kind wirklich von meinem Schooße stoßen? würde ich dadurch nicht die Mutter verletzt haben? besteht nicht die innigste Solidarität zwischen einer Mutter und ihrer Tochter? gilt nicht jede Aufmerksamkeit, die man einem Kinde erweist, ebenfalls der Mutter desselben? Ich mußte die Kleine bei mir behalten, wenn ich in der Werthschätzung meiner Nachbarin nicht die empfindlichste Einbuße erleiden wollte – und das letztere wollte ich nicht – dazu war ich schon zu tief in das Netz verstrickt, welches diese liebevolle, unermüdliche, gutgelaunte und resolute junge Frau über mich geworfen hatte.

»Nicht wahr, Karlchen,« tönte es neben mir, »Du sitzest jetzt recht still und machst keine neuen Dummheiten? Guck' Dir einmal das Loch an, das Du in die Scheibe gestoßen hast; wir müssen es zustopfen, denn es fängt an fürchterlich zu ziehen.«

Jetzt erst sah ich mir die zertrümmerte Scheibe näher an. Karlchen hatte bei allem Unglück noch Glück genug gehabt; der Degenknopf hatte ein rundes Loch in das 336 dicke Glas gestoßen; strahlenförmig liefen von diesem Loche allerlei Sprünge aus; aber die Scheibe hielt wenigstens noch zusammen und die eigentliche Oeffnung ließ sich mit einem Papierbäuschchen nothdürftig verschließen. Schon hatte Emma eine alte Zeitung aus dem Reisekorbe hervorgesucht, und mit Hülfe derselben machte ich das Fensterglas wieder dicht, so daß wir vor der Unbill des Schneetreibens, das draußen ungeschwächt fortdauerte, verwahrt blieben.

Wieder schien es, als ob Ruhe und Frieden im Wagen-Innern endlich einkehren wollte. Fritzchen schlief im Schooße seiner Mutter; Mariechen that ein Gleiches auf meinen Knieen; Emma und Karlchen hatten von der Auswanderung der Schwester sofort Vortheil gezogen und sich beide auf dem breiten Rücksitze lang ausgestreckt – ihre Schuhsohlen berührten sich, und nachdem Karlchen einige vergebliche Stöße nach den Füßen der ältesten Schwester geführt hatte, beruhigte er sich über die nicht zu verscheuchende Nachbarschaft, und schnarchende Töne verriethen mir bald, daß er den Schreck über die Folgen seiner ersten Waffenübung vergessen hatte.

»Ich bin recht froh,« flüsterte die Mama aus ihrer Wagenecke heraus, »daß die Kinder zu schlafen scheinen; wenn Ihnen Mariechen nur nicht zu lästig wird!«

»Beunruhigen Sie sich deshalb keinesweges, gnädige Frau; die Kleine ist so leicht wie eine Feder – ich merke sie gar nicht.«

Das war nun wieder eine Höflichkeits-Nothlüge; das Kind war kräftig gebaut; ich merkte sein Gewicht 337 recht wohl, und mein rechtes Bein fing mir an ein wenig einzuschlafen; aber um keinen Preis hätte ich der liebenswürdigen Mutter reinen Wein eingeschenkt – ich mochte ihre Sorgen nicht noch unnöthig vermehren.

»Ach!« seufzte die junge Frau, »Sie sind so überaus gütig – es trifft mich wie ein Sonnenblick in dem Dunkel, das uns befallen hat. Sie können denken, daß ich in jetziger Jahreszeit mit dieser kleinen Gesellschaft keine Vergnügungsreise mache. Wir haben einen großen Brandschaden erlitten; das Wohnhaus auf unserem Gute ist in Asche und Schutt verwandelt, und nun muß ich mit meinen Kindern Unterkunft bei meinem Bruder suchen; er hat ein Gut in der Nähe von X.; wir verlassen dort die Post, um die noch übrige halbe Meile in meines Bruders Wagen zurückzulegen.«

»Das hat Sie in der That hart getroffen,« erwiderte ich theilnehmend. »Im Winter abzubrennen ist ein doppeltes Mißgeschick; ich will hoffen, daß Sie hinreichend versichert waren.«

»Das waren wir; auch sind die Wirthschaftsgebäude und Stallungen, gottlob, vom Feuer verschont geblieben. Mein Mann will den Winter über in Buchdorf bleiben, um sich mit Eintritt des Frühjahres gleich an den Wiederaufbau unseres Hauses zu machen.«

»Buchdorf?« wiederholte ich, »ei, das kenne ich ja; das liegt ja ganz nahe bei meiner Garnison.«

»Sie stehen in N.? Nun, dann werden Sie wissen, daß wir nur Pächter sind; aber wenn ein Gut schon so lange von demselben Pächter bewirthschaftet wird – 338 schon der Vater meines Mannes hat es in Pacht gehabt – dann gewöhnt man sich, von ihm wie von einem Eigenthum zu sprechen. Ich sagte »unser« Haus; freilich ist es das Eigenthum des Besitzers; aber der Verlust und der Wiederaufbau trifft uns ganz allein.«

Draußen schmetterte der Postillon ein Signal, und an dem Lichtschein, der bei uns vorüberflog, merkte ich, daß wir ein Chausseehaus passirt hatten; damals gab es noch solche Häuser, deren Pächter die Straße mit einem Schlagbaum sperrten, das Hinderniß aber bei Annäherung eines königlichen Postwagens fortziehen mußten.

»Jetzt werden wir bald in Z. sein,« sagte meine Nachbarin; »dort werden die Pferde gewechselt; dann sind es noch zwei Meilen bis X., wo ich die Post verlasse. Sie reisen weiter?«

»Ja, gnädige Frau; ich bin erst morgen früh am Ziele.«

»Nun, ich wünsche, daß nach uns keine neuen Passagiere einsteigen, damit Sie wenigstens gegen Morgen etwas Ruhe finden; wir haben sie Ihnen gründlich geraubt.«

»Im Gegentheil, ich bedaure lebhaft, daß ich meine liebenswürdige Reisegenossenschaft schon in X. verlieren soll.«

Mein rechtes Bein strafte diese Worte Lügen; es war völlig eingeschlafen, und ich beschloß, spätestens in der nächsten Station Mariechen umzulagern und auf mein linkes Bein zu setzen.

339 »Es hat sich zu unglücklich getroffen,« plauderte die junge Frau weiter, »daß auch gerade vor unserer Abreise unser Fräulein krank werden mußte; das arme Mädchen muß sich wohl in der Nacht des Brandes erkältet oder durch Aufregung geschadet haben. Mein Mann wollte mich allein mit den Kindern erst gar nicht reisen lassen; aber es ging nicht anders; die Kinder mußten wieder in geordnete Verhältnisse kommen, und Furcht kenne ich nicht; was mir mit Hülfe des Fräuleins geglückt wäre, das muß ich auch selbstständig bewältigen können.«

Wir hatten das kleine Nest erreicht, vor dessen Posthause die Pferde gewechselt wurden.

»Ob man hier wohl eine Tasse Kaffee bekommen kann?« fragte meine Nachbarin fröstelnd, »ich finde, der Wind weht bis in den Wagen herein.«

»Ich will mich sogleich erkundigen,« antwortete ich dienstfertig. Es war mir sehr erwünscht, von meinem eingeschlafenen Beine die süße aber immerhin fühlbare Bürde herunternehmen und auf die Polster des Sitzes legen zu dürfen. Schnell stieß ich die Wagenthür auf, sprang aus dem Wagen auf die Erde und mußte es als ein großes Glück betrachten, daß ich in eine mindestens zwei Fuß hohe Schneewehe sank, denn sonst wäre ich unfehlbar der Länge nach auf das Steinpflaster hingeschlagen, da mir das rechte Bein anfänglich jeden Dienst versagte. Während ich mich aus dem Schneehaufen herausarbeitete, gewann ich nach und nach die Gebrauchsfähigkeit des eingeschlafenen Gliedes wieder, und fest 340 aufstampfend begab ich mich in das unscheinbare, durch eine trüb qualmende Oellampe erleuchtete Passagierzimmer.

»Kann ich wohl ein Paar Tassen Kaffee bekommen?«

»Kaffee? nee! den haben wir nicht;« gab mir ein verschlafenes, weibliches Wesen zur Antwort, »das lohnt sich nicht, erst welchen zu kochen, es mag ihn doch Niemand nicht trinken.«

»Das ist allerdings ein Grund,« gab ich lachend zurück. »Haben Sie denn sonst nichts Warmes?«

»Was Warmes? Nun, ein bissel heißes Wasser steht noch im Ofen; da könnten m'r ja einen Grog machen.«

»Vortrefflich, mein aufrichtiges Fräulein! Machen Sie also einen Grog! aber, wenn ich bitten darf, ein wenig schnell.«

Schon wieder war ich durch den Schnee an den Wagenschlag geeilt, um meiner Reisegefährtin zu melden, daß sie sich der Hoffnung auf Kaffee entschlagen müßte, daß aber Grog zu haben wäre, und daß ich um ihre desfallsigen Befehle bäte.

»Sie sind zu gütig,« flüsterte sie mir mit süßestem Wohllaut zurück, »ich nehme alles dankbar an, wenn es nur heiß ist.«

Als ich ins Passagierzimmer zurückkehrte, schmetterte der neu zum Dienste berufene Postillon schon das Abfahrtssignal; mir blieb nichts übrig, als den Grog sammt dem Glase zu bezahlen, und eilig lief ich mit meinem Einkauf nach dem Wagen zurück, der sich auch, 341 kaum daß ich die Thür geschlossen hatte, schon wieder in Bewegung setzte.

Die junge Frau trank einen herzhaften Schluck und bot mir das Glas an. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, an derselben Stelle, wo ihre rosigen Lippen gekostet hatten, ebenfalls zu trinken, hätte mich aber beinahe tüchtig begossen, da plötzlich die Hand des erwachten Karlchens auf meinem Arme lag und der dreiste Schlingel ein kräftiges »Mir auch!« kommandirte.

»Darf ich?« fragte ich mit einem Blicke nach der Mutter.

»Nun, was meinen Sie? ein ganz klein wenig wird dem Jungen wohl nicht schaden. Aber, Karlchen, nur einen einzigen Schluck, hörst Du? Daß Du mir nicht mehr trinkst, sonst ist Mama ernstlich böse!«

Der Junge würde sich um diese Weisung nicht viel gekümmert haben, denn mit beiden Händen faßte er das Glas und schien nicht übel Lust zu haben, es in einem Zuge zu leeren; ich ließ aber ebenfalls nicht los, und wie er seinen Schluck bekommen hatte, nahm ich ihm das Glas gewaltsam vom Munde.

Die anderen Kinder, die nun glücklich auch wach geworden waren, verlangten die gleiche Vergünstigung wie Karlchen. Mit Erlaubniß der Mutter ließ ich denn auch Emma und Mariechen kosten, und nur dem laut schreienden Fritzchen wurde der zweifelhafte Trank kategorisch verweigert.

Mariechen kletterte zum Dank wieder auf meinen Schooß, und wir hätten nun neu gestärkt die Reise 342 friedlich fortsetzen können, wenn nicht Fritzchen durch das bedenkliche Crescendo seiner Soprantöne jede Ruhe verscheucht hätte.

»Ich glaube, ich muß dem Kinde wirklich noch einmal etwas warme Milch geben,« sagte die beunruhigte Mama mit einem Seufzer der Unschlüssigkeit und Verlegenheit.

Hätte ich dieses Bekenntniß auch nicht sofort in seiner ganzen Tragweite begriffen, der hülflose Blick der seufzenden Frau hätte mir die versteckte Bitte, die in den Worten lag, genügend verrathen.

»Das wird gewiß das Beste sein,« erwiderte ich beistimmend, »und da ich schon einige Uebung in dem Geschäfte habe, so gestatten Sie, gnädige Frau, daß ich noch einmal etwas Milch für den Kleinen erwärme.«

»Ich nehme Ihre Güte dankbar an,« sagte sie ohne Ziererei. »Emma, reich' doch dem Herrn Lieutenant das Körbchen!«

Ich kam mir wie ausgetauscht vor. Wenn mich jetzt einer meiner Kameraden gesehen hätte! ich hätte sicher vorgezogen, von der Erde verschlungen zu werden. In welche Lagen doch der Mensch gerathen kann! Ob Herkules bei der Ausführung seiner niedrigsten und eines Helden unwürdigsten Arbeiten ähnliche Bedenken durchzukämpfen hatte? Aber war ich denn Schuld an dieser lächerlichen Situation? Freilich hatte ich mich selbst als Koch angeboten – das war eine Thatsache; aber ich hatte durch mein Anerbieten doch nur dasjenige anticipirt, wozu ich auch ohne meine Initiative durch 343 die Bitte einer hülflosen Dame gezwungen worden wäre. Ich beruhigte mich wieder und betrachtete die Sache von der humoristischen Seite. Der Humor ist ja das sicherste Mittel, sich aus der tragikomischen Zwangslage menschlicher Existenz in das Reich der Freiheit zu retten. So erwärmte ich denn die Milch, und dieser Prozeß ging unter bemerkenswerthen Hindernissen vor sich, da sich Mariechen trotz meiner feuergefährlichen Thätigkeit siegreich auf meinem Schooße behauptete.

Als Fritzchen das warme Getränk mit den behaglichsten Schluchz- und Gluckslauten zu sich nahm, kroch es mir wie Neid an mein menschenfreundliches Herz, denn zu dem Behagen des jungen Weltbürgers standen meine naßkalten Füße, die ich dem Sprunge in den Schneehaufen verdankte, in bitterbösem Contraste; ich ließ mir aber nichts merken und erfreute mich an der Selbstlosigkeit der Mutter, die ihren Liebling dafür, daß er sich bene gethan hatte, wieder mit den zärtlichsten Küssen und herzigsten Schmeichellauten zudeckte.

Wir hätten nun wirklich ein wenig schlafen können, aber unbegreiflicher Weise fing der eben gesättigte kleine Prinz von neuem an, unruhig zu werden und zu lamentiren.

»Was willst du denn, mein süßes Herz?« klang es ahnungslos von den Lippen der Mutter, und Fritzchen gab mit zwei gestammelten Vokalen eine erschöpfende und an gesundem Realismus unübertreffliche Antwort.

Jetzt wurde die Situation in der That kritisch. 344 Ich spielte den Schwerhörigen und gab mir den Anschein, nichts vernommen zu haben; gleichzeitig erfaßte mich aber das innigste Mitleid mit der armen Mama und ich zitterte, ob sie sich leidlich würde aus der Affaire ziehen können. Einen heimlichen Seitenblick wagte ich nach der Bedauernswerthen. Sie hatte sich schnell gefaßt und mit der Geistesgegenwart, die nur einer gebildeten Frau zur Verfügung steht, erhob sie sich von ihrem Sitze, öffnete die an ihrer Seite befindliche Wagenthür und wollte, wie es schien, in voller Fahrt des Wagens mit dem Kinde aussteigen.

»Um Gottes willen,« rief ich, jede falsche Rücksicht über den Haufen werfend, »so warten Sie doch, bis der Wagen hält! Heda, Schwager! halten Sie einmal still! nur einen Augenblick!«

Aus Leibeskräften hatte ich geschrien, und der Postillon hatte es wirklich gehört und brachte das rasselnde Gefährt zum Stillstand. Der Schneesturm, der aber mit voller Gewalt gerade gegen die geöffnete Thür raste, legte gegen das Aussteigen der armen Mutter den entschiedensten, elementaren Protest ein und blies sie wie eine Feder zurück in den Wagen.

»Sie müssen auf der anderen Seite aussteigen, gnädige Frau!« rieth ich der Bedrängten, die durch das immer bedrohlicher werdende Verlangen Fritzchens beinahe den Kopf verlor.

Mit voller Wucht warf der Sturm die offene Thür wieder ins Schloß, und noch heute danke ich ihm diesen Dienst, denn er würde uns sonst alle mit einander aus 345 dem Wagen herausgefegt haben, da ich schon die auf meiner Seite befindliche Thür aufgerissen hatte.

Schnell suchte die besorgte Mutter sich bei mir vorbei zu quetschen, um den neuen Ausgang zu gewinnen; der Wagen war aber zu eng. Zwar hatte ich Mariechen neben mich auf das Polster gesetzt; Karlchens Beine ragten aber mir gegenüber so unbeweglich in den schmalen Gang zwischen den Sitzen, und der Junge schlief eben einen so ausgiebigen Schlaf, daß es für die kleine, etwas corpulente Dame trotz meiner bestgemeinten Zusammenschrumpfungs-Versuche thatsächlich unmöglich war, durch Scylla und Charybdis schnell hindurchzukommen. Immer dringlicher schrie der Kleine; purpurroth glühte die Wange seiner Trägerin; Gefahr war im Verzuge; und gerade, als ich instinktmäßig die Hände nach dem Kinde ausstreckte, hatte auch schon die Mutter den einzigen Ausweg aus der Noth gewählt und legte mir vertrauend das Liebste, was sie hatte, in die Arme.

Ohne mich zu besinnen, sprang ich mit meiner Last aus dem Wagen. Heiliger Mars, dachte ich, verhülle dein Angesicht! Ich kann beschwören, daß ich in Geschäften, wie ich deren gerade eines zu besorgen hatte, keinerlei Erfahrung und Uebung besaß; aber das Sprüchwort bewährte sich auch hier: Wem Gott ein Amt gibt, dem giebt er den Verstand dazu. Nach einer Minute war ich mit dem Kleinen wieder im Wagen; er schrie nicht mehr und schien in hohem 346 Grade befriedigt, obgleich wir beide in der kurzen Zeit mit Schneeflocken bedeckt waren.

Die junge Frau hatte sich auf meinem Sitze niedergelassen und zwei blitzende Thränlein perlten ihr über die erglühenden Wangen. Mit einem unbeschreiblichen Blicke nahm sie ihr Nesthäkchen aus meinen Armen.

»Hier, meine gnädige Frau! Honni soit qui mal y pense!« sagte ich beherzt.

Sie lächelte durch Thränen.

Ich dachte an Hektor, der das Söhnlein, das er geherzt und gesegnet hat, den Händen der inniggeliebten Gattin übergiebt: »sie drückt das Kind an den duftenden Busen,« wie Vater Homer singt, »lächelnd mit weinenden Augen.« Δακρυόεν γελάσασα – heißt es im Texte der Ilias, und der brave Voß begeistert sich in seiner sonst trefflichen aber durch nichtswürdige Hexameter schwer verdaulichen Uebersetzung derart für diesen Ausdruck, daß er in einer Note ausruft: »Lieber Leser, lerne Griechisch und wirf meine Uebersetzung ins Feuer!«

Δακρυόεν γελάσασα! Wie ein griechisches Heldenweib erschien mir die kleine, schnell getröstete, aber immer noch reizend verwirrte Frau! Wenn mir je die Wahrheit des Wortes: »Naturalia non sunt turpia« bewiesen worden ist, so geschah es in diesem Augenblicke. Bevor sich die Mutter mit ihrem Kleinsten wieder auf ihren Sitz zurückbegab, reichte sie mir die rechte Hand und schaute mich dabei so wunderbar an, daß mir der Blick durch Leib und Seele ging; es war ein Gemisch von Hoheit und Hülflosigkeit, von 347 Dankbarkeit und Selbstbewußtsein, von Zagen und Zuversicht, und nie habe ich lebhafter empfunden, daß eine liebenswürdige Mutter im Kreise ihrer Kinder unwiderstehlich ist, daß der Zauber ihrer Erscheinung Jedermann zu ihren Diensten zwingt und daß sie ohne sonstige Begleitung, nur von ihren Kindern umgeben, getrost die Reise um die Welt machen kann – wenigstens bei civilisirten Nationen wird sie jederzeit Hülfe und Unterstützung finden.

Ich erwiderte kräftig den Druck der kleinen Hand und sie flüsterte bewegt:

»Ich hoffe, Sie werden es nie vergessen, daß unser Haus, unser zukünftiges, das ihrige ist.«

»Es wird mir eine Ehre sein, im nächsten Sommer in Ihrem neuen Wohnhause vorzusprechen.«

Wir geriethen bald auf andere Gesprächsgegenstände; meine Nachbarin hatte ihre volle Unbefangenheit zurückgewonnen, und die Erinnerung an den peinlichen Zwischenfall vermochte in keiner Weise unser zwangloses Zusammensein zu stören.

In X. wurde die junge Frau von einem Hünen, dessen Antlitz ein Urwald von Vollbart umrahmte, aus dem Wagen gehoben. Während ich der kleinen Welt beim Aussteigen behülflich war, hatte sie mit dem Bruder geflüstert; dieser trat bald darauf an mich heran, stellte sich mir vor, dankte für den Schutz, den ich seiner Schwester gewährt hatte, und quetschte mir dabei so herzlich die Hand, daß mir alle Fingergelenke krachten.

348 Ich bin später fast eben so oft auf seinem Landsitze, wie auf dem der Schwester zum Besuche gewesen.

Als der Postwagen wieder weiter rasselte, war mein einziger Reisegefährte ein Handlungsbeflissener, der sich fest in seinen Pelz wickelte und sofort zu schnarchen begann. Schmerzlich empfand ich die Einsamkeit; ich hatte mich an die fortgesetzten Störungen durch die kleine Frau und ihren Gottessegen so gewöhnt, daß ich mit einer Art Sehnsucht an die eben Geschiedenen zurück dachte.

Als ich im Sommer in Buchdorf erschien, kam mir der Gatte meiner jungen Reisegenossin lachend entgegen, schüttelte mir die Hand und sagte: »Ich weiß alles; Sie haben da im Winter mit Hülfe meiner Frau einen famosen Cursus in der Ehestands-Propädeutik durchgemacht; nun, Herr Lieutenant, ich wünsche, daß Sie bald heirathen und daß Sie ein eben so gutes Weib bekommen, wie mir der Himmel bescheert hat.«

 


 


 << zurück