Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)
Für und über die deutschen Frauen
Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)

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Die Frauen und die Philosophie.

Im Gesellschaftszimmer der Frau v. A. entwickelte sich eines jener Gespräche, die scheinbar aus dem Hundertsten ins Tausendste gerathen, durch die aber für den feiner Aufmerkenden der Orgelpunkt einer festgehaltenen Stimmung dauernd hindurchklingt. Der Zufall hatte Damen und Herren versammelt, und die Mittheilung eines der anwesenden Herren von dem Elende einer kranken Proletarierfamilie hatte uns alle so trübe gestimmt, daß hier und da recht trostlose Aeußerungen über das menschliche Leben laut geworden waren.

»Das Schicksal, das hienieden über uns waltet,« ließ sich ein älterer Herr vernehmen, »übt unbegreiflicher Weise eine Art russische Justiz. Für das Kapitalverbrechen, geboren zu sein, verurtheilt es uns erst zu den Knutenhieben eines lebenslänglichen Schmerzes und schließlich zur Verbannung in die Bergwerke Sibiriens, d. h. in die unterirdische Grabkammer.«

»Das klingt entsetzlich,« warf ich bescheiden ein, »um so entsetzlicher, als es auf den ersten Blick richtig 308 zu sein scheint. Es ist wahr, jenes Räthsel herzbrechender Qual und markverzehrender Sorge, das wir das Leben nennen, läßt sich durch keine Grübelei, durch keinen Vernunftschluß lösen; es verliert aber, wenn wir hoffend und ahnungsreich aufwärts zu blicken gelernt haben, seine Sphinxnatur und bedroht uns nicht mehr mit Vernichtung.«

Die Aeußerung war gut gemeint gewesen, und ich bedaure auch heute nicht, sie gethan zu haben; sie sollte aber vorerst nur Unheil anrichten – scheinbares Unheil. Durch eine naheliegende Ideenverbindung gerieth das Gespräch bald auf das metaphysische Gebiet: es wurde von Gott und seinen geheimnißvollen Führungen gehandelt. Im Laufe der Unterhaltung hatte ich Jemandem, der es beklagte, daß Gott in einem Lichte wohne, dessen Zugang uns verwehrt sei, zustimmend erwidert, daß allerdings, wie es eine uns abgewendete Seite des Mondes gebe, so auch Gott als eine dem Denken abgewandte Seite bezeichnet worden sei.

Dieser bekannte Ausspruch wurde von einigen Damen gründlich mißverstanden; sie hielten mich wohl für einen gefährlichen Ketzer, wenn nicht gar für einen heillosen Atheisten; man setzte mir von verschiednen Seiten scharf zu; ich wurde förmlich katechisirt, und da ich die religiöse Richtung aller Anwesenden keineswegs kannte und grundsätzlich nirgends anstoßen wollte, so bewegte ich mich in allgemeingültigen Sentenzen, die noch nie von einem philosophisch geschulten Kopfe beanstandet worden sind. Sehr bald hatte ich die intellektuell kräftigeren 309 Geister auf meiner Seite, was aber zur Folge hatte, daß die Gegenpartei sich um so leidenschaftlicher auf das blinde, überlegungslose Festhalten an Worte steifte und alles selbstständige Denken in religiösen Dingen perhorrescirte. Zu meinem Schrecken bemerkte ich die unverkennbaren Anfänge einer Art von Religionskrieg en miniature. eines Sturmes im Glase Wasser.

Nur eine der Damen war gänzlich verstummt und hielt die Rolle einer unbetheiligten Zuhörerin streng inne.

Während das kampflustige Durcheinander der Stimmen fortdauerte, erhob ich mich, schlich sacht zu der stummen Dame und nahm neben ihr mit der leisen Frage Platz:

»Ihnen ist dies Thema unangenehm?«

»Gewiß!« – erwiderte sie offen. – »Wie konnten Sie in aller Welt einen so heiklen Gegenstand berühren? Sie sehen die traurigen Folgen: der Friede ist dahin, und an seiner Stelle wird eine tief greifende Verstimmung das Feld behaupten.«

Ich suchte mich zu vertheidigen. Es hätte mir ja fern gelegen, den Glauben irgend eines Mitgliedes unseres Kreises angreifen zu wollen; einer solchen Geschmacklosigkeit wäre ich wirklich unfähig; Glaubensüberzeugungen wären für mich immer eine heilige Sache, ein Rührmichnichtan; aber eine allgemeine, rein philosophische Bemerkung über das Räthsel aller Räthsel, über den mystischen Urgrund aller Dinge, den wir Gott zu nennen übereingekommen seien, wäre doch jedenfalls nicht nur straffrei, sondern dürfte vielmehr stets auf Interesse und 310 Beifall rechnen; für das ganz unlogische und erhitzte Geschrei der Uebrigen wäre ich doch billiger Weise nicht verantwortlich zu machen.

»Das ist ja das Unglück,« – belehrte mich meine Nachbarin – »daß Sie einen Gegenstand des religiösen Glaubens in philosophische Beleuchtung haben rücken wollen. Das vertragen Damen nicht; das hätten Sie nimmermehr thun sollen.«

»Aber, meine Gnädigste,« – wandte ich lebhaft ein, – »ich bin mir wirklich keines Mangels an Rücksichtnahme auf die anwesenden Damen bewußt. Haben Sie sich denn durch das, was ich gesagt habe, persönlich verletzt gefühlt?«

»Ich? Durchaus nicht! Nur der Anderen wegen war mir die Richtung des Gespräches unangenehm, denn ich ahnte, was kommen würde. Sehen Sie nur einmal Fräulein N. an – sie ist nahe am Weinen; und dort Frau v. B. perorirt so leidenschaftlich, daß sie roth ist wie ein gesottener Krebs.«

»Für diese sonderbaren Schwärmerinnen bin ich unverantwortlich; ich halte mich an das, was Sie mir eben über Ihre eigene Person gesagt haben: Sie selbst haben in der Wendung, die ich dem Gespräche gab, nichts Peinliches gefunden.«

»Allerdings nicht; aber, ich wiederhole, nicht alle Damen denken wie ich. Die meisten wittern schon hinter dem bloßen Worte Philosophie etwas Unheimliches, Feindliches, mit dem Glauben ganz Unvereinbares!«

311 »Und warum entsetzen Sie sich nicht auch vor diesem Wörtlein?«

»Ich habe keine Furcht vor demselben; in meinen Adern fließt akademisches Blut – mein Vater war Universitäts-Professor und wir Kinder wurden schon frühe zum exakten Denken angehalten. Ich weiß, daß die wahre Philosophie und die wahre Religion nur auf verschiedenen Wegen an dasselbe Ziel gelangen, ja, ich habe mich daran gewöhnt, das, was ich glaube, immer durch logisches Denken einigermaßen zu stützen zu suchen; wenn es mir auch nicht immer gelang und nicht gelingen konnte, so corrigiren sich beide Thätigkeiten doch an einander: der Glaube gewinnt an Fundament, und das Denken wird vor Ausschreitung bewahrt.«

»Wenn sich hiergegen auch manches einwenden ließe, so beglückwünsche ich Sie dennoch wegen dieses Ihres Strebens. Im Allgemeinen bin auch ich der Ansicht, daß ein Kopf, der da spricht: ich genüge mir allein – ich kann mir alles, dessen ich bedarf, selbstständig construiren, – daß ein solcher Kopf irrt oder lügt; denn der Kopf bedarf der Zufuhr arteriellen Blutes, die ihm nur das Herz liefern kann. Ohne Herz kein Kopf! Das Herz der Menschheit ist die Religion; sie ist ein Lebensbedürfniß, gerade wie Essen, Trinken oder Athmen; ohne Religion kein wahrhaft logischer Gedanke! Aber ebenso gilt der Satz: ohne Kopf kein Herz! ohne Denken kein Glaube, kein richtiger, sturmfreier, auch in der Krisis feststehender Glaube! Daher muß ich von meinem Standpunkte aus jene Damen beklagen, die aus Furcht, 312 in irgend welchem Glaubensbesitze gestört oder geschmälert zu werden, sich vor dem Denken bekreuzen und die Fackel des Philosophen auszulöschen versuchen. Was eine Dame glaubt, das geht mich nichts an; ich bin durchaus duldsam und achte jede ehrliche Ueberzeugung; aber das, was sie glaubt, muß sie auch zu vertreten wissen, und sie darf den nicht einer Sünde zeihen, der auf die Flamme ihres lodernden Herzens den spektralanalytischen Apparat des Gedankens richtet.«

»Gehen Sie da nicht ein wenig zu weit?«

Ich besann mich einen Augenblick, dann sagte ich einlenkend:

»Sie haben Recht; man könnte auch dies noch falsch deuten. Fassen wir also unsere Ansichten nur dahin zusammen, daß, so streng es geboten scheint, die Glaubensüberzeugungen, die religiösen Dogmen des Einzelnen im gesellschaftlichen Verkehr zu respektiren, es eben so frei stehen muß, dasjenige in den Bereich eines ernsten, würdigen Gesprächs zu ziehen, was ein Gemeingut aller Bekenntnisse genannt werden kann oder wenigstens allen Richtungen als ein diskussionswerthes Objekt erscheint.«

»Ich verstehe,« – ergänzte meine kluge Nachbarin. – »Nach Ihrer Ansicht können Anhänger der verschiedensten Religionsgenossenschaften sehr wohl über die Schwierigkeiten verhandeln, die z. B. die Annahme einer Persönlichkeit Gottes im Hinblick auf ein ihm dann zukommendes Selbstbewußtsein mit sich bringt.«

»Ganz richtig, meine Gnädigste. Mit Freuden 313 erkenne ich, daß wir völlig übereinstimmen. Man darf es unmöglich einen Verstoß gegen die Gesetze der feineren Geselligkeit nennen, wenn man beispielsweise in Gegenwart von Katholiken und Protestanten das Problem des Weltübels berührt und auf die Angriffspunkte hinweist, die auch die bestgemeinte Theodicee nicht ganz zu verdecken weiß. Wer in solchem Gespräche einen Mangel weltmännischer Form finden wollte, der würde sich selbst und die Gesellschaft doch außerordentlich niedrig stellen.«

»Ich gebe Ihnen das zu; Sie setzen aber eine Corona so bedeutender Menschen voraus, wie sie wohl vereinzelt vorkommen, selten aber um ein und dieselbe Theekanne versammelt sind.«

Ich lächelte und rief freudig aus:

»Dank, herzlichen Dank für dieses Ihr Zugeständniß! Es gewährt mir die glänzendste Rechtfertigung, denn wenn ich vorhin gefehlt habe, so geschah es, weil ich unsere Genossen überschätzte; das ist aber ein Grund für dieselben, sich bei mir eher zu bedanken, als zu beklagen.«

Ich stand auf, um meinen Hut zu suchen.

Die Anderen hatten unser nur geflüstertes Gespräch kaum bemerkt; sie waren noch mitten im heißen Wortgefechte, und jeder suchte mehr durch die Stärke seiner Stimme als seiner Beweisgründe zu wirken. Dem Fräulein N. perlten bereits ein paar Thränen über die dunkelrothen Wangen, und die leidenschaftliche Frau v. B., die wegen ihrer Strenggläubigkeit fast im Geruche der 314 Heiligkeit stand, schmetterte eben dem pessimistischen älteren Herrn das große Wort entgegen:

»Kratzen könnte ich jeden, der mir das nicht zugeben will!«

Ich weiß nicht, wovon die Rede war; nur die schlanken Händchen der Dame sah ich, die diese Worte mit einer unverkennbaren Bewegung begleiteten; die rosigen Finger waren gekrümmt, und die langen, wohlgepflegten Nägel schienen bereit, sich in Fleisch und Blut jedes hartnäckigen Gegners zu senken.

»Ei, ei, gnädige Frau,« – rief ich im Hinausgehen der Kampffertigen zu – »wo bliebe denn dann die Liebe, die wir selbst unseren Feinden schuldig sind?«

Sie stutzte ein wenig, und diesen Moment benutzte ich, nochmals grüßend das Zimmer zu verlassen. –

Das, was in einem gesunden weiblichen Herzen ohne jede Vermittelung der spekulativen Vernunft, ahnungsreich und instinktiv als Glaube aufblüht, ist meist so zart, so duftig und so keusch, daß es die Berührung durch den scharfen Nordwind der Kritik kaum verträgt, vielmehr im Eishauche einer unbarmherzigen Logik schmerzlich zusammenschauert und verkümmert. Und doch ist diese Flora des weiblichen Herzens ein unendlich köstlicher Menschheitsbesitz, und Der wäre ein Thor, der ihn im Wahne einer Erkenntniß-Ueberlegenheit ausroden und vernichten wollte! Der schärfste, rücksichtsloseste Denker hat Augenblicke, wo ihm das Elaborat des vieltausendjährigen Erkenntnißstrebens der Menschheit wie ein ungeheurer Irrthum, bestenfalls wie eine groteske 315 Phantasmagorie erscheint, welche das unsicher flackernde Licht der Vernunft auf die dunkle Wand der Ewigkeit wirft, und in solchen Augenblicken hört er freudig wieder die schlichten, nur aus dem Borne des Herzens geschöpften Worte klingen, die einst die längst schlafen gegangene Mutter in die Seele des Knaben geschmeichelt hat. Hoch über aller Philosophie, über allem Dünkel der Spekulation, steht der Glaube eines echten, reinen, gottinnigen Mutterherzens, und die Ahnungen desselben haben gewiß oft größeren substantiellen Werth, als die gewagtesten Todtensprünge der grübelnden Vernunft. Heil jeder Frau, die einen solchen unverlierbaren Schatz im Busen trägt! Wenn sie aber im frohen Besitze eines solchen Schatzes, statt die Welt in Liebe zu umschließen, unduldsam und feindlich gegen jede andere Regung der Köpfe und der Herzen wird, wenn sie jeden Ausspruch der Vernunft als einen Eingriff in diesen innersten Besitz betrachtet und es für ein unumgängliches Gebot des Feingefühls hält, daß man in ihrer Gegenwart den Gebrauch des Denkens überhaupt außer Cours setze, so überschreitet sie ihre Kompetenz, indem sie zu gleicher Zeit eine beklagenswerthe Unkenntniß der wahren Natur ihres inneren Schatzes bekundet. Eine Frau, die das Wort des Denkers nicht mehr vertrüge, wäre eine Kranke, und der Goldhort ihres Herzens wäre ein nur geträumter Besitz, der sich im Gebrauchsfalle, wie das Gold der Kobolde, in schwarze Kohle verwandeln würde. Nur niedrigst stehende Geister werden sich dem Denken verschließen, um den vermeintlichen Besitz des Glaubens 316 zu retten. Die echte und rechte, die deutsche Frau wird auch des Forschers Wort vertragen und sich nicht prüde über einen Mangel schuldiger Rücksichtnahme beschweren, wenn ein Andersdenkender in ihrer Gegenwart Gesprächsgegenstände berührt, die für alle Menschen mit gesunden Sinnen immer das gleiche Interesse haben und thatsächlich nie und nirgends verletzen können. Das, was der Hauch der gesunden Vernunft, die sich vor den Thatsachen nicht trotzig verschließt, sondern dieselben als von Gott gesetzte Rechnungselemente gelten läßt und mit in Ansatz bringt, auf der Tenne des Glaubens mühelos aufwirbelt und fortbläst, das ist vielleicht nur Spreu gewesen, die des liebevollen Bewahrens gar nicht werth war; die schweren, goldenen Fruchtkörner werden aber auf dieser Tenne unbewegt liegen bleiben, wenn auch die Professoren der Weltweisheit und Metaphysik noch so viel Wind machen.

Die wirklich gebildete Frau weiß, daß alle Wissenschaft und alles Erkenntnißstreben voraussetzungslos beginnen muß, um vom Erkannten aus das zu Erkennende weiter zu schließen, und daß die Gesetze der Forschung nichts mit dem Wähnen und Meinen gemein haben; verführe die Wissenschaft anders und ließe sie sich durch irgend welche Glaubenssatzungen bestimmen und einengen, dann wären uns nicht nur die Bewegungen der allernächsten Himmelskörper heute noch unerschlossene Räthsel, sondern auch auf dem Runde dieser unserer Erde hätten wir die Herrschaft über die Naturkräfte nimmermehr angetreten, und unsere Ebenbildlichkeit Gottes 317 wäre durch Wahn, Unwissenheit und Aberglauben bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Deshalb wird auch die gläubige Frau – und ohne Glauben giebt es keine wahre Frau – ihr Ohr nicht verschließen, wenn einmal der Denker, losgelöst von aller Tradition, in autonomem Wagemuthe forschend und wißbegierig an das eherne Gewölbe des Himmels klopft, aus dem ihm die Antwort auf die letzten Fragen doch nimmermehr entgegenschallen wird, da das einzige Echo, das solchen Fragen werden kann, drinnen im eigenen Herzen tönt; die Frau aber, die sich vor jedem Worte des Denkers, vor jeder Frage des Philosophen fürchtet, die den gelegentlichen Ausspruch eines Wahrheitsbeflissenen als eine Beleidigung ihrer Weiblichkeit betrachtet und selbst die Erörterung einer naturgeschichtlichen Thatsache für einen frechen, unverzeihlichen Eingriff in ihren Glaubensbesitz hält, diese Frau steht nicht hoch, und ihr Glaube gleicht dem werthlosen Ballast, der, wenn die Lebenssee hoch geht, sich als zu leicht erweist und dem Schifflein keinen stätigen Lauf sichert. Der echte Glaube kann durch den Ausspruch des redlichen Forschers, des unbestechlichen Denkers durchaus nicht beleidigt werden; der Forscher und der Denker, wie einseitig sie auch bei ihren Bestrebungen verfahren mögen, unterliegen im Uebrigen ebenfalls der Polarität der menschlichen Natur, und noch keine Philosophie, die ihrem Namen entspricht und nicht statt der Liebe zur Weisheit die Delirien des Größenwahns cultivirt, hat jemals die Fundamente eines erleuchteten Christenthums zu erschüttern vermocht.

318 Es wäre ein hoher Lohn für den Autor dieser Zeilen, wenn sein bescheidenes Bemühen mit dazu beitragen sollte, daß das Vorurtheil, das selbst gebildete Frauen noch vielfach gegen den Philosophen hegen, mehr und mehr dem Streben wiche, auch mit den Resultaten deutscher Gedankenarbeit eingehender bekannt zu werden; der Glaube der wirklich gebildeten, d. h. an Kopf und Herz gebildeten Frau würde keinen Schaden dabei nehmen. Wohl aber würden die Mütter, wenn sie bei aller Religiösität und Gottinnigkeit auch dem exakten Denken freundlichen Antheil zuwendeten, vorzugsweise befähigt werden, ein Geschlecht zu erziehen, das wie der Riese Antäus jedem Kampfe gewachsen wäre, da es bei aller Gedankenarbeit doch immer wieder aus dem Mutterboden der Religion Kraft gewänne. So ungern ich das Hauptwerk Schopenhauers in den Händen weiblicher Leser sehen möchte, da der Leser schon tüchtig geschult und wahrhaft feuerfest sein muß, wenn er dem bestrickenden Zauber, mit dem dieser gewaltigste aller deutschen Geister die Nänien seiner Weltanklage vorträgt, nicht erliegen soll, so bereitwillig würde ich einer intellektuell vorgeschrittenen Frau die »Parerga und Paralipomena« des großen Mannes als eine kräftige und unbedenkliche Geistesnahrung empfehlen. Die in diesem Werke enthaltenen Abschnitte »Aphorismen zur Lebensweisheit,« »Versuch über das Geistersehen«, »Zur Philosophie und Wissenschaft der Natur«, »Zur Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens durch den Tod«, »Zur Metaphysik des Schönen und Aesthetik«, »Ueber Urtheil, 319 Kritik, Beifall und Ruhm«, »Ueber Gelehrsamkeit und Gelehrte«, »Selbstdenken«, »Ueber Schriftstellerei und Stil«, »Ueber Lesen und Bücher«, wird keine Frau von Geist ohne den höchsten Genuß und die tiefste Befriedigung kennen lernen und selbst, wo sie dem eigenartigen Denker nicht beizustimmen vermag, wird sie dennoch einen bleibenden Gewinn auch aus dem Widersprochenen davontragen. Jede Frau, wenn sie in die Tiefen dieses oft weit über das Ziel hinaus treffenden aber immer originellen und zur Bewunderung hinreißenden Geistes geblickt hat, wird staunend und dankbar gewahr werden, daß solch ein einziger kleiner Band Schopenhauer'scher Lebensweisheit mehr Beherzigenswerthes und Anregendes bietet, als eine ganze Bibliothek Marlitt'scher Romane, denn die Sünden wider die exakte Seelenkunde, wenn sie auch von der erfindungsreichsten und spannendsten Erzählerin begangen werden, können auf die Dauer weder befriedigen noch bilden, während selbst die Verirrungen eines Denkers von Gottes Gnaden noch erklecklichen Nährstoff für den hungernden Geist bieten.

Sollten sich trotz alledem die schönen Leserinnen vor der näheren Bekanntschaft mit einem gefährlichen Pessimisten fürchten und sich nicht genügende Widerstandsfähigkeit gegen die Einflüsse seiner Thesen zutrauen, so will ich ihnen, falls sie andererseits dennoch Verlangen nach den Werken eines unserer neueren deutschen Denker tragen, hierdurch die Abhandlungen des zu früh verstorbenen Professors Johannes Huber angelegentlichst empfehlen. Namentlich sind es die folgenden drei Schriften: 320 »Idee der Unsterblichkeit«, »Der Pessimismus« und »Die Forschung nach der Materie«, welche auf den vollen Beifall gebildeter Frauen rechnen dürfen; ich bitte, das Epitheton »gebildeter« zu beachten, denn ich bin mir wohl bewußt, daß für eine Talmi-Dame auch diese Offenbarungen eines edlen Geistes – Caviar bleiben werden.

Das unbewaffnete Auge sieht in den Plejaden nur sechs bis zehn Sterne; durch einen Kometensucher erkennt es deren ungefähr anderthalbhundert; im zwölfzölligen Refraktor zerlegt sich aber das Sternbild in weit über ein halbes Tausend leuchtender Sonnen. So geht auch dem durch exaktes Denken geschärften geistigen Auge erst die volle Wunderwelt des Gedankenhimmels, der höchste, reinste und beseligendste Glaube, auf. 321

 


 


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