Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)
Für und über die deutschen Frauen
Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)

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Wie sollen Damen lesen?

An einem goldigen Maivormittage stand ich in einem Buchladen, um im Vorbeigehen eine Bestellung zu erledigen. Ich wurde in meiner Unterhaltung mit dem Buchhändler durch den Eintritt zweier Damen gestört und trat bescheiden auf die Seite, um den beiden Repräsentanten des schönen Geschlechts keinen Aufenthalt zu bereiten.

Die ältere Dame – unverkennbar die noch jugendliche Mutter der jüngeren Begleiterin – trug ein lehmfarbenes Kostüm aus feinem Wollenstoff mit einem brennendrothen Rippsplissé. Das Töchterlein, ein Mädchen von höchstens achtzehn Jahren, war in rothbraunem Kaschmir gekleidet, dessen Taille hinten mit paletotähnlichen Schößen und Taschen ausgestattet war. Der Sonnenschirm war vom Stoff des Kleides und das rechte Händchen, das ein frisches Blumensträußchen hielt, ragte in tadellosem Handschuh aus einer Wolke feiner, crêmefarbiger Spitzen hervor.

2 Die Damen beendeten eben ihre französisch geführte Unterhaltung und die ältere wandte sich an den Buchhändler mit der Bemerkung, daß sie sich auf Bücher aus seiner Leihbibliothek zu abonniren wünschte.

»Haben Sie einen Katalog?« fügte sie kühl hinzu.

Der Buchhändler verbeugte sich bejahend und eilte dienstfertig nach einem Pulte, um der neuen Kundin das verlangte Verzeichniß zu holen.

»Da! such' uns etwas aus!« sagte die Mama zum Töchterlein, indem sie ihm das Verzeichniß überreichte.

Das Fräulein legte Schirm und Strauß auf den Ladentisch, öffnete das abgegriffene Büchelchen und begann die Titel der Bücher halblaut der Mama vorzulesen.

»Der blutige Dolch – Eine Nacht im Walde – Die verführte Nonne – Das Gespenst in der Sägemühle – Mimili – Die graue Stube – –«.

»Die graue Stube?« unterbrach die Mama die Vorleserin – »das klingt ja sehr geheimnißvoll – wir wollen es versuchen.« Und zum Buchhändler gewandt, fuhr sie fort. »Bitte, geben Sie uns die ›graue Stube‹.«

Ich bemerkte ein feines Lächeln, das die zuckenden Mundwinkel des Buchhändlers nicht ganz zu unterdrücken vermochten; der höfliche Mann verschwand aber schnell in dem benachbarten Raume der Leihbücherei und kam bald mit einem alten, verstaubten Bande wieder zum Vorschein, den er erst sorgfältig säuberte, bevor er ihn dem feinen Handschuhe der Dame anvertraute.

3 »Die graue Stube«, – las diese, nachdem sie das Titelblatt aufgeschlagen hatte – »von Heinrich Clauren; wer mag das sein?«

»Ach, sieh' einmal, Mama: ›Fanny – Episode aus dem Leben einer jungen Frau‹!« rief das Fräulein, das inzwischen die verschiedenen Büchertitel des Kataloges weiter durchstudirt hatte – »das ist gewiß interessant! wollen wir das nicht auch nehmen?«

»Nun, wenn Du meinst – – von wem ist es denn?«

»Ich weiß es nicht – halt! Hier steht es: von Feydeau – es ist aus dem Französischen übersetzt.«

»Bitte, geben Sie mir noch Fanny,« sagte die Mama zum Buchhändler.

»Sehr wohl, gnädige Frau!« erwiderte dieser verbindlich und holte das Verlangte.

Beide Werke wurden in ein beschädigtes Exemplar der »Gartenlaube« eingewickelt, und als der Buchhändler das fertige Packet dem Fräulein überreichte, fragte er höflich:

»Für wen habe ich die Ehre, die Bücher zu notiren?«

»Für die Baronin X., Annenstraße 16, Villa Martha« – erklärte statt der Gefragten die Mama nicht ohne Selbstbewußtsein.

Wieder verneigte sich der Buchhändler, und Mutter und Tochter rauschten würdevoll aus dem Laden, indem die Tochter Schirm, Strauß und Packet mit sich nahm.

Ich hatte ein Gefühl von Scham, und um Zeit zur Fassung zu gewinnen, trat ich ans Fenster, und sah 4 gerade, wie beide Damen ihr elegantes Gefährt bestiegen. Ein in hechtgrauer Livrée steckender Diener machte den wappengeschmückten Schlag zu, kletterte dann gewandt auf den Bock zu dem in gleicher Tracht prangenden Kutscher, und die ungeduldigen, spiegelblanken Füchse zogen kräftig an und entführten den Wagen.

Als ich mich umwandte und den Buchhändler noch immer ein wenig beschämt anblickte, lächelte dieser diplomatisch, zog die Schultern einen Augenblick fast bis zur Höhe der Ohren, und sagte dann mit philosophischer Gelassenheit:

»Solche Besuche bekomme ich öfters – Sie müssen das nicht zu tragisch nehmen! Die armen Damen haben so viel andere, nothwendigere Dinge im Kopfe, daß ihnen nicht viel Zeit zur Bekanntschaft mit unserer neueren Literatur übrig bleibt, und da wird denn der Katalog wie eine Lotterie benutzt, aus der man auf gut Glück einen Gewinn zu ziehen hofft.«

Ich hatte mir eine Cigarre angezündet, um mein gestörtes inneres Gleichgewicht wieder herzustellen; aber ich gestehe, daß die Gradienten meiner Gemüthsatmosphäre immer noch sehr groß waren und auf den Ausbruch eines Sturmes deuteten.

»Können Sie denn solche unglückseligen, direktionslosen Opfer einer albernen Lesewuth nicht ein wenig beeinflussen und auf das Bessere hinweisen?« – fragte ich nach einer Weile und biß vor Verdruß ganz gegen meine Gewohnheit mit den Zähnen auf die Cigarre.

»Das ist einfach unmöglich – dazu fehlt mir 5 jegliche Zeit. Auch würden sich manche Damen eine solche Einmischung meinerseits als eine ganz unerhörte Dreistigkeit entschieden verbitten und nun gerade erst das verlangen, was ich abzurathen mich unterfangen würde. Das Lesen ist eben eine Kunst, und nicht Jeder erlernt sie.«

Ich grüßte den Buchhändler und verließ beschämt und verstimmt den Laden.

Wenn ich doch eine demosthenische Beredsamkeit besäße, um allen Frauen und Jungfrauen mit meinem Worte das Herz zu rühren und sie von der Schmach des gedankenlosen Lesens der von Leihbüchereien feilgebotenen Waare abzuhalten! Ich habe mich über die Unsitte unserer Damen, ihre Geistesnahrung aus öffentlichen Leihanstalten zu beziehen, schon anderweitig wiederholt geäußert und namentlich den Nachweis erbracht, wie ein planvolles Kaufen der besten Erscheinungen des Büchermarktes kaum die Ausgabe für ein jährliches Abonnement übersteigt, den Damen aber nach und nach den Besitz einer anständigen Privatbibliothek sichert, ohne welche der Begriff einer gebildeten, auf der Höhe der Zeit stehenden Person geradezu hinfällig wird; hier will ich nur den Bedauernswerthen, die aus irgend welchen zwingenden Gründen oder aus moralischer Unfähigkeit, eine schlechte Gewöhnung abzulegen, nach wie vor den Pfad zur Leihbibliothek beschreiten, eine Anleitung geben, wie sie wenigstens einigermaßen den Gefahren dieses Pfades entgehen können.

Das, was ein Backfisch in der Literaturgeschichte 6 erlernt, ist meist so dürftig und ungenügend, daß man wohl ohne Uebertreibung behaupten darf, das eben erwachsene Fräulein trete in dieser Hinsicht völlig unerfahren und rathlos ins Leben. Die Art, wie das erste schöngeistige Werk selbstständig ausgewählt und gelesen wird, entscheidet oft über die ganze spätere geistige Richtung der jungen Dame. Ein Katalog hat nur Werth für den Kenner der Literatur – in den Händen eines Neulings ist er eine Dynamitpatrone und kann jeden Augenblick das heilloseste Unglück anrichten. Also nicht im Kataloge hat die Dame nach ihrem ersten zu leihenden Buche zu forschen. Sie frage einen urtheilsfähigen, erfahrenen Herrn, einen älteren Freund, einen Lehrer nach einem guten für sie geeigneten Buche.

Nehmen wir an, es werde ihr »Immensee« empfohlen und sie lese die kleine reizende Erzählung mit wahrer Herzerquickung. Soll sie nach beendeter Lesung nun das Buch zumachen, dem Verleiher zurückbringen und Titel und Autor vergessen? Das wäre der erste Schritt ins geistige Elend! Sie muß sich nun vielmehr den Namen des Dichters »Theodor Storm« und auch den Namen des Verlegers »Gebrüder Paetel in Berlin« fest zu merken suchen. Hierauf kommt sehr viel an – mehr, als manche meiner Leserinnen vielleicht zu glauben geneigt ist. Schon die gemeinste Dankbarkeit verpflichtet zum treuen Festhalten des Autornamens – eine Dame, die ein gelesenes Werk lobt und auf die Frage nach dem Verfasser gestehen muß, daß sie dessen Namen 7 vergessen habe, hat kein Herz und kein Zartgefühl. Aber auch das eigene Interesse verpflichtet die Leserin zu einer Bekanntschaft mit dem Dichter, der das Glück und die Ehre hatte, ihr zu gefallen. Sie merke sich also den Dichternamen und suche durch Nachschlagen in einem Konversations-Lexikon oder dadurch, daß sie in intelligenter Herrengesellschaft das Gespräch auf den Dichter bringt, Näheres über dessen Person und Werke zu erfahren. So wird ihr der Dichter ein Bekannter werden, dessen andere Schöpfungen sie mit gleicher Freude nach und nach lesen wird; bietet man ihr später ein neues Werk von Theodor Storm an, so weiß sie, dies darf ich lesen – der Verfasser von »Immensee« kann nichts Werthloses, nichts Schädliches produziren.

Aber auch den Verlegernamen hat sie gemerkt und auch dieser kann ihr später aus dem weiten Meere der modernen Literatur als Kompaß dienen; eine Novität aus dem Verlage einer Firma, die schon ein gediegenes Werk gebracht hat, wird wahrscheinlich wiederum gediegen sein – denn im Allgemeinen verfolgt jede Verlagshandlung eine bestimmte Richtung, und es ist die Minderzahl, welche kritiklos alles durcheinander auf den Markt bringt und zu den Werken der berufenen Dichter auch die Produkte der Allerweltsschmierer und literarischen Handwerker gesellt.

Diese erste Bekanntschaft der jungen Dame mit einem ächten Dichter ist nun der Kristallisationspunkt, an den sich neue Bekanntschaften dieser Art mit Leichtigkeit anschließen werden. Durch Hörensagen erfährt das 8 Fräulein einen andern Dichternamen, über dessen Werth alle Urtheile oder wenigstens die Urtheile der zuständigen Tribunale übereinstimmen. Sie liest nun ein Werk dieses neu entdeckten Schriftstellers, und ist sie befriedigt, vielleicht hingerissen und begeistert, so merkt sie sich wiederum recht genau den Autor und Verleger. In wenigen Jahren wird das Fräulein eine Kennerin unserer besten Werke sein und manchmal schon beim ersten Blicke auf das Titelblatt einer Novität aus dem Autor- und Verlegernamen einen annähernd richtigen Schluß auf den Werth des Buches machen können. Eine derartige Orientirung sichert sie vor den oft seelenmörderischen Folgen der zufälligen Auswahl nach dem Kataloge oder der Anpreisungen einer Novität durch den Ladenburschen.

Ganz verkehrt und ein grober Verstoß gegen die geistige Diätetik ist es, wenn eine Dame, die ein Werk Gustav Freytag's, weil es gerade ausgeliehen ist, nicht bekommen kann, nun als Surrogat sich das erste beste Machwerk eines schöngeistigen Fabrikarbeiters aufnöthigen läßt. Meine Damen, das ist nicht hübsch! Sie, die Sie gewöhnt sind, Ihre Leckereien nur in einer bestimmten Konditorei zu genießen, die Sie übel werden würden, wenn Sie einen von einer Hökerin feilgebotenen Pfannkuchen verzehren sollten, Sie nehmen wahllos das unbekannte Werk eines obskuren Winkel-Skribenten an, um sich damit Geist und Geschmack gründlich zu verderben! Viel besser ist es in solchem Falle, statt des nicht zu erlangenden Werkes ein schon gelesenes noch 9 einmal zu lesen, oder aber zur Abwechselung ein wissenschaftliches, z. B. geschichtliches auszuwählen; ist es Ihnen aber ganz unmöglich, sich in ein ernsteres Buch zu vertiefen, dann, meine Damen, machen Sie lieber eine Pause in Ihrer Lektüre, statt daß sie Ihre kostbare Zeit mit der Lesung von Leihbibliothekenschund todtschlagen. Das viele Lesen ist sehr gefährlich; es nimmt – wie einer der schärfsten Denker unseres Jahrhunderts gesagt hat – dem Geiste alle Elastizität, wie ein fortdauernd drückendes Gewicht sie einer Sprungfeder nimmt; und um keine eigenen Gedanken zu haben, ist es das sicherste Mittel, daß man in jeder freien Minute sogleich ein Buch zur Hand nehme. Derselbe Denker sagt an einer anderen Stelle seines Artikels über das »Selbstdenken«: »Das charakteristische Merkmal der Geister ersten Ranges ist die Unmittelbarkeit aller ihrer Urtheile. Alles was sie vorbringen, ist Resultat ihres selbsteigenen Denkens und kündigt sich schon durch den Vortrag überall als solches an. Jeder wahre Selbstdenker also gleicht insofern einem Monarchen: er ist unmittelbar und erkennt Niemanden über sich. Das Vulgus der Köpfe hingegen, befangen in allerlei geltenden Meinungen, Autoritäten und Vorurtheilen, gleicht dem Volke, welches dem Gesetze und Befehle schweigend gehorcht.« Ich bin überzeugt, keine Dame will zum Vulgus, zum Pöbel der Köpfe, hinabsinken; wenn auch die gebildete Frau oder Jungfrau vernünftiger Weise nicht danach streben wird, zu den Geistern ersten Ranges zu gehören – denn diese sind stets vermöge 10 eines unumstößlichen Naturgesetzes generis masculini – so wird sie doch die mehr oder minder vorhandene Fähigkeit des selbstständigen Denkens und der geistigen Initiative, welche es allein einer Dame möglich macht, auf edle Weise in Gesellschaft zu glänzen und sich als eine Bevorzugte ihres Geschlechtes zu legitimiren, nicht im Wege der in einer öffentlichen Leihanstalt auf gut Glück befriedigten Lesesucht rettungslos ersticken wollen. Eine Leserin, die sich durch den Eintritt in eine der gewöhnlichen Leihbüchereien nicht geradezu bloßstellen will, muß wenigstens die Titel der Werke, die sie zu borgen wünscht, schon in ihrem hübschen Köpfchen mitbringen; wer erst vor dem Ladentische seine Lektüre nach den mehr oder minder versprechenden Titeln aus dem Kataloge auswählt, der gehört – seine Handschuh mögen noch so prall sitzen, oder die Pferde seines Gefährtes mögen noch so tadellos angespannt sein – ganz bestimmt nicht zu der guten Gesellschaft. 11

 


 


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