Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)
Für und über die deutschen Frauen
Gerhard von Amyntor (= Dagobert von Gerhardt)

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Dolores.

Es giebt Damen, mit denen man seit einer langen Reihe von Jahren in der verbindlichsten, freundlichsten und doch oberflächlichsten Weise verkehrt. Man ist sich herzlich nicht näher getreten, man hat keine Bekenntnisse oder Geheimnisse ausgetauscht, aber so oft man sich an einem dritten Orte trifft, begrüßt man sich, wie sich alte Bekannte begrüßen, man fragt sich gegenseitig nach dem Befinden und man plaudert mit einander so lebhaft, so vertraulich, daß ein fremder Beobachter den Schluß auf hohe Intimität zu machen sich berechtigt fühlen könnte. Ach, und man ist doch durchaus nicht eng verbunden!

Prüft man, was man eigentlich bei den zufälligen Zusammenkünften mit solch einer Dame redet, so macht man die beschämende Entdeckung, daß die Unterhaltung niemals den Bann der allergewöhnlichsten Höflichkeitsphrasen sprengt, daß es sich höchstens noch um das Wetter oder um diese oder jene Personalfrage aus dem Kreise der näheren oder entfernteren Bekannten handelt.

245 Eine uns so wenig erschließende Frau kann trotz alledem ein vortreffliches Herz haben, sie kann von der bezauberndsten Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit sein, sie gehört aber sicher – vorausgesetzt, daß der Fehler nicht an uns selbst liegt – zu jenen Oberfläche-Naturen, die mit ihren Gefühlen und Gedanken nie in die Tiefe gehen, deren spezifisches Gewicht ein Bruch ist, die nie von den Wellen des Räthselmeeres, durch das wir schwimmen, verschlungen werden.

Hinwiederum begegnen wir Damen, mit denen wir nach den ersten fünf Minuten einer zufälligen Plauderei mitten im eigenartigsten und interessantesten Thema stecken; ja, wenn wir auch ein ganz gewöhnliches Unterhaltungsobjekt verhandeln sollten, so bemerken wir bald mit Ueberraschung und Entzücken, daß unser liebenswürdiges Gegenüber so selbstständig und original-selbstthätig über den verhandelten Gegenstand nachgedacht hat, daß es in der Lage ist, ungesucht und ohne Prätension ganz nagelneue und zündende Gedanken darüber zum Besten zu geben. Es ist dabei gleichgültig, ob wir allem, was die Dame sagt, zuzustimmen vermögen oder nicht; auch durch den Widerspruch, den uns jemand erregt, können wir gefesselt werden, und auch dieser Widerspruch kann uns beweisen, daß wir es mit einer tief angelegten Natur, mit einer empfindenden und denkenden Seele zu thun haben.

Im Allgemeinen kann man behaupten, daß Frauen der letzteren Art stets eine Schule des Schmerzes durchgemacht haben. Bei Männern kommt es oft genug vor, 246 daß sie, trotz günstigster äußerer Lage, trotz Gesundheit des Leibes und Geistes, trotz des scheinbar ausgesprochenen Berufes zu heiterem, leichtlebigem Genusse, sich dennoch einem grübelnden Ernste hingeben und die Aufgaben des Lebens ziemlich schwer nehmen; bei Frauen ist das wohl nie der Fall und eine Frau, die spekulirt und an dem Sphynxräthsel der Welt herumräth, hat auf dem Gebiete eines unbefangenen Lebensgenusses in irgend welcher tragischen Weise Schiffbruch gelitten.

Frau Dolores V. mag als Illustration dieses Satzes gelten.

Ich lernte sie in einer größeren Hofgesellschaft kennen. Sie saß abgesondert von der übrigen Welt in einer Fensternische und spielte wie traumverloren mit ihrem Fächer, indem sie die zusammengelegten Schildkrotstäbe desselben langsam über die starren, schmalen Blätter einer Dracäne gleiten ließ, welche den Mittelpunkt einer Blumendekoration der Nische bildete. Kaum würde ich gewagt haben, die absichtlich Einsame zu stören, aber ich hatte den dringenden Bitten einer älteren Dame, die meine Bekanntschaft mit Frau Dolores durchaus vermitteln wollte, zögernd nachgegeben und stand nun vor der prunklos, aber überaus vornehm und auserlesen gekleideten Träumerin.

Nachdem ihr mein Name genannt worden war und sich die ältere, vorstellende Dame wieder zu anderen Personen in der Mitte des Saales zurückgewandt hatte, erhob Dolores ihre dunkelbraunen, ein wenig ermüdet 247 aussehenden Augen zu dem ihr gewiß sonderbar erscheinenden Herrn, der nach einer Bekanntschaft mit ihr Verlangen trug. Es lag Mißtrauen, Ueberraschung und doch auch wieder kühle Sicherheit in ihrem Blicke.

»Gnädige Frau« – sagte ich leise – »Sie haben einen so sturmfreien Hafen in diesem brandenden Menschenmeere ausgesucht, daß ich um Vergebung bitten muß, wenn ich Sie durch meine Nähe wieder an die wogende See um uns herum erinnere.«

»Was kann man besseres thun,« – erwiderte sie mit einem unterdrückten Seufzer – »als sich aus dem Schwarme schwatzender, lachender und lästernder Lebekünstler auf sich selbst zurückziehen?«

Fast hätte ich entgegnet: »So sind Sie keine Lebekünstlerin?«, aber zur guten Stunde fiel mir ein, daß diese Frage, ihr gegenüber, boshaft, ja grausam hätte klingen können. Frau Dolores hatte in ihrem Leben bisher kein Glück gehabt. Sie war eine geschiedene Frau. Ihr Vermögen hatte der gewissenlose Gatte verjubelt und vergeudet; sie selbst war von ihm vernachlässigt und einer gefallsüchtigen Schönen, die den Namen des Weibes schändete, geopfert worden. Es hatte viel Aufsehen gemacht und viel Gerede gegeben; kein Tropfen aus dem Wermuthskelche eines ruinirten ehelichen Lebens war der armen Dolores erspart worden. Dann hatte sich der Gatte von ihr getrennt und sie war zu stolz gewesen, die Lippen zu einer Anklage zu öffnen. Die ganze Ungunst der Lage, das odium implacabile des schuldigen Theiles hatte sie mit 248 zusammengepreßten Zähnen und mit krampferstarrtem Herzen schweigend auf sich genommen und keine Masche des Lügengewebes ihres scham- und ehrlosen Gatten mit zornbebender Hand zerrissen. Die Welt wußte das; einige nannten sie groß und edel, andere unberechenbar und exzentrisch. Es kümmerte sie nicht. Nachdem das Schifflein ihrer Liebe gestrandet war, hatte sie sich keine Mühe geben wollen, den Ballast des guten Namens zu retten; mit ihrem Glauben an die Liebe war auch ihr Glaube an die Welt vernichtet; sie kam sich nur noch wie ein Wrack vor, für dessen Erhaltung ihr jede Bemühung wie eine Narrheit erschienen wäre. Alles das wußte ich aus den Mittheilungen einer ihrer Gönnerinnen, eben jener älteren Dame, die mich ihr vorgestellt hatte. Dolores war durch den Treulosen, der ihr Herz gebrochen hatte, auch finanziell in mißliche Lage gebracht; sie lebte von einer außerordentlich kleinen Rente und die Meisten ahnten wohl nicht, daß die strenge Vornehmheit ihrer Toilette nur die Frucht geheimster und peinlichster Entbehrungen war.

Ich besann mich also zur guten Stunde und fragte als Erwiderung:

»Meinen Sie wirklich, gnädige Frau, daß alle diese harmlos oder boshaft plaudernden Menschen die Kunst des Lebens begriffen haben?«

»Ganz gewiß! Nur wer nicht nachdenkt, wer die Augen vor dem Elende dieses Daseins fest verschließt und wie ein Kind, das am grausigen Abgrunde mit Blumen spielt, sich an Essen und Trinken und Tanz 249 und Gelächter genügen läßt, nur der hat die Kunst des Lebens erlernt. Man muß grenzenlos leichtsinnig sein, um zu leben.«

»So muß man sich auch zu diesem Leichtsinn zwingen, denn das Leben ist unsere Pflicht.«

»Ist das Ihr Ernst? Halten Sie selbst es denn mit den Vergnügungen jener leicht befriedigten und oberflächlichen Naturen?«

»Gnädige Frau, ich finde, daß wir auch aus der Tiefe uns Genuß und Anregung herausfischen können.«

»Genuß und Anregung!« wiederholte sie ironisch. »Ich verlange nach keiner Anregung; uns anregen heißt: unser Wesen nur für neuen Schmerz empfänglich machen.«

»Das klingt sehr bitter und ich kann es nicht glauben, daß Sie dem Dasein gegenüber nur als Anklägerin dastehen wollen.«

Sie schwieg.

Nach einer Weile sagte sie trüb lächelnd:

»Wer uns hörte, der würde sich vor solcher Unterhaltung an diesem Orte bekreuzen.«

»Warum soll man nicht auch einmal auf die unleugbaren Schattenseiten der Menschenexistenz einen Blick werfen? Das ist immer noch verdienstlicher, als von Peter und Paul zu sprechen oder sich über Hinz und Kunz aufzuhalten.«

»Sie scheinen den Schattenseiten des Lebens eine Lichtseite gegenüber zu stellen; ich habe von derselben noch nichts bemerken können. Seien wir ehrlich und 250 machen wir uns keinen blauen Dunst vor. Für Männer mag es ja hier und da noch etwas geben, das wie ein Erfolg aussieht und der Anstrengung werth ist; ich bin aber Egoistin genug, nur an uns Frauen zu denken. Wozu in aller Welt sind wir geschaffen? Antwort: Um uns selbst zu betrügen oder um zu leiden.«

»Dies ist eine Alternative, gegen die ich im Namen der Vernunft mancherlei Einspruch erheben möchte.«

»Ach, lassen wir die sogenannte Vernunft aus dem Spiele. Ich kenne die Lobhymnen, welche die Denker zu ihrem Preise angestimmt haben; nur sehe ich kein irgend annehmbares Resultat, das vermöge der Vernunft ans Licht gefördert worden ist. Nehmen wir die Dinge so, wie sie sind, so, wie sie für uns Frauen sind. Hören Sie die schmeichelnden Walzermelodien im Nebensaale? Man tanzt dort. Machen Sie sich einmal klar, was das heißt. Die ledigen Frauenzimmer suchen durch Toilette und Schaustellung ihrer Reize entweder der albernsten Eitelkeit zu fröhnen oder, wenn sie praktisch sind, mit diesen Mitteln einen Mann zu gewinnen. Die Mütter, welche den Kreis der Zuschauer bilden, fühlen sich durch die Triumphe der Töchter geschmeichelt, oder, wenn sie ebenfalls praktisch sind, bemühen sich, die Angelversuche der tanzenden Töchter zu unterstützen. Es ist ein plump verdeckter Sklavenmarkt, ein offener oder heimlicher Schacher mit weißem Menschenfleisch – j'ai tranché le mot! Als ob die Ehe für ein Weib das Ziel des Lebens wäre! Ich mag deshalb keine 251 Romane lesen; immer enden diese albernen Geschichten mit der Hochzeit. Und wenn die Ehe wirklich der Beruf des Weibes ist, fängt denn dann das Leben nicht erst recht mit der Ehe an? Darf eine Erzählung mit der Heirath enden? Weiß eine Mutter, die ihr Kind glücklich unter die Haube bringt, was sie anstiftet? Ist es nicht ein Frevel, Verhältnisse künstlich zu schaffen, die für uns nur Unbekanntes mit sich bringen und deren wir in keiner Weise Herr sind?«

»Verlangen Sie denn, gnädige Frau, daß unsere jungen, blühenden Mädchen Célibataires werden? Soll die Menschheit aussterben?«

»Und wenn sie ausstürbe, wär's ein Unglück? Würde es uns beunruhigen oder schmerzen, zu wissen, daß nach uns nicht mehr gelitten und vergeblich gerungen werden wird?«

»Wer Sie so sprechen hörte, der müßte glauben, daß Sie einen unserer modernen Buddhisten gelesen und dessen Dogma von der Verneinung des Willens zum Leben als alleinseligmachend angenommen haben.«

»Das habe ich nicht gethan. Ich will mich nicht für besser ausgeben, als ich bin; ich mag zu dumm sein, um diese Herren Philosophen zu verstehen. Versucht habe ich es, aber ich bin bald zu der Ueberzeugung gekommen, daß gerade da, wo wir gespannt etwas Neues und Sicheres erfahren wollen, die Herren Denker sofort eine unverständliche oder wenigstens sehr dunkle Sprache zu reden beginnen. Ich bin also kein leeres Echo von Phrasen, die mir andere vorgedacht und eingeblasen 252 haben; das, was ich fühle und sage, ist mein Eigenthum.«

Ich verbeugte mich vor der Sprecherin und erwiderte in warmem Tone:

»Um so höheren Werth hat es für jeden, dem Sie es enthüllen. Der Schmerz hat Ihnen, meine gnädige Frau, den Ritterschlag ertheilt und Sie geadelt, d. h. zu einer Frau des selbstständigen edlen Denkens und Empfindens gemacht. Sie ersteigen nun den Kalvarienberg selbsterrungener Erkenntniß, dessen Gipfel für viele Frauen unerreichbar ist. Die Station, die Sie auf diesem Berge erreicht haben, liegt aber noch tief unten; vor Ihnen ist noch ein weiter Weg, der Sie zu umfassenderen und schöneren Ausblicken führen wird; Ihr jetziger Standpunkt ist eine Etappe, die Sie je eher je besser aufgeben werden.«

»Welche Etappe meinen Sie?«

»Die des Pessimismus. Sie haben sich da eine trübe Weltanschauung zurechtgemacht; aber die Entwicklungsphase der Verbitterung, der trotzigen Verzweiflung ist nicht das Endziel, sondern nur ein Durchgangsmoment für die edlere Seele.«

»Und zu welchem Ziele soll dieser Durchgang Ihrer Ansicht nach führen?«

»Zur Versöhnung mit Gott und den Menschen und dadurch zur wahren, richtigen Liebe des Lebens und seiner schweren, aber auch wunderbar herrlichen Aufgaben.«

253 Sie lächelte trüb und bewegte verneinend das edel geformte Haupt.

»Zur Versöhnung?« wiederholte sie gedehnt. »Ich lebe mit Niemand in Feindschaft; ich stehe der Welt kühl bis ans Herz hinan gegenüber, ohne Liebe, ohne Haß. Wohl fühle ich, daß ich die tödtliche Wunde in der Brust trage, aber ich mache Keinem einen Vorwurf daraus; mein Elend ist nicht die Folge der Thaten anderer, sondern es ist mein Fatum, mein Kismet; wenn ich Ihnen einen Einblick in mein Inneres gewährte, so bin ich für die Welt der sterbende Fechter, der seinen Schmerz stumm erträgt und mit einem Lächeln auf den Lippen langsam verblutet.«

Ich blickte die Sprecherin theilnehmend an: eine so schöne Frau und so traurige Bekenntnisse – es war ein erschütternder Gegensatz!

»Sie haben mich wohl nicht richtig verstanden«, sagte ich und meine Stimme bebte ein wenig, »ich meinte, daß nach den blutigen und doch vergeblichen Kämpfen der Spekulation Ihnen endlich aus dem Born der Religion der Strom des Friedens und Trostes fließen dürfte.«

»Wollen Sie mich mit den alten Kindergeschichten trösten? Sollen mir die Ammenmärchen des Katechismus über das Irrsal dieses Daseins hinweghelfen?«

Es klang fast feindlich und sie warf mir einen strafenden Blick zu.

»Meine liebe gnädige Frau,« versetzte ich sanft, »ich bin kein Proselytenmacher; fürchten Sie keine 254 Zudringlichkeit von meiner Seite. Die vollkommenste Duldung, die rückhaltloseste Achtung vor jeder metaphysischen Richtung beseelt mich. Ich kann mit Buddhisten und Parsen in Frieden leben; in dieser Hinsicht gilt mir das Wort: Tout comprendre c'est tout pardonner. Auch aus Ihrer Aeußerung ziehe ich keinen voreiligen Schluß; wenn ich von Religion rede, bin ich nicht beschränkt genug, nur an die meinige zu denken. Aber, glauben Sie mir, jeder Mensch hat Religion; auch für den Ungläubigsten, für den sogenannten Atheisten und Materialisten, steckt hinter dem sichtbaren Kosmos eine unsichtbare Ursache, eine unbegreifliche Intelligenz, ein räthselhaftes Absolutes, mit dem er sich auf seine Weise auseinanderzusetzen hat; wie er zuletzt das große X. nennt, das ist seine Sache; aber die Beziehung zu diesem seinem X ist seine Religion. Sie erlauben mir daher zu behaupten, daß auch Sie, trotz Ihrer Verbitterung, trotz Ihrer Abwehr aller Dogmen und Bekenntnißparagraphen, Religion haben; ohne Religion giebt es keine edle Frau. Aus dieser Ihrer Religion werden Sie immer tiefer schöpfen lernen und der Quell selbst wird sich durch dieses Schöpfen immer mehr vertiefen und wenn Sie das Geheimniß gelernt haben werden, wie man seine Religion zu einem wirksam schaffenden Heilsmomente, zu der einzigen wahrhaften Förderung und Steigerung seines besseren Ich macht, so werden Sie das finden, was ich vorhin als Versöhnung mit der Welt, mit Gott und Menschen bezeichnete.«

255 »Worin besteht dieses Geheimniß?«

»Das werde ich Ihnen nicht sagen, denn dann verliert der Zauber seine Kraft; Sie müssen es selbst entdecken, um sich zu erlösen.«

Eine sogenannte »Tournée« des Hofes störte unsere Unterhaltung; es entstand eine drängende Bewegung in der Gesellschaft; Frau Dolores erhob sich; es näherten sich ihr bekannte Damen und wir wurden für den weiteren Verlauf des Abends getrennt.

Monate mochten vergangen sein, als wir uns wiedersahen. Schon blühte der Flieder und der Lenz sang seine Jubellieder von allen Zweigen. Ich befand mich im Gärtchen einer Vorstadt-Villa und traf dort Frau Dolores in Gesellschaft der Herrin des Hauses. Die Begegnung machte mir Freude, denn ich liebe den Verkehr mit schmerzberührten Frauen. Meist ist der Schmerz ein wirksameres Schönheitsmittel als alle kosmetischen Geheimnisse des Toilettentisches; für edle und schöne Frauen ist er sicher das, was für die Pfirsich der Flaum oder für eine Bronze der Edelrost ist. Aus einem frischen, unbefangenen, lebensheiteren Angesicht mögen die Augen noch so klar und lieblich blicken, nie erreichen sie jene bestrickende, die tiefsten Tiefen der Mannesseele aufwühlende Wirkung, wie sie den schmerzverschleierten, in Thränen nicht ungeübten, dem Leid und Mitleid erschlossenen, wehmüthig zum Himmel aufblickenden Augensternen einer edlen Frau eigen ist. Wie erlöschen die feurigen, verheißungsvollen Blicke der liebreizendsten Huldgöttin, selbst der schaumgeborenen 256 Aphrodite, vor dem Mysterium, das aus den Augen einer Madonna bricht, der da gesagt worden ist: »Es wird ein Schwert durch deine Seele gehen!«

Was ich an jenem Frühlingstage mit Frau Dolores gesprochen habe, weiß ich nicht mehr; sicher war es nichts, was auf unsere frühere Unterhaltung Bezug nahm. Ich drückte ihr meine Freude aus, sie so frisch und gutgelaunt zu finden, und sie lächelte auf eine stille, deutungsfähige Art. Nach kurzem Zusammensein huschte sie wieder davon, indem sie versicherte, daß sie noch viel, sehr viel zu thun habe.

Als sie gegangen war, fragte ich die Herrin des Hauses nach der Ursache der offenbaren Wandlung im Wesen der merkwürdigen Dame.

»Sie haben recht,« wurde mir vertraulich erwidert, »es ist mir auch aufgefallen – Frau Dolores hat sich vortheilhaft verändert. Den Grund kenne ich nicht. Trotzdem ist sie immer noch exzentrisch und unberechenbar wie früher. Denken Sie nur, sie erzählte mir, daß sie jetzt an einem Proletarierkinde aus ihrer Nachbarschaft gewissermaßen Mutterstelle vertrete und das sechsjährige Mädchen nicht nur unterrichte, sondern auch kleide und oft genug wasche und kämme. Eine neue Laune von ihr! Sie hat kaum selbst genug zum Leben und halst sich nun noch die Sorge für andere auf! Und man kennt diese Leute der niederen Klassen – nicht einmal Dank wird sie für ihre Bemühungen ernten!«

Ich hatte genug gehört und eine freudige Ahnung 257 von dem Thun und Treiben der schmerzverschönten Frau ging mir dämmernd durch die Seele. – –

Der Herbst war ins Land gekommen, an den Hecken blühten lila- und rosenfarbige Winden und tiefblaue oder violette Wicken und in den Gärten leuchtete die rothe Bohnenblüthe und der gelblich gemusterte Kelch der Kresse.

Ein Spaziergang hatte mich ins nahe Dorf geführt und ich rastete im einfachen Grasgarten eines ländlichen Wirthshauses an einem aus rohen Brettern gefügten Tische, der unter einer früchteschweren Kastanie mit seinen Füßen in der Erde befestigt war.

Fröhliche Kinderstimmen tönten von dem Felde, in welches der Grasgarten überging. Dort zwischen hoch emporgeschossenen Sonnenblumen und den grünen Pyramiden, die eine Bohnenpflanzung bildete, tummelte sich eine Schaar von einem Dutzend festlich gekleideter kleiner Mädchen.

Plötzlich rief eine mir bekannt klingende Frauenstimme:

»Nun ist's genug, Kinder; jetzt wollen wir sehen, ob unser Kaffee fertig ist.«

Ich blickte in die Richtung des Schalles und sah eine stattliche, aber einfach gekleidete Dame, welche, wie eine Henne die Küchlein, so die kleine Welt um sich versammelte und in den Garten zurückführte. Wie sie mir ihr Antlitz zuwandte, erkannte ich Frau Dolores.

Ich sprang auf und eilte, sie zu begrüßen.

258 Sie reichte mir, wie einem alten Bekannten, die Hand und sagte, auf die Kinder deutend, lächelnd:

»Wenn Ihnen des Geschwätzes nicht zu viel wird, so nehmen Sie bei uns Platz und helfen uns Kaffee trinken!«

Mit Freuden folgte ich der Einladung und bald saß ich neben der jungen Frau und musterte in reger Theilnahme ihre Adoptivkinder.

Es waren Töchter aus dem niederen Handwerkerstande, die alle ihren besten Staat angelegt haben mochten. Sie benahmen sich so gesittet, tranken so manierlich ihren Kaffee, zu dem sie Zwieback und Semmeln knabberten und blickten namentlich ihre Beschützerin, wenn diese zu ihnen sprach, so vertrauensselig und dankbar an, daß man sofort einen tiefen Einblick in die Art und Weise, wie Frau Dolores ihre Aufgabe erfaßt hatte, gewinnen konnte.

Eine vertrauliche Unterhaltung mit der letzteren war vor der Hand unmöglich, denn sie hatte nur Augen und Ohren für ihre Kleinen; sie nannte jedes Kind bei seinem Vornamen, ermunterte hier, tapfer zuzulangen, warnte dort, nicht zu heiß zu trinken (»das schadet den Zähnen«), und zwischendurch erzählte sie einen anspruchslosen Scherz, der das laute, beistimmende Gelächter der Kinder zur Folge hatte.

Nachdem das Vesperbrod eingenommen war, löste sie eine Bindfadenschlinge, welche ein halbes Dutzend bunter Reifen und ein Dutzend Rohrstöckchen 259 zusammengehalten hatte, und, indem sie den Kindern das Spielzeug einhändigte, sagte sie:

»So, Ihr Lieben, nun seht einmal zu, wer von Euch den Reifen am geschicktesten werfen kann. Dort am Rande des Feldes wird gespielt – hier würden Euch die Bäume hindern.«

Die Kleinen ergriffen die Stöcke und Reifen und schwirrten wie ein Flug Tauben davon.

Frau Dolores wandte sich jetzt an mich.

»Wenn es Ihnen angenehm ist, machen wir einen kurzen Spaziergang durch's nahe Feld; ich kann von dort die Kinder im Auge behalten und ein Viertelstündchen werden sie sich schon ohne mich behelfen.«

Ich verbeugte mich, bot ihr meinen Arm und wir wandelten dem Felde zu.

»Sehen Sie dort!« rief sie nach einer Weile, »wie reizend sieht doch so ein Spargelbeet aus, wenn es in Samen geschossen ist! Diese feinen, haarähnlichen Blättchen und diese roth leuchtenden Kügelchen! Und das alles umsponnen mit dem blitzenden Mariengarn! Man könnte bei solchem Landschaftsbilde vergessen, wie schwer das Leben ist.«

»Und haben Sie es nicht schon ein gut Theil vergessen, gnädige Frau?«

»Vergessen? – nein! Aber ich suche mich durch freiwillig übernommene Arbeit zu betäuben und mir keine Zeit mehr zu lassen, um über das Lebensräthsel nachzudenken.«

260 »Ein verdienstliches Unternehmen, dem der Segen nicht fehlen wird!«

»Glauben Sie das wirklich? Nun, ich hoffe es auch, denn ich gestehe Ihnen aufrichtig, so entlastet – merken Sie wohl: verhältnißmäßig entlastet – wie jetzt habe ich mich noch nie gefühlt.«

»Das macht der Verkehr mit den Kindern. Haben Sie denn eine Schule gegründet?«

»Ach nein!« seufzte sie, »das ist es ja, was mich immer noch schmerzt; ich habe nicht Glück, nicht Stern; bei allem, wozu ich befähigt wäre, stellen sich Hindernisse ein und verbieten mir die Ausbeutung meiner Anlagen.«

Ich sah sie fragend an und sie fuhr erklärend fort:

»Sie ahnen nicht, welche Mühe ich mir gegeben habe, irgend eine lohnende Thätigkeit zu ergreifen, um das Denken an Vergangenes abzuschütteln und doch auch ein wenig für meine aussichtslose Zukunft zu sorgen. Alles war umsonst! Selbst zur Bühne wäre ich gegangen, trotz des Kopfschüttelns derjenigen Kreise, in denen meine gesellschaftliche Stellung wurzelt. Man hatte mir gesagt, daß ich eine vortreffliche Vorleserin wäre; meine Gestalt und mein Organ wären auch wie für die Bühne geschaffen; an intellektueller und ästhetischer Bildung halte ich mich selbst für reich genug, um an unsere berühmten Tragödinnen heranzureichen – so that ich die einleitenden Schritte und begann dahin zielende ernsthafte Studien. Leider entdeckte ich bald, daß meine nervösen Kopfschmerzen ein unübersteigliches 261 Hinderniß für meine Pläne waren; ich kann ja nie mit Sicherheit über den nächsten Abend verfügen; gefällt es meinen Neuralgien, mich wieder einmal zu foltern, so liege ich regungslos im Polsterstuhl und strecke alle Vier von mir. Es sollte also auch damit nichts sein. Dasselbe Leiden macht mich unfähig zur Lehrerin. Ich kann mich wohl einmal um die Kinder kümmern, wie Sie dies heute von mir sehen, ich kann mich aber nicht zu einer bestimmten Anzahl täglich zu gebender Stunden verpflichten; das ist mir rein unmöglich. Oft wollte ich wieder bitter werden. Wärest Du eine Tänzerin, sagte ich mir, Du würdest das Bein brechen; hättest Du das Zeug zu einer Malerin oder Musikerin, Du würdest wahrscheinlich erblinden oder taub werden.«

»Nun, Beethoven wurde auch taub und hat doch noch fortkomponirt,« unterbrach ich meine Begleiterin.

Sie lächelte und erwiderte:

»Ich habe auch solche Anwandlungen immer wieder tapfer niedergekämpft. Es galt, mit gegebenen Größen zu rechnen und nicht unfruchtbaren Wünschen und Begierden nachzuhängen. In meiner Nachbarschaft lebt eine unglückliche Frau, die meine Wäsche besorgt. Sie hat einen trunkfälligen Mann, der sie schlägt und den sie dafür ernährt. Das einzige Töchterchen dieser Leute besucht eine Armenschule. An den Vormittagen ist das Kind solcher Weise gut versorgt; aber Nachmittags, wo kein Unterricht stattfindet und die Mutter meistens außerhalb des Hauses wäscht, war die Kleine dem Zusammensein mit dem betrunkenen, rohen Vagabunden, 262 dem sie das Dasein verdankt, schutzlos ausgesetzt. Das wollte ich ändern, denn das Kind wäre sonst an Leib und Seele zu Grunde gegangen. So schlug ich der Mutter vor, mir die Kleine jeden Nachmittag in meine Wohnung zu schicken, wo ich sie angemessen beschäftigen würde. Mein Anerbieten wurde dankbar angenommen. Ich lehrte das Mädchen weibliche Handarbeiten, gab ihr, wenn dies mein Kopf erlaubte, Nachhülfestunden, um das in der Schule Gelernte zu erweitern und zu befestigen, und hatte die Freude, das Proletarierkind auf eine ungeahnte Höhe von Intelligenz und echter Sittlichkeit zu erheben. Das Kind lernte spielend, nahm unbewußt die Manieren der Bildung an; ich verbesserte seine Toilette; es wurde ein holdseliges Wesen, das sich mir bald in eine liebenswürdige kleine Freundin und Vertraute verwandelte. So trug meine Handlungsweise in sich selbst den reichsten Lohn, denn durch die Beschäftigung mit dem unverdorbenen, kindlichen Gemüthe lernte ich einsehen, welche Fülle edler, herrlichster Keime Gott in jede Menschenbrust gesenkt hat; ich wurde wieder vertrauensvoller, dankbarer; ich fand den großen, unnahbaren und doch allgegenwärtigen Gott, den ich beinahe verloren hatte, in seiner Kreatur wieder und das Erziehen des Kindes, der Aufgang und das Wachsthum meiner bescheidenen Saaten, erfüllte mich zum ersten Male wieder mit einer reinen, ungetrübten und ach, wie lang entbehrten Freude!«

Die Stimme der Sprecherin zitterte leicht und ich sah, wie im Auge der schönen Frau eine 263 Thräne aufstieg – eine Thräne des Glückes und Dankes.

»Was Sie mir da erzählen,« versetzte ich bewegt, »ist mir eine unendlich frohe Botschaft. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch jener Hofgesellschaft erinnern, der ich die Ehre Ihrer Bekanntschaft verdanke. Damals sagte ich Ihnen von einem Geheimniß –«

»O, ich erinnere mich dessen. Sie wollten mir nicht verrathen, wie man seine Religion zur Steigerung seines besseren Ich verwerthen müsse. Ich habe oft an unsere Unterhaltung gedacht und über Ihr Geheimniß gegrübelt; endlich glaubte ich die Lösung gefunden zu haben. Die praktische Bethätigung der Nächstenliebe, das schien mir der Weg zur Versöhnung mit der Welt, und, da die Liebe des Nächsten, die durch die That wirksam werdende Liebe, welche die Aufopferung unserer selbst in sich schließt, der Kern dessen ist, was alle edleren Religionen lehren, so habe ich einsehen gelernt, daß nicht in unfruchtbaren Glaubensdiskussionen oder metaphysischen Grübeleien, sondern in einem richtig verstandenen und ausgeübten Liebeskultus unser eigenes Heil und das der ganzen Welt liegt. Habe ich mich geirrt?«

»Nein, Sie haben sich nicht geirrt, und wohl Ihnen, daß Sie diese Wahrheit in schweren Stunden selbst gefunden haben! Der Verkehr mit diesen unverdorbenen und so herzlich dankbaren jungen Seelen wird Ihnen immer ein kleines Eden mitten im Kampfgewühl des rauhen Lebens sein.«

»Die Stunden, die ich in diesem Eden verweile, 264 sind mir leider knapp zugezählt. Sobald mich die fröhliche Schaar verlassen hat, muß ich jedesmal in das Inferno der Weltklugheit und Ichsucht zurückkehren. Dann kommen die guten Freunde und getreuen Nachbarn und werfen mir meine Sonderbarkeit und meinen Mangel an praktischem Sinn vor. Was bei dieser Gratisbelehrung hergelaufener Bettelkinder eigentlich für mich herauskommen werde? Ob ich mir mit dieser verlorenen Liebesmühe Kapitalien sammeln und für mein Alter etwas zurücklegen würde? Gutes thun wäre ja eine sehr schöne Sache, aber der vernünftige Mensch hätte doch in erster Linie für sich selbst zu sorgen! Es regt mich immer auf, wenn mir die Leute in solcher Art zusetzen, und das Verdrießlichste ist, daß ich ihnen nicht immer so ganz Unrecht geben kann.«

»Lassen Sie sich durch solche weltkluge Thoren niemals beirren! Ich pflege sonst nicht in salbungsvoller Weise die Schrift zu citiren; auch dieses herrliche Buch kann man schmählich mißbrauchen und Wahn und Unverstand hat oft genug seine Rechtfertigung daraus herleiten wollen; aber für Ihren Fall sollen Sie doch an ein Bibelwort erinnert sein: ›Wir wissen, daß denen die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.‹ Auch Ihrer selbstlosen, opferfreudigen Liebesthat wird der irdische Lohn, so oder so, nicht fehlen.«

Wir waren zur Grenze des Grasgartens zurückgekehrt und die Kinder ließen Stock und Reifen liegen und kamen jauchzend auf ihre Beschützerin und mütterliche Freundin losgestürmt.

265 Sie sah mich mit einem hoffnungsreichen Blicke an und flüsterte bewegt:

»Möchten Sie wahr sprechen!«

Dann wandte sie sich zu den Kleinen und sagte freundlich:

»Jetzt, Ihr Lieben, will ich auch an Eurem Spiele theilnehmen.« – –

Ueber ein Jahr verging, ehe ich Frau Dolores wiedersah. Mein Beruf hatte mich weit, weit hinweggeführt und im Schatten der siegreichen Fahnen meines Königs war mir die Stadt, wo Dolores lebte, mit allen ihren Personen und Interessen ins Meer der Vergessenheit versunken. Der Zufall brachte das Gespräch auf die so vorbedeutend getaufte Dame, als ich wieder in den heimischen Mauern verkehrte, und sofort regte sich in mir die lebhafteste Theilnahme an der seltenen Frau und ihren weiteren Schicksalen. Auf meine Fragen erhielt ich folgenden Bericht.

Der merkwürdig veredelnde Einfluß, den Frau Dolores auf ihre kleinen Freundinnen ausübte, war nicht unbemerkt geblieben. Hervorragende Persönlichkeiten hatten sie zur Gründung einer Schule für Töchter der vornehmen Welt zu bestimmen versucht. Sie hatte diesen Vorschlag wiederholt abgelehnt unter Hinweis auf ihr körperliches Befinden, das ihr keinerlei Zwang gestattete. Ein Militärgeistlicher, der vor kurzem seine Gattin verloren hatte und nun, da er mit ins Feld rücken sollte, sein neunjähriges Töchterlein gern in guter Pflege zurücklassen wollte, hatte sie jedoch durch dringende Bitten 266 dazu vermocht, das Kind wenigstens in Pension zu nehmen. Der Unterricht sollte durch andere Lehrer ertheilt werden; Frau Dolores hatte nur versprochen, sich des Kindes außerhalb der Unterrichtsstunden anzunehmen und ihm eine mütterliche Freundin zu sein. Da der geistliche Herr durch die Hinterlassenschaft der Gattin in den Besitz eines großen Vermögens gekommen war, so hatte er der anfänglich widerstrebenden Dolores eine namhafte Entschädigung für Kost und Wohnung seines Töchterleins aufgedrungen.

Dieses Verhältniß war der Krystallisationspunkt für andere, ähnliche Beziehungen geworden. Nach einem halben Jahre hatte Frau Dolores noch drei junge Mädchen in ihr Haus genommen. Sie hatte eine entsprechend größere Wohnung gemiethet und eine Art Pensionat eingerichtet, in welchem durch tüchtige Lehrkräfte der Unterricht ertheilt wurde, so daß sie nur als Oberaufseherin und gewissenhafte Leiterin dem Hause vorstand. Durch den anregenden Verkehr mit ihr gewannen die Pfleglinge aber so auffallend an Herzensbildung, guter Sitte und sicherem, taktvollem Benehmen, daß das Institut der Frau Dolores plötzlich Mode geworden war und sich der Geburts- und Geldadel der Stadt wahrhaft dazu drängte, seine Töchter zur Gewinnung der letzten Feile der hochgeachteten und nun auf einmal berühmten Dame anzuvertrauen. Kalkulatorische Köpfe rechneten ihr nach, daß sie nicht nur einen hübschen Zuschuß zu ihrem Lebensunterhalt gewinnen, sondern auch noch ein erkleckliches Sparsümmchen zurückzulegen im Stande sein müßte.

267 Nach wenigen Tagen schon machte ich ihr meinen Besuch. Sie schien über das Wiedersehn nicht weniger erfreut als ich es war.

»Meine Verhältnisse haben sich merkwürdig geändert,« sagte sie mit einem Blick der Genugthuung und Zufriedenheit, »und ich bin dem Allgütigen zu großem Danke verpflichtet, daß er mich so gnädig geführt hat.«

»Ihren Talenten ist die gebührende Anerkennung geworden. Ich freue mich, daß Sie einen so schönen und passenden Wirkungskreis gefunden haben.«

»Er ist bescheiden genug. Sie werden schon gehört haben, daß ich gar nicht unterrichte. Ich habe vollkommene Muße, mich gelegentlich mit meinen nervösen Kopfschmerzen zu beschäftigen; wenn ich aber davon verschont bin, dann nehme ich mich meiner kleinen Welt bei den Mahlzeiten, Spielen und Spaziergängen ein wenig an und suche mich in dieser Weise nützlich zu machen.«

»Sie schlagen Ihre Verdienste sehr bescheiden an. Für junge Damen ist die intellektuelle Bildung, der Gewinn formalen Wissens, kaum in gleichem Grade wichtig wie die Bildung von Herz und Gemüth, und in der Ertheilung dieses Unterrichtes sind Sie für Ihre Zöglinge offenbar eine berufene Meisterin. Ich weiß, daß Sie in den jungen Herzen keinen Pessimismus großziehen werden; wer die Anwandlungen desselben so tapfer und siegreich niedergekämpft hat wie Sie, meine gnädige Frau, der wird auch Andere durch die Scylla und 268 Charybdis extremer Weltanschauungen zum wahren Heile hindurchzuführen wissen.«

»Ich hoffe es. Uebrigens stimme ich Ihnen von Herzen bei, wenn Sie auch das Gegentheil des Pessimismus als Klippe oder gefahrdrohenden Strudel bezeichnen; eine Optimistin bin ich nicht geworden.«

Sie seufzte leicht, als sie dies sagte, und fuhr träumerisch fort:

»Es muß einen dritten, höheren Standpunkt geben, auf welchem sich der Gegensatz zwischen Pessimismus und Optimismus vermitteln läßt.«

»Gewiß giebt es diesen.«

»Und wie heißt er?«

»Die kindlich vertrauende Ergebung in den Willen der Vorsehung. Macht sie uns auch nicht das Leben zum Paradiese, so schließt sie doch jede Klage über die Hölle des Daseins aus; sie lehrt uns, das Leben als eine unbegreifliche Gabe, als eine geheimnißvolle Anweisung auf eine spätere, höhere Existenz in Demuth tragen; sie mildert jeden Schmerz und gönnt uns doch auch manche schöne Stunde der Erhebung und Freude.«

Frau Dolores nickte sinnend und unterdrückte einen leichten Seufzer.

Wir schieden von einander mit herzlichem Gruße und ich mußte das Wiederkommen versprechen.

Unverkennbar war die seltene Frau zufriedener und behaglicher geworden; aber ein Rest ungestillten Sehnens schien noch immer auf ihrer Seele zu lasten. Ich begriff nicht, was ihr noch fehlen konnte.

269 Da – es war wieder Winter geworden und die Kerzen der Geselligkeit strahlten wieder in den gastfreundlichen Häusern – traf ich in einer Abendgesellschaft mit jener älteren Dame zusammen, die einst meine Bekanntschaft mit Frau Dolores vermittelt hatte. Sie nahm mich auf die Seite und flüsterte mir die wichtige Neuigkeit zu, daß Frau Dolores dem Prediger, dessen einziges Töchterlein ihr zur Erziehung übergeben war, einen Korb ertheilt hätte.

»Es ist ganz bestimmt wahr,« fügte sie eifrig hinzu, »ich weiß es aus ganz zuverlässiger Quelle. Was sagen Sie dazu? Der Prediger ist ein ausgezeichneter Mann, eine hochachtbare Persönlichkeit von angenehmstem Aeußern und vollendeten Verkehrsformen; dazu ist er reich, sehr reich, und er wäre eine in jeder Hinsicht passende Partie für Dolores gewesen. Es ist jammerschade, daß sie Nein gesagt hat – sie ist doch immer noch so unberechenbar und unpraktisch wie früher!«

»Gnädige Frau,« erwiderte ich, »Alles, was Frau Dolores thut, ist die Folge einer ernsten und gewissenhaften Ueberlegung; wir wollen sie nicht vorschnell verdammen. Zudem ist es die Frage, ob das Gerücht auch wahr spricht.«

Ich ließ das Thema fallen und am andern Mittag schon zog ich die Klingel im Pensionat.

Frau Dolores empfing mich in einer einfachen, aber reizenden Haustoilette und auf ihrem Angesichte lag es wie Morgensonnenschein.

»Nach Ihrem Befinden mich zu erkundigen, wäre 270 das Ueberflüssigste von der Welt; Ihr Aussehen überhebt mich jeder bezüglichen Frage.«

»Gott sei Dank, es geht mir gut. Wenn man so vieles und so angenehmes zu thun hat wie ich, dann hat man wirklich keine Zeit, krank zu sein.«

»Das ist ein stolzes, fast übermüthiges Wort.«

»Der Himmel bewahre mich! Uebermüthig möchte ich nicht sein. Aber dankbar, von Herzen dankbar zu sein, habe ich allen Grund.«

»Das freut mich in der That. Wenn ich mich nicht fürchtete, Ihren lebhaftesten Widerspruch zu erregen, so möchte ich behaupten, daß ein Stückchen erlaubter Optimismus in Ihre Brust eingezogen ist.«

Sie sah mich an und zögerte mit der Antwort. Nach einer Pause versetzte sie:

»Erlaubter Optimismus? Ist dies eine andere Art als jener »verruchte« Optimismus, den ein großer Pessimist gebrandmarkt hat? Nun, wir wollen nicht um Worte streiten und Sie sollen Recht haben: ich bin glücklich und trotz aller Kämpfe und Qualen ist das Leben doch schön.«

»Gnädige Frau,« wagte ich diplomatisch zu bemerken, »ohne irgend ein entscheidendes Ereigniß sind Sie nicht zu dieser Anschauung gelangt.«

Wieder sah Sie mich an und es schien, daß sie nach einem passenden Ausdruck für das suchte, was sie auf dem Herzen hatte.

»Sie sind mein Freund,« begann sie endlich, »und einem Freunde darf man schon etwas anvertrauen, was 271 nicht jedermann zu wissen braucht. Setzen Sie den Fall, daß eine verbitterte und ganz allein auf sich gestellte Frau den Kalvarienberg der Erkenntniß – so nannten Sie es ja wohl einmal – erklimmen will. Diese Frau erledigt bei diesem Bemühen eine Leidensstation nach der anderen. Ein Mann wäre vielleicht im ersten Ansturm bis zum Gipfel emporgedrungen, die Frau aber ist eben eine – Frau, sie trägt einen recht unnützen Ballast mit hinaus – ihr Herz. Lachen Sie die Bergsteigerin nicht aus, daß sie es nicht verstanden, bei ihren Entdeckungsreisen das Herz zu Hause zu lassen. Dieses Herz glaubte sich unfähig, seine Bestimmung zu erfüllen und einen Mann zu beglücken, denn es hatte bei seinen desfallsigen Bemühungen schmählich Schiffbruch gelitten; ein Frauenherz will aber nicht nur die ganze Welt umschließen, es will auch von irgend einem einzigen in dieser Welt noch ganz besonders geliebt sein.«

Eine Thräne war ihr aufgestiegen und, die langbewimperten Lider niederschlagend, wie um mir den verrätherischen Schimmer zu verbergen, fuhr sie nicht ohne Anstrengung fort:

»Dieses unbefriedigte Gefühl, dieses uneingestandene Sehnen und Mißtrauen gegen sich selbst trübte den Blick der Frau. Endlich auf der letzten Station des Kalvarienberges harrte ihrer eine schmerzliche und doch beseligende Ueberraschung; dort fiel ihr ein Mann, ein edler, liebenswerther Mann zu Füßen und begehrte die arme Bergsteigerin um ihrer selbst willen, um dieses ihres verkannten, gemarterten und doch nicht ertödteten Herzens 272 willen. Das war eine große Freude und ein großer Schreck! Eine Freude, weil die Pilgerin entdeckte, daß sie nicht aus der weiblichen Art geschlagen, daß sie immer noch fähig war, einen Mann zu beglücken; ein Schreck, weil sie es gerade jetzt in diesem beseligenden Moment empfand, wie es ihr ganz unmöglich war, die Wünsche des werbenden Mannes zu erfüllen. Sie hatte ein Mal ihr Herz verschenkt, voll und ganz und ohne Rückhalt: war es auch ein Irrthum gewesen: sie konnte es so nicht wieder ein zweites Mal verschenken. Der Altar, auf dem sie geopfert hatte, war vom Blitze zerschmettert worden; immer noch bewahrte sie aber ein heiliges, unnennbares Gefühl für die Stelle, wo er gestanden – sie konnte keine neuen Altäre mehr bauen. Sie wies den Liebhaber zurück, um, wie sie hoffte, einen Freund mehr zu gewinnen. Seit jener schmerzlich-wonnigen Stunde sieht sie aber die Welt wie durch einen rosigen Hauch verklärt; ihr ganzes Wesen ist gesteigert und ein unendliches Glück wogt durch ihre Brust. Wenn Sie die thörichte Frau nicht ganz zu begreifen vermögen, so urtheilen Sie mild und denken Sie, daß es eben nur eine – Frau ist!«

Die hellen Thränen liefen ihr über die Wangen; sie barg ihr erglühendes Angesicht in ihrem Taschentuch und streckte mir, ohne aufzublicken, die schlanke, weiße Hand entgegen.

Ich faßte die Hand und drückte einen ehrfurchtsvollen Kuß auf die Fingerspitzen. Eine eigenthümliche Rührung hatte mich ergriffen; ich wußte nicht, sollte ich 273 die schon wieder durch Thränen Lächelnde bemitleiden oder beglückwünschen.

»Was ich Ihnen da erzählt habe,« fuhr sie fort, indem sie die letzten Spuren der Thränen mit dem Tüchlein forttupfte, »ist eine Phantasiegeschichte; sie bleibt unter uns; sie soll nur ein Gleichniß für andere Vorgänge sein, die ich selbst erlebt habe. Eins aber mögen Sie wörtlich nehmen: ich bin trotz mancher Dornen an meinem Wege zufrieden und glücklich. Ich will arbeiten und wirken für meinen Nächsten, nur so finde ich das, was Sie mir einst wünschten: die Versöhnung mit Gott und der Welt.«

»Und durch diese Versöhnung werden Sie schon hienieden selig sein,« rief ich überzeugt aus, indem ich aufstand, um mich von der glücklichen Pensionsvorsteherin in herzlicher Weise zu verabschieden. – –

Ihr armen, betrübten Frauen, denen ein tiefgeheimes Weh am Herzen frißt und Verlassenheit und Einsamkeit die Seele umnachtet, nehmt euch ein Beispiel an Dolores; suchet in Liebesthaten die schmerzliche Erinnerung an das geflohene Glück zu vergessen, betäubt das eigene Schmerzgefühl durch volle, liebende Hingabe an die Noth und das Elend Anderer: so werdet ihr wieder durch Thränen lächeln lernen und jede »Dolores« unter euch wird eine seelenheitere »Felicita« werden. 274

 


 


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