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Der letzte Versuch

Die Conciergerie, dieses »Vorzimmer des Todes«, hat unter allen Gefängnissen der Revolution die allerstrengsten Vorschriften. Uralter, steinerner Bau, mit undurchdringlichen Mauern und faustdicken eisenbeschlagenen Türen, jedes Fenster vergittert, jeder Gang mit einer Sperre bewehrt, von ganzen Wachkompagnieen umstellt, könnte sie das Dante-Wort in ihre Quadern gemauert tragen: »Laßt alle Hoffnung schwinden ...« Ein seit Jahrhunderten bewährtes, seit den Massenanlieferungen des Terrors siebenfach verschärftes Überwachungssystem macht jede Verbindung mit der Außenwelt unmöglich. Kein Brief kann übermittelt, kein Besuch empfangen werden, denn das Aufsichtspersonal rekrutiert sich hier nicht aus Dilettanten-Wächtern wie im Temple, sondern aus Gefängnisfachleuten, die gegen alle Schliche gefeit sind; überdies werden vorsorglicherweise unter die Angeklagten sogenannte »Moutons«, professionelle Spitzel, eingemengt, die jeden Ausbruchsversuch den Behörden schon im voraus melden würden. Überall, wo ein System jahre- und jahrzehntelang Zeit gehabt hat, sich auszuproben, scheint es für einen Einzelnen aussichtslos, Widerstand zu leisten. Aber, geheimnisvoller Trost gegenüber aller kollektivistischen Gewalt: der einzelne Mensch, wenn unbeugsam und entschlossen, erweist sich zuletzt fast immer als stärker denn jedes System. Immer wird das Menschliche, sofern sein Wille ungebrochen bleibt, papierenen Befehl zunichte machen; so im Falle Marie Antoinettes. Schon nach einigen Tagen hat sie auch in der Conciergerie dank jener merkwürdigen Magie, die teils von ihrem Namen ausstrahlt, teils von der persönlichen Hoheitskraft ihrer Haltung, alle jene Menschen, die sie bewachen sollen, zu Freunden, zu Helfern, zu Dienern. Die Frau des Hausbesorgers hätte dienstlich nichts anderes zu tun, als das Zimmer zu fegen und für grobe Kost zu sorgen. Aber sie kocht mit rührender Sorgfalt für die Königin die ausgesuchtesten Speisen; sie bietet ihr an, sie zu frisieren; sie läßt eigens aus einem andern Stadtteil täglich eine Flasche jenes Trinkwassers kommen, das Marie Antoinette bevorzugt. Das Hilfsmädchen der Hausbesorgerin wiederum nützt jeden Augenblick, um rasch zu der Gefangenen hineinzuhuschen, sie ihrerseits zu fragen, ob sie mit etwas dienen könne. Und die strengen Gendarmen mit den aufgezwirbelten Bärten, den breiten, klirrenden Säbeln, den unablässig geladenen Gewehren, sie, die all das eigentlich verbieten sollten, was tun sie? Sie bringen – dies bezeugt das Protokoll eines Verhörs – aus freien Stücken der Königin jeden Tag frische Blumen, die sie auf dem Markt für ihr eigenes Geld kaufen, in ihr trostloses Zimmer. Gerade im niedern Volk, das dem Unglück benachbarter wohnt als die Bürgerlichen, lebt eine rührende Kraft der Teilnahme für die in ihren Glückstagen so verhaßte Fürstin. Wenn in der Nähe der Conciergerie die Marktweiber von Madame Richard erfahren, das Huhn oder Gemüse sei für die Königin bestimmt, suchen sie sorgfältig das Beste aus, und mit ärgerlichem Staunen muß Fouquier-Tinville im Prozeß feststellen, die Königin habe in der Conciergerie bedeutend mehr Erleichterungen genossen als im Temple. Gerade dort, wo der Tod am grausamsten herrscht, steigert sich, als unbewußte Gegenwehr, in den Menschen die Menschlichkeit.

Daß sogar bei einer so wichtigen Staatsgefangenen wie Marie Antoinette die Überwachung locker gehandhabt wurde, wirkt in Anbetracht ihrer früheren Fluchtversuche zuerst erstaunlich. Aber man versteht manches, sobald man sich erinnert, daß der oberste Inspektor dieses Gefängnisses niemand anderes ist als der Limonadehändler Michonis, der schon bei dem Komplott im Temple seine Hände mithelfend im Spiele gehabt hatte. Auch durch die dicken Quadern der Conciergerie lockt und flimmert das Irrlicht der Million des Baron de Batz, noch immer spielt Michonis seine verwegene Doppelrolle. Jeden Tag begibt er sich pflichtgetreu und streng in das Zimmer der Königin, rüttelt an den Eisenstäben, prüft die Türen und meldet mit pedantischer Sorgfalt diese Besuche der Kommune, die sich glücklich preist, einen so verläßlichen Republikaner als Aufseher, als Wächter bestellt zu haben. In Wirklichkeit wartet Michonis aber immer nur, bis die Gendarmen das Zimmer verlassen haben, um mit der Königin beinahe freundschaftlich zu plaudern, ihr die ersehnten Nachrichten von ihren Kindern aus dem Temple zu bringen; ab und zu schmuggelt er sogar, sei es aus Geldgier oder Gutmütigkeit, einen Neugierigen ein, wenn er Inspektion in der Conciergerie hat, einmal einen Engländer oder eine Engländerin, vielleicht jene spleenige Mrs. Atkins, einmal einen unvereidigten Priester, der der Königin die letzte Beichte abgenommen haben soll, einmal jenen Maler, dem wir das Bild im Musée Carnevalet verdanken. Und schließlich und verhängnisvollerweise auch den kühnen Narren, der mit seinem Übereifer all diese Freiheiten und Vergünstigungen mit einem Schlage zunichte macht.

 

Diese berüchtigte »affaire de l'œillet«, dieses Nelken-Komplott, das später Alexander Dumas zu einem großen Roman umfabuliert hat, ist eine dunkle Geschichte; sie ganz zu enträtseln, wird wohl nie mehr gelingen, denn was die gerichtlichen Akten melden, ist unzulänglich; was ihr eigener Held erzählt, schmeckt verdächtig nach Aufschneiderei. Glaubte man dem Stadtrat und dem obersten Inspektor der Gefängnisse, Michonis, so wäre der ganze Vorfall eine völlig belanglose Episode gewesen. Er habe einmal bei einem Abendessen mit Freunden von der Königin erzählt, die er täglich im Gefängnis zu besuchen verpflichtet sei. Da habe dieser fremde Herr, dessen Namen er nicht wisse, sich sehr neugierig gezeigt und gefragt, ob er ihn nicht einmal begleiten dürfe. In guter Laune habe er nicht weiter nachgeforscht und diesen Herrn einmal auf dem Inspektionsgang mitgenommen, selbstverständlich mit der Verpflichtung, kein Wort mit der Königin zu sprechen.

Ist aber Michonis, der Vertraute des Baron de Batz, tatsächlich so naiv, wie er es darstellt? Hat er sich wirklich nicht die Mühe genommen, nachzufragen, wer dieser fremde Herr sei, den er in die Zelle der Königin einschmuggeln sollte? Er hätte dabei erfahren, daß dieser Mann ein guter Bekannter Marie Antoinettes ist, der Chevalier de Rougeville, einer jener Adeligen, die am 20. Juni die Königin mit Einsatz ihres Lebens verteidigt hatten. Aber allem Anschein nach hatte Michonis, der einem Baron de Batz die Leiter gehalten, gute und vor allem gewichtig klingende Gründe, diesen fremden Herrn nicht allzuviel nach seinen Absichten auszufragen; wahrscheinlich war das Komplott viel weiter ausgereift, als heute die verwischten Spuren erkennen lassen.

Jedenfalls, am 28. August klirrt der Schlüsselbund an der Tür der Gefängniszelle. Die Königin und der Gendarm erheben sich. Immer erschrickt sie im ersten Augenblick, wenn die Tür des Kerkers sich öffnet, denn fast jeder unerwartete Besuch der Behörde hat ihr seit Wochen und Monaten schlimme Nachrichten gebracht. Aber nein, es ist nur Michonis, der geheime Freund, diesmal begleitet von irgendeinem fremden Herrn, den die Gefangene gar nicht beachtet. Marie Antoinette atmet auf, sie plaudert mit Michonis und erkundigt sich nach ihren Kindern: immer gilt ihnen die erste und dringlichste Frage der Mutter. Michonis antwortet freundlich, die Königin wird beinahe heiter: diese wenigen Minuten, da die graue Glasglocke des Schweigens durchbrochen wird, da sie vor irgend jemanden die Namen ihrer Kinder aussprechen kann, bedeuten für sie immer eine Art Glück.

Aber plötzlich wird Marie Antoinette totenblaß. Eine Sekunde blaß. Dann steigt ihr plötzlich das Blut in die Wangen. Sie beginnt zu zittern und hat Mühe, sich aufrecht zu halten. Die Überraschung ist zu groß; sie hat Rougeville erkannt, den Mann, der hundertmal an ihrer Seite im Schlosse gewesen und von dem sie weiß, daß ihm jede Verwegenheit zuzutrauen ist. Was hat es – die Zeit saust zu rasch, um alles durchzudenken, – was hat es zu bedeuten, daß dieser sichere und verläßliche Freund mit einem Male hier in ihrer Zelle erscheint? Will man sie retten? Will man ihr etwas sagen? Etwas übermitteln? Sie wagt nicht, zu Rougeville zu sprechen, sie wagt nicht einmal, aus Furcht vor den Gendarmen und der Aufwartefrau, ihn zu auffallend anzublicken, und doch merkt sie, er macht ihr immer wieder Zeichen, die sie nicht versteht. Es ist qualvoll aufregend und beglückend zugleich, seit Monaten sich einem Boten nahe zu wissen und seine Botschaft nicht zu verstehen; immer unruhiger wird die aufgestörte Frau, und immer mehr fürchtet sie, sich zu verraten. Vielleicht merkt Michonis etwas von dieser Verwirrung; jedenfalls, er erinnert sich, noch andere Gefängnisräume besichtigen zu müssen, und verläßt hastig mit dem Fremden die Zelle, erklärt aber ausdrücklich, noch einmal wiederkommen zu wollen.

Marie Antoinette in der Conciergerie
Ölgemälde von Jean Louis Prieur (?)

Marie Antoinette, allein geblieben – die Kniee zittern ihr –, setzt sich nieder und sucht sich zu sammeln. Sie beschließt, wenn beide zurückkommen, aufmerksamer und nerven-ruhiger als bei jener ersten Überraschung auf jedes Zeichen und jede Geste zu achten. Und wirklich, sie kommen noch einmal, abermals klirren die Schlüssel, abermals tritt Michonis mit Rougeville ein. Jetzt ist Marie Antoinette wieder ganz Herrin ihrer Kraft. Schärfer, wacher, gefaßter beobachtet sie Rougeville, während sie mit Michonis spricht, und merkt plötzlich an einem raschen Wink, daß Rougeville irgend etwas in die Ecke hinter den Ofen geworfen hat. Das Herz schlägt ihr, sie kann es nicht mehr erwarten, die Botschaft zu lesen; kaum daß Michonis und Rougeville das Zimmer verlassen haben, schickt sie ihnen geistesgegenwärtig unter einem Vorwand den Gendarmen nach. Diese eine unbewachte Minute benutzt sie, um mit einem Griff das Versteckte zu fassen. Wie? Nichts als eine Nelke? Aber nein, in der Nelke steckt eingefaltet ein Billett. Sie öffnet es und liest: »Meine Gönnerin, ich werde Sie niemals vergessen, ich werde immer alle Mittel suchen, um Ihnen meinen Opferwillen zu beweisen. Wenn Sie drei- oder vierhundert Louisdor für Ihre Umgebung brauchen, bringe ich sie nächsten Freitag.«

 

Man kann sich das Gefühl dieser unglückseligen Frau vergegenwärtigen, da sie dieses Wunder der Hoffnung erlebt. Noch einmal bricht das dunkle Gewölbe auf wie unter dem Schwert eines Engels. In das Fürchterliche und Unzugängliche des Totenhauses, durch sieben oder acht verriegelte Türen ist, allem Verbot zum Trotz, allen Maßnahmen der Kommune zum Spott, einer der Ihren, ein Ritter des Ludwigsordens, ein vertrauter und verläßlicher Royalist eingedrungen; nun muß die Rettung nahe sein. Gewiß haben Fersens geliebte Hände diese Fäden gesponnen, gewiß spielen neuerdings mächtige und unbekannte Helfer mit, um ihr Leben noch einen Schritt vor dem Abgrund zu retten. Mit einem Mal hat diese schon ganz resignierte, weißhaarige Frau wieder Mut und Willen zum Leben.

Sie hat Mut und verhängnisvollerweise sogar zu viel Mut. Sie hat Vertrauen und leider zu viel Vertrauen. Die dreihundert oder vierhundert Dukaten, das versteht sie sofort, sollen dazu dienen, den Gendarmen in ihrem Zimmer zu bestechen; nur dies ist ihre Aufgabe, alles andere werden die Freunde dann besorgen. In ihrem zu plötzlich entflammten Optimismus geht sie gleich ans Werk. Sie zerreißt das verräterische Billett in winzige Fetzen und bereitet selbst eine Antwort vor. Man hat ihr Feder, Bleistift, Tinte genommen, nur ein Stückchen Papier hat sie noch. Aber das nimmt sie und sticht – Not macht erfinderisch – die Lettern der Antwort mit ihrer Nähnadel in das kleine Briefblatt, das heute, freilich durch andere Stiche nachträglich unleserlich gemacht, als Reliquie erhalten ist. Diesen Zettel übergibt sie mit dem Versprechen hoher Belohnung dem Gendarmen Gilbert, er solle ihn jenem Fremden, wenn er wiederkäme, übergeben.

Nun schattet Dunkel in die Affäre hinein. Es scheint, daß der Gendarm Gilbert innerlich schwankte. Dreihundert Louisdor, vierhundert Louisdor blitzen verführerisch für so einen armen Teufel; aber auch das Beil der Guillotine hat ein unheimliches Blitzen und Blinken. Er hat Mitleid mit der armen Frau, aber er hat auch Angst um seine Stellung. Was tun? Den Auftrag ausführen, hieße die Republik verraten, den Angeber zu machen, das Vertrauen dieser armen unglücklichen Frau mißbrauchen. So geht dieser brave Gendarm zunächst den Mittelweg, er vertraut sich der Frau des Hausbesorgers, der allmächtigen Madame Richard, an. Und siehe, Madame Richard teilt seine Verlegenheit. Auch sie wagt nicht, zu schweigen, auch sie wagt nicht, offen zu sprechen, und noch weniger, sich in eine derart halsbrecherische Verschwörung einzulassen; wahrscheinlich hat auch schon in ihre Ohren das geheime Geläute der Million geklungen.

Schließlich tut Madame Richard dasselbe, was der Gendarm: sie erstattet keine Anzeige, aber sie schweigt auch nicht ganz. Genau wie der Gendarm schiebt sie die Verantwortung weiter und teilt nur vertraulich die Geschichte von dem geheimen Billett ihrem Vorgesetzten Michonis mit, der bei dieser Nachricht erblaßt. Wieder verdunkelt sich jetzt die Angelegenheit. Hat Michonis schon früher bemerkt, daß er in Rougeville einen Helfershelfer der Königin mitgebracht hat, oder hat er es erst in diesem Augenblick erfahren? War er eingeweiht in das Komplott, oder hat Rougeville ihn übertölpelt? Jedenfalls, es ist ihm unangenehm, auf einmal zwei Mitwisser zu haben. Mit dem Anschein großer Strenge nimmt er der guten Frau Richard das verdächtige Papier weg, steckt es in seine Tasche und befiehlt ihr, nicht darüber zu reden. Damit hofft er, die Unbedachtsamkeit der Königin gutgemacht und die peinliche Affäre glücklich erledigt zu haben. Selbstverständlich erstattet er keine weitere Meldung; ebenso wie im ersten Komplott mit de Batz drückt er sich leise von der Sache, sobald sie gefährlich wird.

Alles wäre nun in Ordnung. Aber verhängnisvollerweise läßt die Angelegenheit dem Gendarmen keine Ruhe. Eine Handvoll Goldstücke könnte ihn vielleicht stumm machen, aber Marie Antoinette hat kein Geld, und nach und nach wird ihm bange um seinen Kopf. Nachdem er tapfer fünf Tage lang (dies das Verdächtige und Unergründliche an der Sache) gegenüber seinen Kameraden und Behörden vollkommen geschwiegen, erstattet er schließlich doch am 3. September Bericht an seine Vorgesetzten; zwei Stunden später stürmen schon aufgeregt die Kommissare des Stadtrates in die Conciergerie und fragen alle Beteiligten aus.

Die Königin leugnet zuerst. Sie habe niemanden erkannt, und als man sie fragt, ob sie vor einigen Tagen etwas geschrieben habe, antwortet sie kühl, sie besitze nichts, womit sie schreiben könne. Auch Michonis stellt sich zunächst dumm und hofft auf das Schweigen der wahrscheinlich gleichfalls schon bestochenen Madame Richard. Aber die behauptet, ihm das Blatt gegeben zu haben, nun muß er es vorlegen (aber klugerweise hat er den Text durch neue Nadelstiche zuvor unleserlich gemacht). Bei dem zweiten Verhör am nächsten Tage gibt die Königin den Widerstand auf. Sie erklärt es für richtig, daß sie jenen Mann aus den Tuilerien kenne und ein Billett in der Nelke von ihm empfangen und beantwortet habe, sie leugnet nicht mehr ihre Teilnahme und ihre Schuld. Aber mit voller Aufopferung schützt sie den Mann, der sich für sie aufopfern wollte, sie nennt nicht den Namen Rougevilles, sondern behauptet, sich nicht zu erinnern, wie dieser Gardeoffizier heiße; sie deckt großmütig Michonis und rettet ihm damit das Leben. Aber vierundzwanzig Stunden später kennen Stadtrat und Sicherheitsausschuß schon den Namen Rougevilles, und vergeblich jagen die Polizisten durch ganz Paris nach dem Manne, der die Königin retten wollte und in Wahrheit nur ihren Untergang besiegelt hat.

 

Denn diese Verschwörung, ungeschickt begonnen, beschleunigt unheimlich das Geschick der Königin. Die schonende Behandlung, die man ihr bisher stillschweigend zugebilligt hatte, hört mit einem Schlage auf. Alle ihre Habseligkeiten, die letzten Ringe werden ihr abgenommen, sogar die kleine Golduhr, die sie noch aus Österreich als letzte Erinnerung an ihre Mutter mitgebracht hatte, sowie das kleine Medaillon mit den zärtlich bewahrten Haaren ihrer Kinder. Selbstverständlich werden die Nadeln beschlagnahmt, mit denen sie erfinderisch das Billett an Rougeville geschrieben hat, das Licht am Abend wird ihr verboten. Man stellt den nachsichtigen Michonis außer Dienst, ebenso Madame Richard, die durch eine neue Aufseherin, Madame Bault, ersetzt wird. Gleichzeitig verordnet der Magistrat in einem Dekret vom 11. September, dieser rückfälligen Ausbrecherin eine noch gesichertere Gefängniszelle als die bisherige anzuweisen; und da man in der ganzen Conciergerie keine findet, die dem verängstigten Magistrat verläßlich genug erscheint, wird der Raum des Apothekers ausgeräumt und mit doppelten Eisentüren versehen. Das Fenster, das auf den Frauenhof hinausblickt, wird bis zur halben Gitterhöhe vermauert; zwei Schildwachen unter den Fenstern, die Tag und Nacht im Nebenraum einander ablösenden Gendarmen bürgen mit ihrem Leben für die Gefangene. Nach allem irdischen Ermessen kann jetzt kein Unberufener mehr den Raum betreten, nur jener von Amts wegen Gerufene: der Henker.

Nun steht Marie Antoinette auf der letzten, der untersten Stufe ihrer Einsamkeit. Die neuen Gefängniswärter, obwohl ihr freundlich gesinnt, wagen kein Wort mehr mit dieser gefährlichen Frau zu sprechen, ebensowenig die Gendarmen. Die kleine Uhr ist fort, die mit ihrem dünnen Ticken die unendliche Zeit zerteilte, die Näharbeit ihr genommen, nichts hat man ihr gelassen als den kleinen Hund. Jetzt, nach fünfundzwanzig Jahren, erst in dieser völligen Verlassenheit, besinnt sich Marie Antoinette des Trostes, den ihre Mutter ihr so oft empfohlen; zum erstenmal in ihrem Leben verlangt sie Bücher und liest mit ihren matten, entzündeten Augen eines nach dem andern; nicht genug kann man ihr holen. Keine Romane will sie, keine Theaterstücke, nichts Heiteres, nichts Sentimentales, nichts von Liebe, es könnte zu sehr an vergangene Zeiten erinnern, nur ganz wilde Abenteuer, die Reisen des Kapitän Cook, Geschichten von Schiffbrüchigen und verwegenen Fahrten, Bücher, die packen und wegreißen, erregen und spannen, Bücher, über denen man die Zeit und die Welt vergißt. Erfundene, erträumte Gestalten sind die einzigen Gefährten ihrer Einsamkeit. Niemand kommt mehr, sie zu besuchen, tagelang hört sie nichts als die Glocken von der Sainte-Chapelle nebenan und das Kreischen der Schlüssel im Schloß und dann wieder die Stille, die ewige Stille in dem niedern Raum, der eng ist und feucht und dunkel wie ein Sarg. Der Mangel an Bewegung, an Luft schwächt ihren Körper, schwere Blutungen machen sie müde. Und als man sie endlich zu Gericht ruft, ist es eine alte Frau mit weißen Haaren, die aus dieser langen Nacht unter das entwöhnte Licht des Himmels tritt.


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