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Die Totenklage

Es ereignet sich in jenen Monaten zuviel in Paris, als daß man lange an einen einzigen Tod denken könnte. Je rascher die Zeit läuft, um so mehr verkürzt sich das Gedächtnis der Menschen. Ein paar Tage, ein paar Wochen, und es ist bereits völlig vergessen in Paris, daß eine Königin Marie Antoinette geköpft und begraben wurde. Gerade am Tag nach der Hinrichtung noch heult Hébert in seinem »Père Duchesne«: »Ich habe den Kopf des weiblichen Veto in einen Sack fallen sehen, und ich wollte, verdammt (›foutre‹), das Vergnügen der Sansculotten schildern können, als die Erztigerin in dem Wagen mit den sechsunddreißig Stangen Paris durchfahren hat ... Ihr verfluchter Kopf wurde endlich von ihrem Hurennacken getrennt, und die Luft donnert – verdammt – von den Schreien: Es lebe die Republik!« Aber man hört ihm kaum zu, im Jahre des Terrors hat jeder Angst um das eigene Haupt. Inzwischen bleibt der Sarg auf dem Friedhof unbeerdigt stehen, wegen eines einzigen Menschen gräbt man, es wäre zu kostspielig, kein Grab. Man wartet auf Nachschub von der fleißigen Guillotine, und erst als ein Schock beisammen ist, wird der Sarg Marie Antoinettes mit ungelöschtem Kalk übergossen und zugleich mit den neu eingelieferten in ein Massengrab geworfen. Damit ist alles erledigt. Im Gefängnis läuft und heult noch einige Tage der kleine Hund der Königin unruhig hin und her, schnüffelt von Zimmer zu Zimmer und springt auf alle Matratzen, um seine Herrin zu suchen; dann wird auch er gleichgültig, und der Gefängniswärter nimmt ihn mitleidig zu sich. Ferner: in das Stadtamt kommt ein Totengräber und legt die Rechnung vor: »Sechs Livres für den Sarg der Witwe Capet, fünfzehn Livres fünfunddreißig Sous für das Grab und die Totengräber.« Dann rafft ein Gerichtsdiener noch die paar armseligen Kleidungsstücke der Königin zusammen, legt einen Akt an und sendet sie dann hinüber in ein Hospital; arme alte Weiber tragen sie, ohne zu wissen, ohne zu fragen, wem sie vordem gehört. Damit ist für die Zeitgenossen abgetan, was Marie Antoinette hieß: als wenige Jahre später ein Deutscher nach Paris kommt und nach dem Grab der Königin fragt, findet sich schon in der ganzen Stadt kein einziger Mensch mehr, der Auskunft geben könnte, wo die einstige Königin von Frankreich begraben liegt.

Auch jenseits der Grenzen bewirkt die Hinrichtung Marie Antoinettes – man hat sie ja erwartet – nicht viel Erregung. Der Herzog von Coburg, zu feige, um sie rechtzeitig zu retten, verkündet im Armeebefehl pathetisch Rache. Der Graf von Provence, der mit dieser Hinrichtung abermals einen kräftigen Schritt auf den späteren Ludwig XVIII. zu gemacht hat – nur der kleine Junge im Temple muß noch versteckt oder beiseite geschafft werden –, läßt scheinbar gerührt fromme Totenmessen lesen. Am Wiener Hofe verordnet Kaiser Franz, der zu lässig gewesen ist, auch nur einen Brief zur Rettung der Königin zu schreiben, strengste Hoftrauer. Die Damen kleiden sich in Schwarz, Seine Kaiserliche Majestät besuchen einige Wochen kein Theater, die Zeitungen schreiben, wie anbefohlen, mit der größten Entrüstung über die bösen Jakobiner in Paris. Man ist so gnädig, die Diamanten zu übernehmen, die Marie Antoinette Mercy anvertraut hatte, und später die Tochter im Austausch gegen die gefangenen Kommissare; aber als es dann gilt, die Summen für die Rettungsversuche zurückzuerstatten und Schuldbriefe der Königin einzulösen, bekommt der Wiener Hof plötzlich ein hartes Ohr. Überhaupt, man läßt sich nicht gern an die Hinrichtung der Königin erinnern, etwas bedrückt es sogar das kaiserliche Gewissen, so erbärmlich vor der Welt eine Blutsverwandte preisgegeben zu haben. Noch Jahre später vermerkt Napoleon: »Es war ein im Hause Österreich unbedingt gültiger Grundsatz, über die Königin von Frankreich tiefes Stillschweigen zu bewahren. Bei dem Namen ›Marie Antoinette‹ senken sie die Blicke und geben dem Gespräch eine andere Wendung, als wollten sie einem ungelegenen, peinlichen Thema entgehen. Das ist eine von der ganzen Familie befolgte Regel, die auch ihren auswärtigen Vertretern nahegelegt wird.«

 

Einen einzigen Menschen trifft die Nachricht mitten ins Herz: Fersen, den Treuesten der Treuen. Täglich hat seine Angst das Entsetzliche erwartet: »Seit langem suche ich mich bereits darauf vorzubereiten, und ich glaube, ich werde deshalb die Nachricht ohne große Erschütterung empfangen.« Aber als dann die Zeitungen in Brüssel eintreffen, fühlt er sich zerschmettert. »Die mir mein ganzes Leben bedeutete«, schreibt er an die Schwester, »und die ich nie aufgehört habe zu lieben, nein, nie, keinen einzigen Augenblick, und der ich alles, alles geopfert hätte, sie, von der ich nun erst wahrhaftig fühle, was sie mir war, und für die ich tausend Leben gegeben hätte, sie ist nicht mehr. Oh, mein Gott, warum mich so strafen, wodurch habe ich deinen Zorn verdient? Sie lebt nicht mehr, mein Schmerz hat seinen Höhepunkt erreicht, und ich begreife nicht, wieso ich selber noch lebe. Ich weiß nicht, wieso ich noch meinen Schmerz ertrage, denn er ist maßlos und wird nie erlöschen können. Ich werde sie immer in meiner Erinnerung gegenwärtig haben, um sie zu beweinen. Meine teure Freundin, ach, warum bin ich nicht an ihrer Seite gestorben, für sie, an jenem 20. Juni, ich wäre glücklicher gewesen, als jetzt mein Leben in ewigem Leid dahinzuschleppen, mit Vorwürfen, die erst mit meinem Leben enden werden, denn nie wird ihr angebetetes Bild in meiner Erinnerung vergehen.« Nur seiner Trauer, spürt er, kann er jetzt noch leben, nur dem Gedenken an sie: »Der einzige Gegenstand, der mich ausfüllte, der allein für mich alles in sich vereinigte, ist nicht mehr, und jetzt erst erfasse ich, wie sehr ich ihr verfallen war. Ihr Bild hört nicht auf, mich zu beschäftigen, es verfolgt mich und wird mich überallhin ohne Unterlaß verfolgen, ich kann nur von ihr sprechen und mir die schönsten Augenblicke meines Lebens ins Gedächtnis rufen. Ich habe Auftrag gegeben, in Paris alles zu kaufen, was an Erinnerungszeichen von ihr noch aufzutreiben ist; alles von ihr ist mir heilig, es sind Reliquien, die ewig der Gegenstand meiner treuen Bewunderung sein werden.« Nichts kann ihm seinen Verlust ersetzen. Monatelang später noch schreibt er in sein Tagebuch: »Oh, ich fühle jeden Tag, wie viel ich verloren habe und wie sie in jeder Hinsicht vollkommen war. Niemals gab es eine Frau wie sie oder wird es je eine geben.« Jahre und Jahre vermindern nicht seine Erschütterung, alles wird ihm erneuter Anlaß, der Entrissenen zu gedenken. Als er 1796 nach Wien kommt und dort zum erstenmal die Tochter Marie Antoinettes am kaiserlichen Hofe sieht, ist der Eindruck so stark, daß ihm die Tränen in die Augen treten: »Meine Kniee zitterten unter mir, während ich die Treppen hinabstieg. Ich fühlte sehr viel Schmerz und sehr viel Lust und war tief bewegt.«

Immer wenn er die Tochter sieht, werden ihm im Gedanken an die Mutter die Augen feucht, es zieht ihn hin zu diesem Blut aus ihrem Blute. Aber nicht ein einzigesmal wird es ihr erlaubt, das Wort an Fersen zu richten. Ist es jener geheime Erlaß des Hofs, die Aufgeopferte vergessen zu machen, oder die Strenge des Beichtigers, der vielleicht von der »sträflichen« Beziehung zur Mutter des Mädchens weiß? Ungern sieht der österreichische Hof Fersens Gegenwart, und gerne sieht er ihn wieder abreisen: das Wort »Dank« aber hat der Getreueste nie vom Hause Habsburg gehört.

 

Nach dem Tode Marie Antoinettes wird Fersen ein unfreundlicher, ein harter Mann. Ungerecht und kalt scheint ihm die Welt, unsinnig das Leben, sein politischer, sein diplomatischer Ehrgeiz ist völlig zu Ende. In den Kriegsjahren durchirrt er Europa als Gesandter, bald ist er in Wien, in Karlsruhe, in Rastatt, in Italien und Schweden; er knüpft Beziehungen zu andern Frauen an, aber all das beschäftigt und beruhigt ihn nicht innerlich; immer wieder taucht in seinem Tagebuch ein Beweis dafür auf, wie sehr der Liebende im Letzten nur dem geliebten Schatten lebt. Am 16. Oktober, ihrem Todestag, heißt es noch nach Jahren: »Dieser Tag ist für mich ein Tag der Ehrfurcht. Ich habe niemals vergessen können, was ich verloren habe, mein Bedauern wird so lange leben wie ich selber.« Aber noch ein zweites Datum zeichnet Fersen immer wieder als Schicksalstag seines Lebens ein, den 20. Juni. Nie konnte er es sich verzeihen, an diesem Tage der Flucht nach Varennes dem Befehl Ludwigs XVI. nachgegeben und Marie Antoinette in der Gefahr allein gelassen zu haben; immer mehr fühlt er diesen Tag als eine persönliche, eine noch nicht eingelöste Schuld. Es wäre besser gewesen und heldenhafter, klagt er sich immer von neuem an, damals vom Volk in Stücke gerissen zu werden als so weiterzuleben und sie zu überleben, das Herz ohne Freude, die Seele von Vorwürfen beschwert. »Warum bin ich damals nicht für sie gestorben, am 20. Juni?« – immer wieder steht dieser mystische Vorwurf anklagend in seinem Tagebuch.

 

Aber das Schicksal liebt die Analogieen des Zufalls und das geheimnisvolle Spiel der Zahlen; nach Jahren erfüllt es ihm seinen romantischen Wunsch. Gerade an diesem Tag, einem 20. Juni, findet Fersen diesen erträumten Tod und findet ihn genau so, wie er ihn für sich gewollt. Fersen ist allmählich, ohne Würden anzustreben, kraft seines Namens in seiner Heimat ein mächtiger Mann geworden: Adelsmarschall und der einflußreichste Ratgeber des Königs, ein mächtiger Mann; aber ein harter, ein strenger Mann, ein Herrenmensch im Sinne des vergangenen Jahrhunderts. Seit jenem Tag von Varennes haßt er das Volk, weil es ihm seine Königin geraubt hat, als einen bösartigen Pöbel, als niederträchtige Canaille, und das Volk haßt diesen Adeligen herzhaft zurück. Heimlich verbreiten seine Feinde, dieser freche Feudalherr wolle, um an Frankreich Rache zu nehmen, selber König von Schweden werden und die Nation in den Krieg zerren. Und als im Juni 1810 der Thronfolger von Schweden plötzlich stirbt, entsteht in ganz Stockholm auf unerklärbare Weise ein Gerücht, ein wildes, gefährliches Gerede, der Adelsmarschall von Fersen habe ihn mit Gift aus dem Wege geräumt, um selber nach der Krone zu greifen. Seit diesem Augenblick ist Fersens Leben vom Volkszorn genau so bedroht wie das Marie Antoinettes während der Revolution. Deshalb warnen am Tage des Begräbnisses wohlmeinende Freunde, die von allerhand Plänen gehört haben, den trotzigen Mann, er solle nicht an der Leichenfeier teilnehmen, sondern lieber vorsichtig zu Hause bleiben. Aber es ist der 20. Juni, Fersens mystischer Schicksalstag: ein dunkler Wille drängt ihn, das vorgeträumte Fatum zu erfüllen. Und genau das geschieht an diesem 20. Juni in Stockholm, was achtzehn Jahre vorher in Paris geschehen wäre, wenn die Menge Fersen als Begleiter Marie Antoinettes im Wagen gefunden hätte; kaum verläßt die Karosse das Schloß, so sprengt ein wütender Pöbel den Kordon der Truppen, reißt mit den Fäusten den grauhaarigen Mann aus dem Wagen und schlägt mit Stöcken und Steinen den Wehrlosen nieder. Das Traumbild des 20. Juni hat sich erfüllt; zerstampft von demselben wilden, unzähmbaren Element, das Marie Antoinette auf das Schafott getragen, liegt vor dem Stockholmer Rathaus blutend und verstümmelt der Leichnam des »schönen Fersen«, des letzten Paladins der letzten Königin. Das Leben konnte ihn ihr nicht verbinden, so stirbt er wenigstens an ihrem gemeinsamen Schicksalstage für sie symbolischen Tod.

 

Mit Fersen ist der Letzte dahingegangen, der dem Gedächtnis Marie Antoinettes liebend verbunden war. Kein Mensch aber und kein Schatten ist wahrhaft länger lebendig, als solange er von irgendeinem Wesen auf Erden noch wahrhaft geliebt wird. Fersens Totenklage ist das letzte Wort der Treue, dann wird es völlig stumm. Bald sterben die anderen Getreuen ihr nach, Trianon verfällt, seine zierlichen Gärten verwildern, die Bilder, die Möbel, in deren harmonischem Beisammensein sie die eigene Anmut gespiegelt, werden versteigert und verschleudert, damit ist die letzte sichtbare Spur ihres Dagewesenseins endgültig dahin. Und wieder rinnt Zeit in die Zeit, Blut über Blut, die Revolution erlischt im Konsulat, Bonaparte kommt, bald heißt er Napoleon, Kaiser Napoleon und holt sich eine andere Erzherzogin aus dem Hause Habsburg zu neu verhängnisvoller Hochzeit. Aber auch sie, Marie Louise, obwohl durch gleiches Blut verbunden, fragt unfaßbar dies für unser Gefühl – in ihrer dumpfen Herzensträgheit nicht ein einziges Mal nach, wo die Frau ihren bittern Schlaf schläft, die vor ihr in denselben Räumen derselben Tuilerien gelebt und gelitten hat: nie ist eine noch atemnahe Gestalt, eine Königin so grausamkalt von ihren nächsten Angehörigen und Nachfahren vergessen worden. Endlich kommt die Wende, ein Erinnern aus schlechtem Gewissen. Der Graf von Provence ist über die Leichen von drei Millionen schließlich doch als Ludwig XVIII. den französischen Thron emporgestiegen, endlich, endlich ist der Schattengänger am Ziel. Da sie glücklich beseitigt sind, die seinem Ehrgeiz so lange den Weg gesperrt, Ludwig XVI. und Marie Antoinette und ihr unseliges Kind Ludwig XVII., und da die Toten nicht aufstehen können und Klage erheben, – warum ihnen nachträglich nicht ein prunkvolles Mausoleum errichten? Jetzt endlich wird Auftrag gegeben, ihre Grabstätte ausfindig zu machen (der eigene Bruder hat nie nach dem Grabe seines Bruders gefragt). Aber nach zweiundzwanzig Jahren so erbärmlicher Gleichgültigkeit ist das nicht mehr leicht, denn in jenem berüchtigten Klostergarten bei der Madeleine, den der Terror mit tausend Leichen düngte, ließ die Schnellarbeit dem Totengräber keine Zeit, einzelne Gräber zu bezeichnen; sie karrten und scharrten nur rasch nebeneinander, was das unersättliche Beil ihnen täglich heranschob. Nulla crux, nulla corona, kein Kreuz, keine Krone macht die verschollene Stätte kenntlich; nur dies weiß man, daß der Konvent befahl, die Königsleichen mit ungelöschtem Kalk zu überschütten. So gräbt man und gräbt. Endlich klirrt der Spaten auf harte Schicht. Und an einem halbvermoderten Strumpfband erkennt man, daß die Handvoll blassen Staubs, die man schauernd aus der nassen Erde hebt, die letzte Spur jener hingeschwundenen Gestalt ist, die ihrer Zeit die Göttin der Grazie und des Geschmacks, dann aber die geprüfte und erwählte Königin alles Leidens gewesen ist.

Finis


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